"Harry Potter und der Orden des Phönix" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Es sind Sommerferien und wieder einmal sitzt Harry bei den unsäglichen Dursleys im Ligusterweg fest. Doch diesmal treibt ihn größere Unruhe denn je warum schreiben seine Freunde Ron und Hermine nur so rätselhafte Briefe? Und vor allem: Warum erfährt er nichts über die dunklen Mächte, die inzwischen neu erstanden sind? Noch ahnt er nicht, was der geheimnisvolle Orden des Phönix gegen Voldemort ausrichten kann ... Als Harrys fünftes Schuljahr in Hogwarts beginnt, werden seine Sorgen nur noch größer. Und dann schlägt der Dunkle Lord wieder zu. Harry muss seine Freunde um sich scharen, sonst gibt es kein Entrinnen.


Joanne K. Rowling

HARRY POTTER

und der Orden des Phönix

Aus dem Englischen von Klaus Fritz

Scanned by

hajufu

2003

CARLSEN

Das Papier dieser Ausgabe wurde nach strengen Umweltrichtlinien hergestellt und ist recyclebar; der Rohstoff stammt aus kontrolliertem schwedischem Waldanbau.

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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2003

Original text copyright ©Joanne K. Rowling 2003

Originalverlag: Bloomsbury Publishing Plc, London 2003

Originaltitel: Harry Potter and the Order ot thc Phoenix Harry Potter, names, characters and related indicia arc Copyright and trademark Warner Bros.

Harry Potter Publishing rights are Copyright JK Rowling.

Umschlaggestaltung: Doris K. Künster

Umschlagillustration: Sabine Wilharm

Satz: Dörlemann Satz, Lemfördc

Druck und Bindung: Clausen amp; Bosse, Leck

ISBN 3-551-55555-9

Printed in Germany


Für Neil, Jessica und David,

die meine Welt verzaubern

Eulen über Eulen

»Was?«, sagte Harry verblüfft.

»Er ist fort!«, sagte Mrs. Figg händeringend. »Er ist fort, weil er sich mit jemand treffen wollte wegen ein paar Kesseln, die von einem Besen hinten runtergefallen sind! Wenn du jetzt gehst, hab ich zu ihm gesagt, zieh ich dir bei lebendigem Leib die Haut ab, und jetzt haben wir's! Dementoren! Ein Glück nur, dass ich Mr. Tibbles auf den Fall angesetzt habe! Aber was stehen wir hier noch rum! Beeilung, du musst zurück ins Haus! Oh, das wird Ärger geben! Ich bring ihn um!«

»Aber -« Die Tatsache, dass diese schrullige, katzenvernarrte alte Nachbarin wusste, was Dementoren waren, versetzte Harry einen kaum minder großen Schock als die zwei leibhaftigen Exemplare, denen er eben in der Gasse begegnet war. »Sie sind - Sie sind eine Hexe?«

»Ich bin eine Squib, wie Mundungus sehr genau weiß, und wie um alles in der Welt sollte ich dir also helfen, die Dementoren zu vertreiben? Er hat dich vollkommen ohne Bewachung gelassen, obwohl ich ihn gewarnt hab -«

»Dieser Mundungus ist mir gefolgt? Ach so - der war das! Er ist vor meinem Haus disappariert!«

»Ja, ja, ja, aber glücklicherweise hab ich Mr. Tibbles unter einem Auto postiert, nur für alle Fälle, und Mr. Tibbles kam und hat mich gewarnt, aber bis ich dann bei euch war, warst du verschwunden - und jetzt - oh, was wird bloß Dumbledore dazu sagen? Du!«, kreischte sie Dudley an, der immer noch rücklings in der Gasse lag. »Heb deinen fetten Hintern, aber schnell!«

»Sie kennen Dumbledore?«, sagte Harry und starrte sie an.

»Natürlich kenn ich Dumbledore, wer kennt Dumbledore nicht? Aber nun komm schon - ich bin dir keine Hilfe, wenn sie zurückkommen, ich hab in meinem ganzen Leben noch nicht mal einen Teebeutel verwandelt.«

Sie bückte sich, packte einen von Dudleys massigen Armen mit ihren schrumpligen Händen und zerrte daran.

»Steh auf, du nutzloser Kloß, steh auf!«

Aber Dudley konnte oder wollte sich nicht rühren. Er blieb am Boden liegen, zitternd und aschfahl, den Mund fest zugepresst.

»Ich mach das schon.« Harry nahm Dudleys Arm und zog an ihm. Unter gewaltiger Mühe schaffte er es, ihn auf die Beine zu hieven. Dudley schien drauf und dran, ohnmächtig zu werden. Seine kleinen Augen rollten in ihren Höhlen und Schweiß perlte ihm übers Gesicht; sobald Harry ihn losließ, fing er bedrohlich an zu wanken.

»Beeilt euch!«, drängelte Mrs. Figg aufgeregt.

Harry legte sich einen von Dudleys massigen Armen über die Schulter und schleifte ihn, unter dem Gewicht leicht einknickend, zur Straße. Mrs. Figg wackelte vor ihnen her und spähte ängstlich um die Ecke.

»Behalt den Zauberstab in der Hand«, ermahnte sie Harry, als sie den Glyzinenweg betraten. »Das Geheimhaltungsstatut kannst du vergessen, man wird uns sowieso die Hölle heiß machen, jetzt müssen wir in den bitteren Kürbis beißen. Von wegen Vernunftgemäße Beschränkung der Zauberei Minderjähriger ... das war genau das, was Dumbledore befürchtet hat - was ist das am Ende der Straße? Oh, es ist nur Mr. Prentice ... nicht den Zauberstab wegstecken, Junge, hab ich dir nicht gesagt, dass ich zu nichts nütze bin?«

Es war nicht leicht, den Zauberstab gerade zu halten und zugleich Dudley mitzuschleppen. Harry versetzte seinem Cousin einen ungeduldigen Stoß in die Rippen, aber Dudley schien alle Lust verloren zu haben, sich eigenständig zu bewegen. Er hing wie ein Sack über Harrys Schulter und seine großen Füße schleiften über den Boden.

