"Harry Potter und die Heiligtümer des Todes" - читать интересную книгу автора (Роулинг Джоан)

Die Widmung dieses Buches ist siebengeteilt: für Neil, für Jessica, für David, für Kenzie, für Di, für Anne und für euch, wenn ihr zu Harry gehalten habt, bis ganz zum Schluss.

Erbteil des fluches,

hässlicher sünde

blutige wunde,

schmerzen, wer trüge sie?

quälen, wer stillte sie?

wehe weh!

Einzig der erbe

heilet des hauses

eiternde wunde,

einzig mit blut'gem schnitt.

götter der finsternis

rief mein lied.

Sel'ge geister drunten in der tiefe,

wenn ihr die beschwörungsrufe hörtet,

bringt den kindern hilfe, bringt den sieg.

Aischylos, Das Opfer am Grabe


Sterben ist nur ein Uebergang aus dieser Welt in die andere, als wenn Freunde über See gehen, welche dennoch in einander fortleben. Denn Diejenigen, die im Allgegenwärtigen lieben und leben, müssen nothwendig einander gegenwärtig seyn. In diesem göttlichen Spiegel sehen sie sich von Angesicht zu Angesicht, und ihr Umgang ist so wohl frey als rein. Und wenn sie auch durch den Tod getrennt werden, so haben sie doch den Trost, daß ihre Freundschaft und Gesellschaft ihnen, dem besten Gefühle nach, beständig gegenwärtig bleibt, weil diese unsterblich ist.

William Penn, Früchte der Einsamkeit. Zweyte Abtheilung


Wieder der Wald

Endlich die Wahrheit. Auf dem Boden liegend, das Gesicht in den staubigen Teppich des Büros gepresst, in dem er einst geglaubt hatte, jene Geheimnisse zu erfahren, die ihm zum Sieg verhelfen würden, begriff Harry endlich, dass er nicht überleben sollte. Seine Aufgabe war es, ruhig dem Tod entgegenzugehen, der ihn mit ausgebreiteten Armen erwartete.

Auf dem Weg dorthin sollte er die Bindungen kappen, die Voldemort noch zum Leben hatte, damit es, wenn er sich Voldemort schließlich vor die Füße warf und seinen Zauberstab nicht hob, um sich zu verteidigen, ein sauberes Ende sein würde, damit das, was in Godric's Hollow hätte getan werden müssen, erledigt wäre: Keiner von beiden würde leben, keiner konnte überleben.

Er spürte sein Herz wütend in seiner Brust pochen. Wie seltsam, dass es in seiner Todesangst umso heftiger pumpte, ihn tapfer am Leben hielt. Aber es würde stillstehen müssen, und zwar bald. Seine Schläge waren gezählt.

Für wie viele würde noch Zeit sein, wenn er sich erhob und zum letzten Mal durch das Schloss ging, hinaus auf das Gelände und in den Wald?

Grauen überflutete ihn, während er am Boden lag und jene Totentrommel in ihm schlug. Würde es wehtun, zu sterben? All die Male, da er geglaubt hatte, dass es gleich geschehen würde, und doch entkommen war, hatte er nie wirklich an die Sache selbst gedacht: Sein Lebenswille war immer so viel stärker gewesen als seine Furcht vor dem Tod. Doch kam er jetzt nicht auf den Gedanken, er könnte versuchen zu fliehen, Voldemort davonzulaufen. Es war zu Ende, er wusste es, und alles, was blieb, war die Sache selbst: sterben.

Hätte er nur in jener Sommernacht sterben können, in der er den Ligusterweg Nummer vier zum letzten Mal verlassen hatte und von dem edlen Phönixfeder-Zauberstab gerettet worden war! Hätte er doch nur wie Hedwig sterben können, so rasch, dass er gar nicht mitbekommen hätte, dass es passiert war! Oder hätte er sich vor einen Zauberstab stürzen können, um jemanden zu retten, den er liebte ... Er beneidete nun sogar seine Eltern um ihren Tod. Dieser kaltblütige Gang zu seiner eigenen Vernichtung würde eine andere Art von Tapferkeit erfordern. Er spürte, dass seine Finger leicht zitterten, und bemühte sich, sie unter Kontrolle zu bringen, obwohl ihn niemand sehen konnte; die Porträts an den Wänden waren alle leer.

Langsam, ganz langsam, setzte er sich auf, und dabei fühlte er sich lebendiger, sich seines eigenen lebenden Körpers bewusster als je zuvor.

Warum hatte er nie zu schätzen gewusst, was für ein Wunder er war, sein Gehirn, seine Nerven, sein hüpfendes Herz? All das würde nicht mehr sein

... oder zumindest würde er nicht mehr darin sein. Sein Atem ging langsam und tief, sein Mund und seine Kehle waren völlig ausgetrocknet, aber auch seine Augen.

Dumbledores Verrat zählte kaum. Natürlich hatte es einen größeren Plan gegeben; Harry war einfach zu dumm gewesen, ihn zu begreifen, wie ihm jetzt aufging. Er hatte nie seine eigene Annahme in Frage gestellt, dass Dumbledore wollte, dass er lebte. Nun sah er, dass seine Lebenszeit immer dadurch bestimmt gewesen war, wie lange es dauerte, alle Horkruxe zu beseitigen. Dumbledore hatte ihm die Aufgabe übertragen, sie zu zerstören, und gehorsam hatte er stets weiter auf jene Bande eingehauen, die nicht nur Voldemort, sondern auch ihn selbst am Leben hielten! Wie geschickt, wie elegant, keine Leben mehr zu vergeuden, sondern die gefährliche Aufgabe dem Jungen zu überlassen, der bereits zum Abschlachten gezeichnet war und dessen Tod keine Katastrophe sein würde, sondern ein weiterer Schlag gegen Voldemort.

Und Dumbledore hatte gewusst, dass Harry sich nicht drücken würde, dass er bis zum Ende weitergehen würde, auch wenn es sein Ende war, denn er hatte sich Mühe gegeben, ihn kennen zu lernen, oder etwa nicht?

Dumbledore wusste, genau wie Voldemort, dass Harry niemand anderen mehr für sich sterben lassen würde, nun, da er entdeckt hatte, dass es in seiner Macht stand, es zu beenden. Die Bilder von Fred, Lupin und Tonks, tot in der Großen Halle liegend, drängten sich gewaltsam vor sein inneres Auge zurück, und für kurze Zeit verschlug es ihm den Atem: Der Tod war ungeduldig ...

Aber Dumbledore hatte ihn überschätzt. Er war gescheitert: Die Schlange lebte immer noch. Ein Horkrux blieb, der Voldemort an die Erde band, selbst nachdem Harry getötet worden war. Gewiss, das würde die Aufgabe für jemand anderen leichter machen. Er fragte sich, wer es tun würde ... Ron und Hermine würden natürlich wissen, was getan werden musste ... das war vermutlich der Grund, weshalb Dumbledore gewollt hatte, dass er sich zwei anderen anvertraute ... denn wenn er seiner wahren Bestimmung ein wenig zu früh nachkommen sollte, konnten sie weitermachen ...

Wie Regen gegen ein kaltes Fenster prasselten diese Gedanken auf die harte Oberfläche der unumstößlichen Wahrheit, die lautete, dass er sterben musste. Ich muss sterben. Es muss enden.

Ron und Hermine schienen weit weg, in einem fernen Land; ihm war, als hätte er sich vor langer Zeit von ihnen getrennt. Es würde keine Abschiedsworte geben und keine Erklärungen, dazu war er entschlossen.