»Warum haben Sie mir nicht gesagt, dass Sie eine Squib sind, Mrs. Figg?«, fragte Harry und keuchte vor Anstrengung, Schritt um Schritt weiterzugehen. »Ich hab Sie doch so oft zu Hause besucht - warum haben Sie nie was gesagt?«

»Anweisung von Dumbledore. Ich sollte ein Auge auf dich haben, aber nichts sagen, du warst noch zu jung. Tut mir Leid, dass ich dir das Leben so schwer gemacht hab, Harry, aber die Dursleys hätten dich nie zu mir gehen lassen, wenn sie geglaubt hätten, es würde dir Freude machen. Es war nicht leicht, musst du wissen ... aber du meine Güte«, sagte sie mit tragischer Miene und rang erneut die Hände, »wenn Dumbledore davon erfährt - wie konnte Mundungus denn nur weggehen, er sollte doch bis Mitternacht im Dienst sein - wo steckt er? Wie soll ich Dumbledore mitteilen, was passiert ist? Ich kann nicht apparieren.«

»Ich hab eine Eule, die können Sie sich ausleihen.« Harry stöhnte und fragte sich, ob sein Rückgrat unter Dudleys Last brechen würde.

»Harry, du verstehst nicht! Dumbledore wird so schnell wie möglich handeln müssen, das Ministerium hat seine eigenen Methoden, um Minderjährigenzauberei festzustellen, die werden's jetzt schon wissen, das kannst du mir glauben.«

»Aber ich hab mir die Dementoren vom Hals geschafft, ohne Zauberei ging das nicht - die machen sich doch sicher mehr darüber Sorgen, was diese Dementoren überhaupt im Glyzinenweg rumzuschweben hatten?«

»Oh, mein Lieber, ich wünschte, das wäre so, aber ich fürchte -

MUNDUNGUS FLETCHER, ICH BRING DICH UM!«

Es gab einen lauten Knall und ein starker Schnapsgestank, vermischt mit schalem Tabakgeruch, lag plötzlich in der Luft, als ein untersetzter, unrasierter Mann in zerschlissenem Mantel vor ihnen Gestalt annahm. Er hatte kurze Säbelbeine, langes, widerspenstiges rotbraunes Haar und blutunterlaufene Augen mit schlaffen Tränensäcken, die ihm den traurigen Ausdruck eines Dackels verliehen. Er hielt ein silbriges Bündel in der Hand, das Harry sofort als Tarnumhang erkannte.

»Wa'n los, Figgy?«, sagte er und starrte abwechselnd Mrs. Figg, Harry und Dudley an. »Nix mehr mit Undercover und so?«

»Ich steck dich gleich undercover!«, schrie Mrs. Figg. »Dementoren, du nichtsnutziger, drückebergerischer Tagedieb!«

»Dementoren?«, wiederholte Mundungus verdattert. »Dementoren, hier?«

»Ja, hier, du wertloser Haufen Fledermausmist!«, kreischte Mrs. Figg. »Dementoren, die den Jungen angreifen, den du bewachen sollst!«

»Meine Fresse«, sagte Mundungus matt und blickte von Mrs. Figg zu Harry und wieder zurück. »Meine Fresse, ich -«

»Und du bist unterwegs, geklaute Kessel kaufen! Hab ich dir nicht gesagt, du sollst hier bleiben? Oder was?«

»Ich - na ja, ich -« Mundungus schien es äußerst unwohl in seiner Haut zu sein. »Es - es war die Gelegenheit für 'n richtiges Schnäppchen, weißt du -«

Mrs. Figg hob den Arm mit dem daran baumelnden Einkaufsnetz und pfefferte es Mundungus um Gesicht und Nacken; nach dem Klackern zu schließen, war es voller Katzenfutter.

»Autsch - lass mich - lass mich, du verrückte alte Fledermaus! Jemand muss es Dumbledore sagen!«

»Ja - allerdings!«, schrie Mrs. Figg und schleuderte das Netz mit dem Katzenfutter gegen alles, was sie von Mundungus erwischen konnte. »Und - das - machst - am - besten - du - und - du - kannst - ihm - auch - gleich - sagen - warum - du - nicht - da - warst - und - ihm - geholfen - hast!«

»Pass auf dein Haarnetz auf!«, rief Mundungus, duckte sich und hielt die Arme über den Kopf. »Ich geh ja schon, ich geh ja schon!«

Und mit einem zweiten lauten Knall verschwand er.

»Ich hoffe nur, Dumbledore bringt ihn um!«, sagte Mrs. Figg wütend. »Nun komm schon, Harry, worauf wartest du?«

Harry beschloss, seine verbleibende Puste nicht damit zu verschwenden, ihr zu erklären, dass er unter Dudleys Last kaum gehen konnte. Er hievte den halb ohnmächtigen Dudley ein Stück höher und wankte weiter.

»Ich bring dich bis zur Tür«, sagte Mrs. Figg, als sie in den Ligusterweg einbogen. »Nur für den Fall, dass noch mehr von denen in der Gegend sind ... o meine Güte, was für eine Katastrophe ... und du hast sie ganz allein abwehren müssen ... und Dumbledore hat gesagt, wir sollen dich um jeden Preis am Zaubern hindern ... nun ja, zu spät zum Jammern, das Kind ist schon in den Kessel gefallen ... aber der Wichtel ist jetzt auf dem Dach.«

»Also«, keuchte Harry, »hat Dumbledore ... mich ... beschatten lassen?«

»Natürlich«, sagte Mrs. Figg ungeduldig. »Hast du geglaubt, er lässt dich alleine rumstromern, nach dem, was im Juni passiert ist? Mein Gott, Junge, die haben mir gesagt, du hättest Grips ... da sind wir ... geh rein und bleib drin«, sagte sie, als sie Nummer vier erreichten. »Ich denke, jemand wird sich recht bald bei dir melden.«

»Was machen Sie jetzt?«, fragte Harry rasch.

»Ich geh gleich heim«, sagte Mrs. Figg, spähte die dunkle Straße entlang und schauderte. »Ich muss auf weitere Anweisungen warten. Bleib ja im Haus. Gute Nacht.«

»Warten Sie, noch einen Moment! Ich will wissen -«

Aber Mrs. Figg war schon mit schlappenden Puschen und klackerndem Netz davongetrottet.

»Warten Sie!«, rief ihr Harry nach. Er hatte tausend Fragen an jeden, der in Verbindung mit Dumbledore stand, doch Sekunden später hatte die Dunkelheit Mrs. Figg verschluckt. Missmutig rückte Harry Dudley auf seiner Schulter zurecht und machte sich auf den langwierigen, schmerzhaften Weg durch den Vorgarten von Nummer vier.