Dies war eine Reise, die sie nicht gemeinsam antreten konnten, und die Versuche, die sie unternehmen würden, um ihn aufzuhalten, würden wertvolle Zeit verschwenden. Er blickte hinab auf die lädierte goldene Uhr, die er zu seinem siebzehnten Geburtstag bekommen hatte. Fast die Hälfte der Stunde, die Voldemort für seine Auslieferung gewährt hatte, war vergangen.

Er stand auf. Sein Herz sprang gegen seine Rippen wie ein verzweifelter Vogel. Vielleicht wusste es, dass es nur noch wenig Zeit hatte, vielleicht war es entschlossen, vor dem Ende noch die Schläge eines ganzen Lebens zu vollbringen. Ohne einen Blick zurück machte er die Bürotür zu.

Das Schloss war leer. Er kam sich vor wie ein Gespenst, während er allein hindurchschritt, als ob er bereits tot wäre. Die Leute aus den Porträts waren immer noch nicht in ihren Rahmen zurück; im ganzen Schloss herrschte unheimliche Stille, als hätte sich all sein verbliebener Lebenssaft in der Großen Halle gesammelt, wo sich die Toten und die Trauernden drängten.

Harry zog den Tarnumhang über und stieg die Stockwerke hinab, und schließlich über die Marmortreppe hinunter in die Eingangshalle. Vielleicht hoffte ein winziger Teil von ihm, gespürt zu werden, gesehen zu werden, aufgehalten zu werden, doch der Tarnumhang war wie immer undurchdringlich, perfekt, und er gelangte ohne weiteres zum Portal.

Dann stieß Neville beinahe mit ihm zusammen. Er war einer von zweien, die eine Leiche vom Gelände hereintrugen. Harry blickte hinab und verspürte einen weiteren dumpfen Schlag in den Magen: Colin Creevey, obgleich minderjährig, musste sich zurückgeschlichen haben, genau wie Malfoy, Crabbe und Goyle. Im Tod war er winzig.

»Weißt du was? Ich kann ihn allein tragen, Neville«, sagte Oliver

"Wood, hob Colin quer über seine Schulter und trug ihn in die Große Halle.

Neville lehnte sich einen Moment lang gegen den Türrahmen und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er sah aus wie ein alter Mann. Dann ging er wieder die Treppe hinunter in die Dunkelheit, um weitere Tote zu bergen.

Harry blickte kurz zurück zum Eingang der Großen Halle. Leute gingen umher, versuchten sich gegenseitig zu trösten, tranken etwas, knieten neben den Toten, doch er konnte niemanden von denen sehen, die er liebte, keine Spur von Hermine, Ron, Ginny oder einem der anderen Weasleys, keine Luna. Er hatte das Gefühl, dass er all die Zeit, die ihm noch blieb, für nur einen einzigen letzten Blick auf sie hingegeben hätte; aber hätte er dann überhaupt die Kraft gehabt, seinen Blick abzuwenden? Es war besser so, wie es war.

Er ging die Treppe hinunter und hinaus in die Dunkelheit. Es war fast vier Uhr morgens, und die tödliche Stille über dem Gelände fühlte sich an, als würden sie alle den Atem anhalten und abwarten, um zu sehen, ob er tun konnte, was er tun musste.

Harry trat auf Neville zu, der sich über eine weitere Leiche beugte.

»Neville.«

»Mensch, Harry, du hast mich zu Tode erschreckt!«

Harry hatte den Tarnumhang heruntergezogen: Die Idee war ihm urplötzlich gekommen, dem Wunsch entsprungen, ganz sicherzugehen.

»Wo willst du denn hin, alleine?«, fragte Neville argwöhnisch.

»Das gehört alles zum Plan«, sagte Harry. »Ich muss was erledigen. Hör zu – Neville -«

»Harry!« Neville schien plötzlich verängstigt. »Harry, du hast doch nicht etwa vor, dich selbst auszuliefern?«

»Nein«, log Harry mühelos, »'türlich nicht ... es geht um was anderes.

Aber es könnte sein, dass ich eine Zeit lang nicht auftauche. Du kennst doch Voldemorts Schlange, Neville? Er hat eine riesige Schlange ... nennt sie Nagini ...«

»Hab ich gehört, jaah ... was ist mit ihr?«

»Sie muss getötet werden. Ron und Hermine wissen es, aber nur für den Fall, dass sie -«

Diese Möglichkeit war so furchtbar, dass ihm für einen Moment die Luft wegblieb, dass er unmöglich weiterreden konnte. Doch dann riss er sich zusammen: Dies war entscheidend, er musste wie Dumbledore sein, einen kühlen Kopf bewahren, sicherstellen, dass Ersatzleute da waren, andere, die weitermachten. Dumbledore war in dem Wissen gestorben, dass noch drei Menschen von den Horkruxen wussten; nun würde Neville Harrys Platz einnehmen. Dann würden sich immer noch drei das Geheimnis teilen.

»Nur für den Fall, dass sie – beschäftigt sind – und du die Gelegenheit bekommst -«

»Die Schlange zu töten?«

»Die Schlange zu töten«, wiederholte Harry.

»Ja, gut, Harry. Mit dir ist alles okay, oder?«

»Mir geht's gut. Danke, Neville.«

Aber Neville packte Harry am Handgelenk, als der sich wieder auf den Weg machen wollte.

»Wir kämpfen alle weiter, Harry. Das weißt du?«

»Jaah, ich -«

Das erstickende Gefühl würgte das Ende des Satzes ab, er konnte nicht fortfahren. Neville schien es nicht merkwürdig zu finden. Er klopfte Harry auf die Schulter, ließ ihn los und ging davon, um nach weiteren Toten zu suchen.

Harry schwang den Tarnumhang wieder über sich und setzte seinen Weg fort. Ganz in der Nähe bewegte sich noch jemand, beugte sich über eine weitere auf dem Bauch liegende Gestalt am Boden. Er war nur wenige Schritte entfernt, als er merkte, dass es Ginny war.

Er blieb abrupt stehen. Sie kauerte bei einem Mädchen, das flüsternd nach seiner Mutter verlangte.

»Es ist alles gut«, sagte Ginny. »Es ist gut. Wir bringen dich rein.«

»Aber ich will nach Hause«, flüsterte das Mädchen. »Ich will nicht mehr kämpfen!«

»Ich weiß«, sagte Ginny und ihre Stimme brach. »Es wird alles gut werden.«

Kalte Schauder liefen Harry über die Haut. Er wollte in die Nacht hinausschreien, wollte, dass Ginny erfuhr, dass er hier war, wollte, dass sie wusste, wo er hinging. Er wollte aufgehalten werden, zurückgezerrt werden, nach Hause zurückgeschickt werden ...

Aber er war zu Hause. Hogwarts war das erste und beste Zuhause, das er gehabt hatte. Er und Voldemort und Snape, die verlassenen Jungen, sie alle hatten hier ihr Zuhause gefunden ...

Ginny kniete jetzt neben dem verletzten Mädchen, hielt ihre Hand. Mit gewaltiger Mühe zwang Harry sich weiter. Als er an Ginny vorbeikam, meinte er zu sehen, dass sie sich umdrehte, und fragte sich, ob sie gespürt hatte, dass jemand nahe an ihr vorbeigegangen war, doch er sagte nichts, und er blickte nicht zurück.

Hagrids Hütte tauchte schemenhaft aus der Dunkelheit auf. Da waren keine Lichter, und nichts war zu hören von Fang, wie er an der Tür kratzte, oder von seinem stürmischen Bellen, mit dem er ihn willkommen hieß. All jene Besuche bei Hagrid, das Schimmern des Kupferkessels auf dem Feuer, die Felsenkekse und Riesenraupen und sein großes bärtiges Gesicht, und Ron, der Schnecken erbrach, und Hermine, die ihm half, Norbert zu retten

...

Er ging weiter, und nun erreichte er den Rand des Verbotenen Waldes, und er blieb stehen.