Im Flur brannte Licht. Harry steckte den Zauberstab in den Hosenbund seiner Jeans, läutete und sah, wie Tante Petunias Umriss größer und größer wurde, merkwürdig verzerrt durch das geriffelte Glas der Haustür.

»Diddy! Wird auch langsam Zeit, ich hab mir schon große - große - Diddy, was ist mit dir?«

Harry beobachtete Dudley aus den Augenwinkeln und tauchte gerade noch rechtzeitig unter seinem Arm weg. Dudley schwankte einen Moment lang, das Gesicht blassgrün ... dann öffnete er den Mund und erbrach sich mitten über die Türmatte.

»DIDDY! Diddy, was ist los mit dir? Vernon? VERNON!«

Harrys Onkel kam aus dem Wohnzimmer gestampft, und wie immer, wenn er aufgeregt war, flatterte sein Walross-Schnurrbart in alle Richtungen. Er stürmte vor und half Tante Petunia, den knieweichen Dudley über die Schwelle zu bugsieren, ohne in die Pfütze aus Erbrochenem zu treten.

»Er ist krank, Vernon!«

»Was ist los mit dir, mein Sohn? Was ist passiert? Hat Mrs. Polkiss dir was Ausländisches zum Tee serviert?«

»Warum bist du völlig verdreckt, Liebling? Hast du auf dem Boden gelegen?«

»Hör mal - du bist doch nicht überfallen worden, oder, mein Sohn?«

Tante Petunia kreischte.

»Ruf die Polizei, Vernon! Ruf die Polizei! Diddy, Schatz, sag's Mami! Was haben sie dir angetan?«

In dem ganzen Tumult hatte offenbar niemand Notiz von Harry genommen und ihm war das gerade recht. Er schaffte es, ins Haus zu schlüpfen, kurz bevor Onkel Vernon die Tür zuschlug, und während die Dursleys ihre lärmende Prozession durch den Flur zur Küche unternahmen, stahl sich Harry vorsichtig und leise zur Treppe.

»Wer war das, mein Sohn? Nenn uns die Namen. Keine Sorge, wir kriegen sie.«

»Schhh! Er will uns was sagen, Vernon! Was ist es, Diddy? Sag's Mami!«

Harry hatte den Fuß auf die unterste Stufe gesetzt, als Dudley seine Stimme wiederfand.

»Der da.«

Harry erstarrte - den Fuß auf der Treppe, das Gesicht verzerrt - und machte sich auf eine Explosion gefasst.

»BURSCHE! KOMM HER!«

Zornig und zugleich voller Angst nahm Harry langsam den Fuß von der Treppe, drehte sich um und folgte den Dursleys.

Die peinlich saubere Küche hatte nach der Dunkelheit draußen einen seltsam unwirklichen Glanz. Tante Petunia setzte Dudley auf einen Stuhl; noch immer wirkte er sehr grün und klamm. Onkel Vernon stand am Abtropfbrett und funkelte Harry mit kleinen, zu Schlitzen verengten Augen an.

»Was hast du meinem Sohn getan?«, knurrte er drohend.

»Nichts«, sagte Harry und wusste genau, dass Onkel Vernon ihm nicht glauben würde.

»Was hat er dir getan, Diddy?«, sagte Tante Petunia mit zitternder Stimme, während sie Dudley Erbrochenes vorn von seiner Lederjacke wischte. »War es - war es Du-weißt-schon-was, Liebling? Hat er - sein Ding benutzt?«

Dudley nickte langsam und schlotterte.

»Hab ich nicht!«, sagte Harry scharf, während Tante Petunia eine Wehklage anstimmte und Onkel Vernon die Fäuste reckte. »Ich hab ihm nichts getan, ich war's nicht, es war -«

Doch just in diesem Moment segelte eine Kreischeule durch das Küchenfenster herein. Sie verfehlte Onkel Vernons Haarspitzen knapp, schwebte durch die Küche, ließ einen großen Pergamentumschlag, den sie im Schnabel trug, zu Harrys Füßen fallen, legte eine elegante Kurve hin, wobei sie mit den Flügelspitzen sacht den Kühlschrank streifte, sauste wieder hinaus und entschwand über dem Garten.

»EULEN!«, bellte Onkel Vernon, und die schwer mitgenommene Ader an seiner Schläfe pulsierte zornig, während er das Küchenfenster zuschlug.

»SCHON WIEDER EULEN! ICH DULDE KEINE EULEN MEHR IN MEINEM HAUS!«

Doch Harry, dem das Herz irgendwo in der Gegend des Adamsapfels pochte, riss bereits den Umschlag auf und zog den Brief heraus.


Sehr geehrter Mr. Potter,

wir haben Information erhalten, wonach Sie den Patronus-Zauber heute Abend um dreiundzwanzig Minuten nach neun in einem Muggelwohngebiet und in Gegenwart eines Muggels ausgeführt haben.

Die Schwere dieser Verletzung des Erlasses zur Vernunftgemäßen Beschränkung der Zauberei Minderjähriger hat zu Ihrem Verweis von der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei geführt. Beauftragte des Ministeriums werden Sie unverzüglich an Ihrem Wohnort aufsuchen, um Ihren Zauberstab zu zerstören.

Da Sie bereits eine offizielle Verwarnung aufgrund eines früheren Vergehens gemäß Abschnitt 13 des Geheimhaltungsabkommens der Internationalen Zauberervereinigung erhalten haben, bedauern wir Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Anwesenheit bei einer disziplinarischen Anhörung im Zaubereiministerium am zwölften August um neun Uhr verlangt ist.

In der Hoffnung, dass Sie wohlauf sind,

mit freundlichen Grüßen

Mafalda Hopfkirch

Abteilung für unbefugte Zauberei

Zaubereiministerium


Harry las den Brief zweimal durch. Nur verschwommen nahm er wahr, dass Onkel Vernon und Tante Petunia redeten. In seinem Kopf war alles eisig und taub. Eine Tatsache hatte sich in sein Bewusstsein gebohrt wie ein lähmender Pfeil. Sie hatten ihn von Hogwarts verwiesen. Alles war zu Ende. Er würde nie zurückkehren.

Er blickte zu den Dursleys hoch. Onkel Vernon, purpurrot im Gesicht, die Fäuste immer noch gereckt, schrie andauernd; Tante Petunia hatte die Arme um Dudley gelegt, der von neuem würgte.