Eine Horde von Dementoren glitt zwischen den Bäumen dahin; er konnte ihre Kälte spüren, und er war nicht sicher, ob er es schaffen würde, unversehrt hindurchzugelangen. Seine Kraft reichte nicht mehr für einen Patronus. Er konnte sein Zittern nicht länger beherrschen. Am Ende war es doch nicht so einfach, zu sterben. Jede Sekunde, die er atmete, der Geruch von Gras, die kühle Luft auf seinem Gesicht, alles war so kostbar: der Gedanke, dass Menschen Jahre um Jahre hatten, Zeit verschwenden konnten, so viel Zeit, dass sie lang wurde, während er sich an jede Sekunde klammerte. Gleichzeitig dachte er, dass er nicht fähig wäre weiterzugehen, und wusste doch, dass er es musste. Das lange Spiel war zu Ende, der Schnatz war gefangen, es war an der Zeit, aus der Luft herabzukommen ...

Der Schnatz. Seine kraftlosen Finger nestelten einen Moment lang an dem Beutel herum, der um seinen Hals hing, und er zog ihn heraus.

Ich öffne mich zum Schluss.

Rasch und schwer atmend starrte er auf ihn hinab. Nun, da er wollte, dass die Zeit so langsam wie möglich verging, schien sie sich beschleunigt zu haben, und er begriff so schnell, als hätte er gar nicht erst nachgedacht.

Dies war der Schluss. Dies war der Zeitpunkt.

Er drückte das goldene Metall an seine Lippen und flüsterte: »Ich werde gleich sterben.«

Die metallene Hülle brach auf. Er senkte seine zitternde Hand, hob unter dem Tarnumhang Dracos Zauberstab und murmelte: »Lumos.«

Der schwarze Stein mit dem gezackten Riss durch die Mitte lag in den beiden Hälften des Schnatzes. Der Stein der Auferstehung war entlang der senkrechten Linie auseinandergebrochen, die den Elderstab darstellte. Das Dreieck und der Kreis, die den Tarnumhang und den Stein darstellten, waren noch zu erkennen.

Und wieder begriff Harry, ohne nachdenken zu müssen. Es ging nicht darum, sie zurückzubringen, denn er war gerade dabei, zu ihnen zu gehen.

In Wirklichkeit holte nicht er sie: Sie holten ihn.

Er schloss die Augen und drehte den Stein in der Hand, drei Mal.

Er wusste, dass es geschehen war, denn er hörte leise Bewegungen um sich herum, die darauf schließen ließen, dass zarte Körper über den mit Zweigen bestreuten Erdboden am äußersten Rand des Waldes schritten. Er öffnete die Augen und sah sich um.

Sie waren weder Gespenst noch wahrhaft Fleisch, das konnte er sehen.

Sie ähnelten am ehesten jenem Riddle, der vor so langer Zeit dem Tagebuch entflohen war, und dieser Riddle war Erinnerung gewesen, die sich annähernd verfestigt hatte. Weniger stofflich als lebende Körper, doch viel stofflicher als Gespenster bewegten sie sich auf ihn zu, und auf jedem Gesicht war das gleiche liebevolle Lächeln.

James war genauso groß wie Harry. Er trug die Kleider, in denen er gestorben war, sein Haar war unordentlich und zerzaust, und seine Brille saß ein wenig schief, wie die von Mr Weasley.

Sirius war groß und hübsch und viel jünger, als Harry ihn jemals erlebt hatte. Er ging mit federnden Schritten und lässiger Anmut dahin, die Hände in den Taschen und ein Grinsen auf dem Gesicht.

Auch Lupin war jünger und bei weitem nicht mehr so heruntergekommen, und sein Haar war dichter und dunkler. Er schien glücklich, wieder an diesem vertrauten Ort zu sein, wo er in seiner Jugendzeit so viele Streifzüge unternommen hatte.

Lilys Lächeln war das breiteste von allen. Sie strich ihr langes Haar zurück, als sie ihm näher kam, und ihre grünen Augen, die seinen so ähnlich waren, musterten begierig sein Gesicht, als könnte sie sich nie an ihm sattsehen.

»Du bist so mutig.«

Er konnte nicht sprechen. Seine Augen weideten sich an ihr, und er dachte, er würde gern stehen bleiben und sie immer nur ansehen, und das würde genügen.

»Du bist fast am Ziel«, sagte James. »Ganz nah. Wir sind ... so stolz auf dich.«

»Tut es weh?«

Die kindische Frage war über Harrys Lippen gerutscht, ehe er es verhindern konnte.

»Sterben? Überhaupt nicht«, sagte Sirius. »Schneller und leichter als einschlafen.«

»Und er will, dass es schnell geht. Er will es hinter sich haben«, sagte Lupin.

»Ich wollte nicht, dass ihr sterbt«, sagte Harry. Die Worte kamen ihm unwillkürlich. »Keiner von euch. Es tut mir leid -«

Er sprach Lupin an, flehentlich, mehr als jeden anderen.

»- so kurz nachdem dein Sohn geboren war ... Remus, es tut mir leid -«

»Mir tut es auch leid«, sagte Lupin, »mir tut leid, dass ich ihn nie kennen lernen werde ... Aber er wird wissen, warum ich gestorben bin, und ich hoffe, er wird es verstehen. Ich habe versucht, eine Welt zu schaffen, in der er ein glücklicheres Leben führen könnte.«

Eine kühle Brise, die aus dem Herzen des Waldes zu dringen schien, blies Harry die Haare aus der Stirn. Er wusste, sie würden ihm nicht sagen, dass er gehen sollte, es musste seine eigene Entscheidung sein.

»Ihr werdet bei mir bleiben?«

»Bis ganz zum Schluss«, sagte James.

»Sie werden euch nicht sehen können?«, fragte Harry.

»Wir sind ein Teil von dir«, sagte Sirius. »Für jeden anderen unsichtbar.«

Harry sah seine Mutter an.

»Bleib in meiner Nähe«, sagte er leise.

Und er machte sich auf den Weg. Die Kälte der Dementoren übermannte ihn nicht; er durchquerte sie mit seinen Gefährten, die wie Patroni für ihn waren, und gemeinsam schritten sie zwischen den alten, dicht wachsenden Bäumen hindurch, mit den ineinandergeschlungenen Ästen, den knorrigen und verflochtenen Wurzeln am Boden. Harry raffte den Tarnumhang in der Dunkelheit eng an sich und begab sich immer tiefer in den Wald hinein, ohne eine Vorstellung davon, wo Voldemort genau war, doch sicher, dass er ihn finden würde. Neben ihm gingen, fast lautlos, James, Sirius, Lupin und Lily, und ihre Anwesenheit machte seinen Mut aus und war der Grund dafür, dass er unaufhörlich einen Fuß vor den anderen setzen konnte.

Sein Körper und sein Geist schienen jetzt auf merkwürdige Weise voneinander getrennt, seine Gliedmaßen bewegten sich ohne bewusste Anweisung, als wäre er ein Mitreisender und nicht der Lenkende in dem Körper, den er gleich verlassen würde. Die Toten, die neben ihm durch den Wald gingen, waren nun viel wirklicher für ihn als die Lebenden drüben im Schloss: Ron, Hermine, Ginny und all die anderen waren diejenigen, die ihm wie Gespenster vorkamen, während er dem Ende seines Lebens entgegenstolperte und -schlitterte, Voldemort entgegen ...

Ein dumpfer Schlag und ein Flüstern: Ganz in der Nähe hatte sich ein anderes Lebewesen gerührt. Harry blieb unter dem Tarnumhang verborgen stehen und spähte lauschend umher, und auch seine Mutter und sein Vater, Lupin und Sirius blieben stehen.

»Da ist jemand«, kam ein raues Flüstern von irgendwo dicht bei ihnen.