Harrys zeitweilig betäubtes Gehirn schien wieder zu erwachen. Beauftragte des Ministeriums werden Sie unverzüglich an Ihrem Wohnort aufsuchen, um Ihren Zauberstab zu zerstören. Da gab es nur eines. Er musste fliehen - und zwar sofort. Wohin, wusste Harry nicht, doch so viel war sicher: Ob er in Hogwarts war oder nicht, seinen Zauberstab brauchte er. Fast traumwandlerisch zog er ihn heraus und wandte sich zum Gehen.

»Wo willst du hin?«, rief Onkel Vernon. Als Harry nicht antwortete, stampfte er durch die Küche und versperrte die Tür zum Flur. »Ich bin noch nicht fertig mit dir, Bursche!«

»Geh mir aus dem Weg«, sagte Harry leise.

»Du bleibst hier und erklärst, wie mein Sohn -«

»Wenn du nicht aus dem Weg gehst, verhex ich dich«, sagte Harry und hob den Zauberstab.

»Darauf fall ich nicht rein!«, schnarrte Onkel Vernon. »Ich weiß, dass du ihn nicht außerhalb dieser Beklopptenanstalt benutzen darfst, die ihr Schule nennt!«

»Die Beklopptenanstalt hat mich rausgeschmissen«, sagte Harry. »Also kann ich tun, was ich will. Du hast drei Sekunden. Eins - zwei -«

Ein schallender KNALL erfüllte die Küche. Tante Petunia kreischte, Onkel Vernon schrie und duckte sich, und zum dritten Mal an diesem Abend suchte Harry nach dem Ursprung eines Lärms, den er nicht verursacht hatte. Er sah ihn sofort: Eine Schleiereule saß draußen auf dem Küchenfenstersims, benommen und zerzaust, da sie eben gegen das geschlossene Fenster gekracht war.

Harry stürmte durch die Küche, ohne auf Onkel Vernons ängstlichen »EULEN!«-Schrei zu achten, und riss das Fenster auf. Die Eule streckte ihr Bein vor, an das eine kleine Pergamentrolle gebunden war, schüttelte die Federn und flog davon, kaum dass Harry den Brief geborgen hatte. Mit zitternden Händen entrollte er die zweite Botschaft, die sehr hastig und verkleckst in schwarzer Tinte geschrieben war.

Harry -

Dumbledore ist eben im Ministerium eingetroffen und versucht, alles wieder ins Lot zu bringen. VERLASS DAS HAUS VON TANTE UND ONKEL NICHT. GEBRAUCH KEINEN ZAUBER MEHR. GIB DEINEN ZAUBERSTAB NICHT AB.

Arthur Weasley

Dumbledore versuchte alles wieder ins Lot zu bringen ... was sollte das heißen? Hatte Dumbledore Macht genug, das Zaubereiministerium zum Rückzug zu zwingen? Gab es also eine Chance, dass er doch nach Hogwarts zurück durfte?

Ein kleiner Hoffnungsfunke flammte in Harrys Brust auf, gleich wieder erstickt von Panik - wie sollte er sich weigern, seinen Zauberstab abzugeben, ohne einen Zauber zu gebrauchen? Er würde sich mit den Ministeriumsleuten duellieren müssen, und wenn er das tat, konnte er von Glück reden, wenn sie ihn nicht nach Askaban steckten, vom Rauswurf ganz zu schweigen.

Seine Gedanken rasten ... er konnte fliehen und dabei Gefahr laufen, vom Ministerium geschnappt zu werden, oder aber bleiben und warten, bis sie ihn hier kriegten. Dann lieber fliehen, aber er wusste, dass Mr. Weasley nur sein Bestes am Herzen lag ... und schließlich hatte Dumbledore schon viel Schlimmeres wieder eingerenkt.

»Na gut«, sagte Harry. »Ich hab's mir anders überlegt. Ich bleibe.«

Schwungvoll setzte er sich auf einen Stuhl am Küchentisch und sah Dudley und Tante Petunia geradeheraus an. Den Dursleys schien es angesichts dieses plötzlichen Sinneswandels die Sprache verschlagen zu haben. Tante Petunia linste verzweifelt zu Onkel Vernon hinüber. Die Ader an seiner roten Schläfe pochte heftiger denn je.

»Wo kommen all die verdammten Eulen her?«, knurrte er.

»Die erste war aus dem Zaubereiministerium, die kam mit dem Rauswurf«, sagte Harry gelassen. Er spitzte die Ohren, um etwaige Geräusche draußen zu hören. Vielleicht waren ja die Ministeriumsleute im Anmarsch, und es war einfacher und weniger lärmträchtig, Onkel Vernons Fragen zu beantworten, als ihn erneut in brüllende Rage zu versetzen. »Die zweite war vom Vater meines Freundes Ron, der im Ministerium arbeitet.«

»Zaubereiministerium?«, brüllte Onkel Vernon. »Leute wie ihr in der Regierung? Oh, das erklärt alles, alles, kein Wunder, dass das Land vor die Hunde geht.«

Da Harry nicht antwortete, starrte ihn Onkel Vernon funkelnd vor Zorn an, bevor er wieder losspuckte: »Und wieso haben sie dich rausgeworfen?«

»Weil ich gezaubert hab.«

»AHA!«, röhrte Onkel Vernon und schlug mit der Faust auf den Kühlschrank.

Die Tür sprang auf und einige von Dudleys fettreduzierten Snacks kullerten heraus und barsten auf dem Boden.

»Also gibst du es zu! Was hast du Dudley angetan?«

»Nichts«, sagte Harry, nicht mehr ganz so gelassen. »Das war ich nicht -«

»Doch«, murmelte Dudley unerwartet. Onkel Vernon und Tante Petunia wedelten sofort aufgeregt mit den Händen, um Harry zum Schweigen zu bringen, und beugten sich tief über Dudley.

»Weiter, mein Sohn«, sagte Onkel Vernon, »was hat er getan?«

»Sag's uns, Liebling«, flüsterte Tante Petunia.

»Seinen Zauberstab auf mich gerichtet«, murmelte Dudley.

»Jaah, stimmt, aber ich hab ihn nicht benutzt -«, begann Harry zornig, doch -

»MAUL HALTEN!«, donnerten Onkel Vernon und Tante Petunia im Chor.

»Weiter, Sohn«, wiederholte Onkel Vernon mit wild flatterndem Schnurrbart.