»Er hat einen Tarnumhang. Könnte das -?«

Zwei Gestalten kamen hinter einem nahen Baum hervor: Ihre Zauberstäbe flammten auf, und Harry sah Yaxley und Dolohow in die Dunkelheit starren, direkt zu der Stelle, wo Harry, seine Eltern, Sirius und Lupin standen. Offenbar konnten sie nichts erkennen.

»Hab eindeutig was gehört«, sagte Yaxley. »'n Tier, was meinst du?«

»Dieser Schwachkopf Hagrid hat eine ganze Horde von Viechern hier drin gehalten«, sagte Dolohow und blickte kurz über seine Schulter.

Yaxley sah hinunter auf seine Uhr.

»Die Zeit ist fast um. Potter hat seine Stunde gehabt. Er kommt nicht.«

»Und er war sicher, dass er kommen würde! Das wird ihm gar nicht gefallen.«

»Besser, wir gehn zurück«, sagte Yaxley. »Hören, was jetzt geplant ist.«

Er und Dolohow wandten sich ab und gingen tiefer in den Wald hinein.

Harry folgte ihnen, denn er wusste, dass sie ihn genau dorthin führen würden, wo er hinwollte. Als er einen Blick zur Seite warf, lächelte ihm seine Mutter zu, und sein Vater nickte ermutigend.

Sie waren nur ein paar Minuten weitergegangen, da sah Harry vor sich ein Licht, und Yaxley und Dolohow traten auf eine Lichtung, die Harry als den Ort erkannte, wo der grässliche Aragog einst gelebt hatte. Die Überreste seines riesigen Netzes waren noch da, doch der Schwarm von Nachkommen, die er in die Welt gesetzt hatte, war von den Todessern hinausgetrieben worden, um für ihre Sache zu kämpfen.

Inmitten der Lichtung brannte ein Feuer, dessen flackernder Schein auf eine dichte Menge vollkommen stummer, wachsamer Todesser fiel.

Manche von ihnen waren nach wie vor maskiert und hatten Kapuzen auf, andere zeigten ihre Gesichter. Zwei Riesen saßen am Rand der Gruppe, mit grausamen Gesichtern, klobig wie Felsen, und warfen gewaltige Schatten über die Szenerie. Harry erkannte Fenrir, der lauernd an seinen langen Nägeln kaute; der große blonde Rowle betupfte seine blutende Lippe. Er sah Lucius Malfoy, der niedergeschlagen und verängstigt wirkte, und Narzissa, die Augen voller Argwohn tief in ihren Höhlen.

Alle Blicke waren auf Voldemort gerichtet, der mit geneigtem Kopf dastand und seine weißen Hände über dem Elderstab vor sich gefaltet hatte.

Es war, als würde er beten oder stumm vor sich hin zählen, und Harry, der unbeweglich am Rand des Schauplatzes stand, hatte den absurden Gedanken an ein Kind, das beim Versteckspielen zählt, bis es suchen darf.

Hinter Voldemorts Kopf schwebte, sich immer noch ringelnd und windend, die große Schlange Nagini in ihrem glitzernden magischen Käfig, wie ein ungeheuerlicher Glorienschein.

Als Dolohow und Yaxley sich wieder zu dem Kreis gesellten, blickte Voldemort auf.

»Keine Spur von ihm, Herr«, sagte Dolohow.

Voldemorts Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Die roten Augen schienen im Licht des Feuers zu glühen. Langsam zog er den Elderstab zwischen seinen langen Fingern hervor.

»Herr -«

Bellatrix hatte gesprochen: Sie saß Voldemort am nächsten, mit zerzaustem Haar, das Gesicht ein wenig blutig, doch ansonsten unversehrt.

Voldemort hob seine Hand und gebot ihr Schweigen, und sie sagte kein weiteres Wort, sondern betrachtete ihn mit faszinierter Ehrerbietung.