»Alles ist dunkel geworden«, sagte Dudley heiser und erschauderte. »Alles dunkel. Und dann h-hab ich ... Dinge gehört. In m-meinem Kopf.«

Onkel Vernon und Tante Petunia tauschten von äußerstem Entsetzen erfüllte Blicke. Wenn es etwas gab, das sie am meisten verabscheuten, dann war es die Magie - direkt gefolgt von den Nachbarn, die beim verbotenen Rasensprengen trickreicher waren als sie. Aber auch Leute, die Stimmen hörten, waren eindeutig unter den Top Ten der Missliebigkeiten. Offensichtlich glaubten sie, Dudley würde den Verstand verlieren.

»Was für Dinge hast du gehört, Schätzchen?«, hauchte Tante Petunia, ganz weiß im Gesicht und mit Tränen in den Augen.

Doch Dudley schien es nicht sagen zu können. Wieder schauderte er und schüttelte seinen großen Blondkopf. Trotz des Gefühls von dumpfem Grauen, das sich seit Ankunft der ersten Eule über Harry gelegt hatte, spürte er eine gewisse Neugier. Dementoren zwangen einen Menschen, die schlimmsten Momente seines Lebens noch einmal zu durchleben. Was hatte wohl ein verzogener und verhätschelter Quälgeist wie Dudley hören müssen?

»Weshalb bist du hingefallen, Sohn?«, fragte Onkel Vernon mit unnatürlich leiser Stimme, als ob er am Bett eines sehr kranken Menschen sprechen würde.

»Ge-gestolpert«, sagte Dudley zittrig. »Und dann —«

Er fuhr sich mit der Hand an die massige Brust. Harry begriff. Dudley erinnerte sich an die klamme Kälte, die einem die Lunge durchdrang, während die Dementoren Hoffnung und Glück aus einem heraussogen.

»Schrecklich«, krächzte Dudley. »Kalt. Total kalt.«

»Okay«, sagte Onkel Vernon mit gezwungen ruhiger Stimme, während Tante Petunia ängstlich die Hand auf Dudleys Stirn legte, um zu fühlen, ob er Fieber hatte. »Was ist dann passiert, Duddy?«

»Mir war ... mir war ... als ob ... als ob ... als ob ...«

»Als ob du nie mehr glücklich sein würdest«, half Harry tonlos nach.

»Ja«, flüsterte Dudley unentwegt zitternd.

»So!«, sagte Onkel Vernon, die Stimme zu voller und beträchtlicher Lautstärke erhoben, und richtete sich auf. »Du hast meinen Sohn mit irgendeinem verrückten Fluch belegt, damit er Stimmen hörte und glaubte, er sei - zum Elend verdammt oder so was, stimmt's?«

»Wie oft muss ich es dir noch erklären?«, sagte Harry und mit der Wut schwoll auch seine Stimme an. »Ich war es nicht! Es war ein Paar Dementoren!«

»Ein Paar - was für 'n Quatsch?«

»De - men - to - ren«, sagte Harry langsam und deutlich. »Zwei davon.«

»Und was zum Teufel noch mal sind Dementoren?«

»Die bewachen Askaban, das Zauberergefängnis«, sagte Tante Petunia.

Zwei Sekunden dröhnender Stille traten auf diese Worte hin ein, dann schlug Tante Petunia die Hand vor den Mund, als ob ihr ein abscheuliches Schimpfwort entfahren wäre. Onkel Vernon glotzte sie an. Harry drehte sich alles im Kopf.

Mrs. Figg, na gut - aber Tante Petunia?

»Woher weißt du das?«, fragte er verblüfft.

Tante Petunia schien über sich selbst haltlos entsetzt. Sie äugte in ängstlicher Abbitte zu Onkel Vernon hinüber, dann ließ sie die Hand ein wenig sinken und entblößte ihre Pferdezähne.

»Ich hab - diesen schlimmen Jungen - vor Jahren gehört - wie er ihr - davon erzählt hat«, sagte sie stoßweise.

»Wenn du meine Mum und meinen Dad meinst, warum nennst du sie nicht beim Namen?«, sagte Harry laut, doch Tante Petunia achtete nicht auf ihn. Sie schien fürchterlich durcheinander zu sein.

Harry war entgeistert. Vor Jahren hatte Tante Petunia einmal einen Gefühlsausbruch gehabt und geschrien, dass Harrys Mutter eine Missgeburt gewesen sei, doch seither hatte er sie nie wieder ihre Schwester erwähnen hören.

Dass sie diesen Wissensfetzen über die magische Welt so lange in Erinnerung behalten hatte, verblüffte ihn, wo sie doch sonst immer nach Kräften so tat, als existierte diese Welt überhaupt nicht.

Onkel Vernon öffnete den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn erneut, schloss ihn, und dann, indem er sich offenbar mühselig daran erinnerte, wie man spricht, öffnete er ihn ein drittes Mal und krächzte: »Also - die - ähm - gibt's - ähm - wirklich, ja, diese - ähm - Demen-wiewardas?«

Tante Petunia nickte.

Onkel Vernon sah abwechselnd Tante Petunia und Dudley und Harry an, als hoffte er, jemand würde »April, April!« rufen. Da es niemand tat, öffnete er wieder den Mund, doch das Ringen um weitere Worte wurde ihm erspart durch die Ankunft der dritten Eule an diesem Abend. Sie schoss wie eine gefiederte Kanonenkugel durch das immer noch offene Fenster, landete klackernd auf dem Küchentisch und ließ alle Dursleys vor Schreck zusammenfahren. Harry zog einen zweiten amtlich wirkenden Umschlag aus dem Schnabel der Eule und riss ihn auf, während die Eule in die Nacht entschwebte.

»Mir reicht's mit diesen - ekligen - Eulen«, murmelte Onkel Vernon verstört, stampfte hinüber zum Fenster und schlug es wieder zu.


Sehr geehrter Mr. Potter,

in Bezug auf unseren Brief vor annähernd zweiundzwanzig Minuten hat das Zaubereiministerium seine Entscheidung, Ihren Zauberstab unverzüglich zu zerstören, aufgehoben. Es ist Ihnen gestattet, den Zauberstab bis zu Ihrer disziplinarischen Anhörung am zwölften August zu behalten, bei der eine offizielle Entscheidung getroffen werden wird. Infolge der Konsultationen mit dem Leiter der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei hat das Ministerium sich einverstanden erklärt, über die Frage Ihres Schulverweises ebenfalls zu besagtem Termin zu entscheiden. Bis zum Abschluss des schwebenden Untersuchungsverfahrens sollten Sie sich daher als von der Schule suspendiert betrachten.

Mit den besten Wünschen und freundlichen Grüßen

Mafalda Hopfkirch

Abteilung für unbefugte Zauberei

Zaubereiministerium


Harry las diesen Brief dreimal in rascher Folge durch. Dass er noch nicht endgültig von der Schule verwiesen war, erleichterte ihn, und der quälende Knoten in seiner Brust löste sich ein wenig, doch seine Befürchtungen waren keineswegs gebannt. Alles schien von dieser Anhörung am zwölften August abzuhängen.

»Nun?«, sagte Onkel Vernon und holte Harry wieder in seine Umgebung zurück. »Was jetzt? Haben sie dich zu irgendwas verurteilt? Gibt's bei eurer Sippschaft eigentlich die Todesstrafe?«, fügte er hoffnungsvoll hinzu.

»Ich muss zu einer Anhörung«, sagte Harry.

»Und da verurteilen sie dich?«

»Ich nehm an.«

»Dann würd ich nicht die Hoffnung aufgeben«, sagte Onkel Vernon gehässig.

»Tja, wenn das alles ist«, sagte Harry und stand auf. Er wünschte sich verzweifelt, endlich alleine zu sein, nachzudenken, vielleicht einen Brief an Ron, Hermine und Sirius zu schicken.

»NEIN, DAS IST VERDAMMT NOCH MAL NICHT ALLES!«, blökte Onkel Vernon. »SETZ DICH WIEDER HIN!«

»Was noch?«, fragte Harry unwirsch.

»DUDLEY!«, dröhnte Onkel Vernon. »Ich will genau wissen, was mit meinem Sohn passiert ist!«

»SCHÖN!«, schrie Harry, und in seiner Wut schossen rote und goldene Funken aus der Spitze des Zauberstabs, den er immer noch umklammert hielt.

Alle drei Dursleys zuckten mit ängstlichem Blick zurück.

»Dudley und ich waren in der Gasse zwischen Magnolienring und Glyzinenweg«, sagte Harry schnell, er konnte nur mühsam seine Gereiztheit zügeln. »Dudley hat geglaubt, er kann frech werden, ich hab den Zauberstab gezogen, ihn aber nicht benutzt. Dann sind die zwei Dementoren aufgetaucht -«

»Aber was SIND denn Dementöre?«, fragte Onkel Vernon fuchsig. »Was MACHEN die?«

»Ich hab's dir doch gesagt - die saugen alles Glück aus dir raus«, sagte Harry, »und wenn sie es schaffen, dann küssen sie dich -«

»Küssen mich?«, sagte Onkel Vernon mit leicht vorquellenden Augen. »Küssen mich?«

»Das nennt man so, wenn sie dir die Seele aus dem Mund saugen.«

Tante Petunia stieß einen leisen Schrei aus.

»Seine Seele? Die haben doch nicht seine - er hat doch noch -«

Sie packte Dudley an den Schultern und schüttelte ihn, wie um zu prüfen, ob sie seine Seele innen drin scheppern hören konnte.

»Natürlich haben sie seine Seele nicht gekriegt, das würdest du merken«, sagte Harry genervt.

»Du hast sie fortgejagt, ja, mein Sohn?«, sagte Onkel Vernon laut, mit der Miene eines Mannes, der versucht das Gespräch auf eine Ebene zurückzuholen, auf der er mitreden kann. »Hast denen hübsch eingeschenkt, links, rechts, wie immer?«

»Einem Dementor kann man nicht links, rechts einschenken«, sagte Harry mit zusammengebissenen Zähnen.

»Und warum ist er dann in Ordnung?«, brauste Onkel Vernon auf. »Warum ist er dann nicht völlig leer?«

»Weil ich den Patronus -«

WUUSCH. Klackernd, mit Flügelgeflatter und einem kleinen Staubschauer kam eine vierte Eule aus dem Küchenkamin geschossen.

»UM GOTTES WILLEN!«, röhrte Onkel Vernon und zog große Haarbüschel aus seinem Schnurrbart, wozu er sich seit langem nicht mehr hatte hinreißen lassen. »ICH WILL HIER KEINE EULEN HABEN, ICH WERDE DAS NICHT ZULASSEN, SAG ICH DIR!«

Aber Harry zog schon eine Pergamentrolle vom Bein der Eule. Er war so überzeugt, dass dieser Brief von Dumbledore sein musste und alles erklärte - die Dementoren, Mrs. Figg, was das Ministerium vorhatte, wie er, Dumbledore, alles wieder ins Lot bringen wollte -, dass er zum ersten Mal im Leben enttäuscht war, Sirius' Handschrift zu sehen. Er hörte nicht auf Onkel Vernons andauerndes Geschimpfe über Eulen, kniff stattdessen, weil die bislang letzte Eule gerade wieder den Schornstein hoch entfleuchte, die Augen vor einer weiteren Staubwolke zu schmalen Schlitzen zusammen und las Sirius' Nachricht: Arthur hat mir eben erzählt, was passiert ist. Was immer du tust, verlass auf keinen Fall mehr das Haus.

Harry hielt das für eine so unpassende Antwort auf alles, was heute Abend geschehen war, dass er das Pergamentblatt umdrehte und nach dem Rest des Briefes suchte, doch da stand nichts weiter.

Und jetzt stieg erneut die Wut in ihm hoch. Konnte nicht irgendjemand »gut gemacht« sagen, wo er doch zwei Dementoren eigenhändig in die Flucht geschlagen hatte? Mr. Weasley und Sirius taten gerade so, als ob er sich danebenbenommen hätte und sie nur noch abwarteten, bis sie klären konnten, wie viel Schaden er angerichtet hatte, ehe sie ihn zurechtstutzten.

»... Dieser Käfig - ich meine - dieses Haus ist kein Eulenkäfig. Damit muss Schluss sein, Bursche, endgültig -«

»Ich kann die Eulen nicht aufhalten«, fauchte Harry und zerknüllte Sirius' Brief in der Faust.

»Ich will die Wahrheit wissen über das, was heute Abend passiert ist!«, bellte Onkel Vernon. »Wenn das Dementöre waren, die Dudley wehgetan haben, warum bist du dann rausgeschmissen worden? Du hast Du-weißt-schon-was gemacht, du hast es selbst zugegeben!«

Harry tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug. Sein Kopf begann wieder zu schmerzen. Er wollte nichts sehnlicher als aus der Küche verschwinden, weg von den Dursleys.