»Ich dachte, er würde kommen«, sagte Voldemort mit seiner hohen, klaren Stimme, den Blick auf die lodernden Flammen gerichtet. »Ich habe erwartet, dass er kommt.«

Niemand sprach. Sie schienen genauso viel Angst zu haben wie Harry, dessen Herz sich nun gegen seine Rippen warf, als wollte es dem Körper unbedingt entfliehen, den er gleich wegschlendern würde. Mit schwitzenden Händen zog er den Tarnumhang von sich und stopfte ihn unter seinen Umhang, zusammen mit seinem Zauberstab. Er wollte nicht in Versuchung geraten zu kämpfen.

»Ich habe mich, wie es scheint ... geirrt«, sagte Voldemort.

»Hast du nicht.«

Harry sagte es, so laut er konnte, mit aller Kraft, die er aufbrachte: Er wollte nicht verängstigt klingen. Der Stein der Auferstehung rutschte ihm aus seinen tauben Fingern, und aus den Augenwinkeln sah er, wie seine Eltern, Sirius und Lupin verschwanden, als er vortrat in den Lichtschein des Feuers. In diesem Moment hatte er das Gefühl, dass niemand wichtig war außer Voldemort. Es ging jetzt nur um sie beide.

Die Illusion verflog noch im selben Augenblick. Die Riesen brüllten, als sich die Todesser gemeinsam erhoben, Geschrei, Keuchen, ja sogar Gelächter war zu hören. Voldemort stand vollkommen reglos da, doch seine roten Augen hatten Harry gefunden, und er starrte ihn an, während Harry auf ihn zuging, zwischen ihnen nichts als das Feuer.

Dann gellte eine Stimme -

»HARRY! NEIN! «

Er drehte sich um: Hagrid war gefesselt und zusammengeschnürt an einen nahen Baum gebunden. Sein massiger Körper sträubte sich verzweifelt und schüttelte die Äste über ihm.

»NEIN! NEIN! HARRY, WAS WILLST'N -?«

»RUHE!«, schrie Rowle und ein Schlenker seines Zauberstabs brachte Hagrid zum Schweigen.

Bellatrix, die aufgesprungen war, sah begierig und mit wogender Brust von Voldemort zu Harry. Nur die Flammen bewegten sich, und die Schlange, die sich in ihrem glitzernden Käfig hinter Voldemorts Kopf ringelte.

Harry konnte seinen Zauberstab an seiner Brust spüren, doch er machte keinen Versuch, ihn hervorzuziehen. Er wusste, dass die Schlange zu gut geschützt war, wusste, dass, wenn er es schaffte, den Zauberstab auf Nagini zu richten, fünfzig Flüche ihn zuerst treffen würden. Und immer noch blickten Voldemort und Harry einander an, und jetzt neigte Voldemort seinen Kopf ein wenig zur Seite, betrachtete den Jungen, der vor ihm stand, und ein seltsam freudloses Lächeln kräuselte den lippenlosen Mund.

»Harry Potter«, sagte er ganz leise. Es war, als wäre seine Stimme Teil des zischenden Feuers. »Der Junge, der überlebt hat.«

Kein Todesser rührte sich. Sie warteten. Alles wartete. Hagrid kämpfte, und Bellatrix keuchte, und Harry dachte unerklärlicherweise an Ginny, und an ihren glühenden Blick, und an das Gefühl ihrer Lippen auf seinen -

Voldemort hatte seinen Zauberstab erhoben. Sein Kopf war immer noch zur Seite geneigt, wie der eines neugierigen Kindes, als ob er sich fragte, was geschehen würde, wenn er weitermachte. Harry erwiderte seinen Blick, sah in die roten Augen und wollte, dass es jetzt geschah, rasch, solange er noch stehen konnte, ehe er die Kontrolle verlor, ehe er Furcht zeigte -

Er sah, wie sich der Mund bewegte, dann einen Blitz grünen Lichts, und alles war vorüber.