»Ich hab den Patronus-Zauber eingesetzt, um die Dementoren loszuwerden«, sagte er und zwang sich ruhig zu bleiben. »Das ist das Einzige, was gegen die wirkt.«

»Aber was hatten diese Demontöre überhaupt in Little Whinging zu suchen?«, sagte Onkel Vernon empört.

»Kann ich dir nicht sagen«, sagte Harry matt. »Keine Ahnung.«

Die gleißenden Lichtleisten ließen seinen Kopf dröhnen. Allmählich ebbte seine Wut ab. Er fühlte sich ausgelaugt und erschöpft. Die Dursleys starrten ihn an.

»Wegen dir«, sagte Onkel Vernon auftrumpfend. »Das hat was mit dir zu tun, Bursche, ich weiß es. Weshalb sollten die sonst hier auftauchen? Weshalb sollten die sonst in diese Gasse kommen? Du musst der einzige - der einzige -«

Offensichtlich brachte er es nicht über sich, »Zauberer« zu sagen. »Der einzige Du-weißt-schon-was meilenweit sein.«

»Ich weiß nicht, warum die hier waren.«

Doch bei Onkel Vernons Worten begann Harrys erschöpftes Gehirn wieder zu arbeiten. Weshalb waren die Dementoren nach Little Whinging gekommen?

Konnte es wirklich Zufall sein, dass sie in der Gasse aufgetaucht waren, in der Harry unterwegs war? Hatte jemand sie geschickt? Hatte das Zaubereiministerium die Kontrolle über die Dementoren verloren? Hatten sie Askaban verlassen und sich Voldemort angeschlossen, wie es Dumbledore vorausgesagt hatte?

»Diese Demontöre bewachen irgend so ein Spinnergefängnis?«, fragte Onkel Vernon nachdenklich, als dümpele er in Harrys Gedankenstrom.

»Ja«, sagte Harry.

Wenn ihm nur der Kopf nicht mehr wehtun würde, wenn er doch nur aus der Küche und auf sein dunkles Zimmer gehen und nachdenken könnte ...

»Oho! Die sind gekommen, um dich zu verhaften!«, sagte Onkel Vernon mit der siegessicheren Miene eines Mannes, der zu einem unanfechtbaren Schluss gelangt ist. »Das ist es, stimmt's, Bursche? Du bist auf der Flucht vor dem Gesetz!«

»Natürlich nicht«, erwiderte Harry und schüttelte den Kopf, wie um eine Fliege zu verscheuchen, während sich seine Gedanken überschlugen.

»Warum dann -?«

»Er muss sie geschickt haben«, sagte Harry leise, mehr zu sich selbst als zu Onkel Vernon.

»Was soll das heißen? Wer muss sie geschickt haben?«

»Lord Voldemort«, sagte Harry.

Dumpf bemerkte er, wie seltsam es war, dass die Dursleys, die zuckten, zitterten und zeterten, wenn sie nur Worte wie »Zauberer«, »Magie« oder »Zauberstab« hörten, den Namen des bösesten Zauberers aller Zeiten ohne das leiseste Schaudern ertragen konnten.

»Lord - wart mal«, sagte Onkel Vernon mit angespannter Miene und in seinen Schweinsäuglein begann es zu dämmern. »Den Namen hab ich schon mal gehört ... das war doch derjenige, der -«

»Meine Eltern umgebracht hat, ja«, sagte Harry.

»Aber der ist weg«, entgegnete Onkel Vernon ungeduldig und ohne das geringste Zeichen, dass der Mord an Harrys Eltern vielleicht ein schmerzliches Thema sein könnte. »Dieser riesenhafte Kerl hat es gesagt. Er ist weg.«

»Er ist zurück«, sagte Harry mit schwerer Stimme.

Es kam ihm unwirklich vor, wie er da in Tante Petunias klinisch sauberer Küche stand, neben dem Premium-Kühlschrank und dem Breitbildfernseher, und sich mit Onkel Vernon gelassen über Lord Voldemort unterhielt. Mit der Ankunft der Dementoren in Little Whinging schien die große, unsichtbare Mauer durchbrochen worden zu sein, welche die gnadenlos nichtmagische Welt des Ligusterwegs und die Welt jenseits von ihr getrennt hatte. Harrys zwei Leben hatten sich gleichsam verschmolzen und alles war auf den Kopf gestellt; die Dursleys fragten nach Einzelheiten über die magische Welt und Mrs. Figg kannte Albus Dumbledore; Dementoren schwirrten in Little Whinging umher und er selbst würde vielleicht nie mehr nach Hogwarts zurückkehren. In Harrys Kopf pochte es noch schmerzhafter.

»Zurück?«, flüsterte Tante Petunia.

Sie sah Harry an, wie sie ihn noch nie angesehen hatte. Und schlagartig, zum ersten Mal in seinem Leben, wurde Harry voll und ganz bewusst, dass Tante Petunia die Schwester seiner Mutter war. Er hätte nicht sagen können, warum ihn das in diesem Augenblick traf wie ein heftiger Schlag. Er wusste nur, dass er nicht der einzige Mensch in der Küche war, der eine leise Ahnung davon hatte, was es bedeuten könnte, dass Lord Voldemort zurück war. Tante Petunia hatte ihn noch nie im Leben auf diese Weise angesehen. Ihre großen, blassen Augen (denen der Schwester so unähnlich) waren nicht in Abneigung oder Zorn verengt, sie waren geweitet und angsterfüllt. Die Fassade, die Tante Petunia während all der Zeit mit Harry wild entschlossen aufrechterhalten hatte - wonach es keine Magie und keine andere Welt als die gab, die sie mit Onkel Vernon bewohnte -, diese Fassade war offenbar zusammengebrochen.

»Ja«, sagte Harry jetzt direkt an Tante Petunia gewandt. »Er ist vor einem Monat zurückgekehrt. Ich hab ihn gesehen.«

Ihre Hände suchten Dudleys massige, lederbewehrte Schultern und klammerten sich daran fest.

»Wart mal«, sagte Onkel Vernon und blickte abwechselnd seine Frau und Harry an, durch das unerhörte Verständnis, das zwischen den beiden erwacht war, offenbar völlig verdattert und konfus. »Wart mal. Dieser Lord Waldimord ist zurück, sagst du.«

»Ja.«

»Der deine Eltern umgebracht hat.«

»Ja.«

»Und jetzt jagt er dir Demontoren auf den Hals?«

»Sieht so aus«, sagte Harry.

»Verstehe«, sagte Onkel Vernon, blickte von seiner bleichen Frau zu Harry und zog sich die Hosen zurecht. Er schien anzuschwellen, sein großes, purpurrotes Gesicht schien vor Harrys Augen immer breiter zu werden. »Nun, damit ist der Fall klar«, sagte er, und sein Hemd spannte sich, während er sich aufplusterte. »Du kannst aus diesem Haus verschwinden, Bursche!«

»Was?«, sagte Harry.

»Du hast mich gehört - RAUS!«, bellte Onkel Vernon und selbst Tante Petunia und Dudley schraken zusammen. »RAUS! RAUS! Das hätt ich schon vor Jahren tun sollen! Eulen betrachten mein Haus als Erholungsheim, Nachspeisen explodieren, das halbe Wohnzimmer wird demoliert, Dudleys Schwanz, Magda hüpft an der Decke rum und dieser fliegende Ford Anglia - RAUS! RAUS! Das reicht jetzt! Du kannst verschwinden! Du wirst nicht hier bleiben, wenn irgendein Irrer hinter dir her ist, du wirst meine Frau und meinen Sohn nicht gefährden und du wirst uns keine Scherereien machen. Wenn du den gleichen Weg gehst wie deine nutzlosen Eltern, dann soll's mir recht sein! RAUS!«

Harry stand da wie angewurzelt. Die Briefe vom Ministerium, von Mr. Weasley und Sirius steckten zerknüllt in seiner linken Hand. Was immer du tust, verlass auf keinen Fall mehr das Haus. VERLASS DAS HAUS VON TANTE UND ONKEL NICHT.

»Du hast mich verstanden!«, sagte Onkel Vernon und beugte sich vor, bis sein feistes purpurrotes Gesicht dem von Harry so nahe kam, dass er tatsächlich Spucketröpfchen auf der Haut spürte. »Auf geht's! Vor 'ner halben Stunde warst du noch ganz wild drauf, abzuhauen! Nur zu! Raus hier, und setz nie wieder einen Fuß auf unsere Türschwelle! Keine Ahnung, warum wir dich überhaupt aufgenommen haben, Magda hatte Recht, du hättest ins Waisenhaus gehört. Wir waren verflucht noch mal zu nachgiebig, haben nicht an uns gedacht, meinten, wir könnten's aus dir rausquetschen, meinten, wir könnten einen normalen Jungen aus dir machen, aber du warst von Anfang an verdorben, und ich hab die Schnauze voll - Eulen!«

Die fünfte Eule stieß den Kamin herab, so schnell, dass sie erst einmal auf den Boden krachte, bevor sie mit einem lauten Schrei wieder in die Luft flatterte.

Harry hob die Hand, um den Brief zu schnappen, der in einem scharlachroten Umschlag steckte, doch er schwebte direkt über seinen Kopf hinweg und auf Tante Petunia zu, die aufschrie, die Arme übers Gesicht hielt und sich wegduckte.

Die Eule ließ den roten Umschlag auf ihren Kopf fallen, machte kehrt und flog geradewegs den Kamin wieder hoch.

Harry stürzte vor, um den Brief aufzuheben, doch Tante Petunia war schneller.

»Du kannst ihn aufmachen, wenn du willst«, sagte Harry, »aber ich hör trotzdem, was drinsteht. Das ist ein Heuler.«

»Lass ihn los, Petunia«, donnerte Onkel Vernon. »Rühr ihn nicht an, er könnte gefährlich sein!«

»Er ist an mich adressiert«, sagte Tante Petunia mit zitternder Stimme. »Er ist an mich adressiert, Vernon, sieh nur! Mrs. Petunia Dursley, Die Küche, Ligusterweg Nummer vier -«

Sie hielt den Atem an, starr vor Entsetzen. Der rote Umschlag hatte zu kokeln begonnen.

»Mach ihn auf!«, drängte Harry. »Bring's hinter dich. Es passiert sowieso.«

»Nein.«

Tante Petunias Hand zitterte. Sie blickte wild in der Küche umher, als ob sie nach einem Fluchtweg suchte, doch zu spät - der Umschlag ging in Flammen auf.

Tante Petunia kreischte und ließ ihn fallen.

Eine schreckliche Stimme, die aus dem brennenden Brief auf dem Tisch drang, erfüllte die Küche und hallte in dem engen Raum wider.

»Denk an meinen letzten, Petunia.«

Tante Petunia schien am Rande der Ohnmacht. Sie sank, das Gesicht in den Händen, auf den Stuhl neben Dudley. In der Stille verschmorten die Überreste des Umschlags zu Asche.

»Was ist das?«, sagte Onkel Vernon heiser. »Was - was soll das - Petunia?«

Tante Petunia schwieg. Dudley starrte stumpfsinnig und mit offenem Mund seine Mutter an. Die Stille schraubte sich ins Unerträgliche. Völlig entgeistert und mit zum Bersten hämmerndem Kopf beobachtete Harry seine Tante.

»Petunia, Liebling?«, sagte Onkel Vernon ängstlich. »P-Petunia?«

Sie hob den Kopf. Sie zitterte noch immer. Sie schluckte.

»Der Junge - der Junge muss hier bleiben, Vernon«, sagte sie matt.

»W-was?«

»Er bleibt«, sagte sie. Sie sah Harry nicht an. Sie stand auf.

»Er ... aber Petunia ...«

»Wenn wir ihn rauswerfen, reden die Nachbarn«, sagte sie. Rasch gewann sie ihre übliche forsche, bissige Art zurück, auch wenn sie immer noch sehr blass war. »Die werden peinliche Fragen stellen und wissen wollen, wo er hin ist. Wir müssen ihn behalten.«

Onkel Vernon entwich die Luft wie einem alten Reifen.

»Aber Petunia - Liebling -«

Tante Petunia achtete nicht auf ihn. Sie wandte sich an Harry.

»Du bleibst in deinem Zimmer«, sagte sie. »Du verlässt das Haus nicht. Jetzt geh zu Bett.«

Harry rührte sich nicht.

»Von wem war dieser Heuler?«

»Stell keine Fragen«, schnappte Tante Petunia.

»Hast du Verbindung zu Zauberern?«

»Ich hab dir doch gesagt, du sollst zu Bett gehen!«

»Was sollte das heißen? Denk an meinen letzten - was?«

»Geh zu Bett!«

»Wieso -?«

»DU HAST GEHÖRT, WAS DEINE TANTE GESAGT HAT, JETZT GEH ZU BETT!«