"Die Seemannsbraut: Sir Richard und die Ehre der Bolithos" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)

IV Sturmwarnung

Bolitho stand im leeren Bootsschuppen und gewöhnte seine Augen an die Formen und Schatten. Es war ein großes, baufälliges Gebäude, von einigen wenigen Lampen schwach erleuchtet. Um die Feuersgefahr zu verringern, hingen die

Laternen an langen Ketten und pendelten jetzt leise, was den Eindruck erweckte, als bewege sich der Schuppen wie ein Schiff.

An diesem Abend war die Dunkelheit lebendig und voller Geräusche: dem Rascheln und Klatschen der Palmwedel, dem unruhigen Plätschern des Wassers unter der groben Aufschleppe, wo man den Leichter für seine Reise in den Süden hergerichtet hatte. Der Bootsschuppen war ein wimmelnder Bienenkorb gewesen, in dem Schiffbauer und Seeleute gegen die Zeit arbeiteten, um zusätzliche Bilgepumpen einzubauen und Scharniere entlang der Verschanzung einzusetzen, damit man diese bei Bedarf niederlegen konnte.

Bolitho fühlte losen Sand vom Strand in seinen Schuhen, während er zum hundersten Mal seine Pläne durchdachte. Jenour hatte ihm Gesellschaft geleistet, aber sein Verlangen nach Alleinsein respektiert.

Bolitho lauschte dem Plätschern des Wassers, dem sanften Stöhnen des Windes über dem vom Wetter zerrissenen Dach. Sie hatten um Wind gebetet, aber nun konnte er zunehmen und sich gegen sie kehren. Wenn der Leichter vollschlagen sollte, bevor er sein Ziel erreichte, mußte er sich zu einer Planänderung entschließen. Entweder würde er dann Thor ohne Unterstützung an die Küste schicken oder den Angriff abbrechen müssen. Er dachte an den Zweifel in Somervells Augen. Nein, er würde nicht umkehren, es war sinnlos, andere Möglichkeiten zu erwägen.

Er sah sich im dräuenden Schatten des Schuppens um: Skelette alter Boote, Spanten von neuen, der Geruch nach Farbe, Teer und Tauwerk. Eigenartig, daß er nach so vielen Jahren auf See seine anregende Wirkung auf ihn immer noch nicht verfehlte.

Bolitho entsann sich der Schuppen in Falmouth, wo er und sein Bruder und manchmal auch seine Schwestern alle Winkel erforscht hatten und sich wie Piraten und Prinzessinnen vorgekommen waren. Er fühlte einen Stic h im Herzen, als er an seine Tochter Elizabeth dachte, wie sie, unbeholfen auf den Arm genommen, an seinen Epauletten und blanken Knöpfen gezupft hatte.

Doch statt ihn und Belinda wieder zu vereinen, war das Gegenteil geschehen. Eine ihrer Auseinandersetzungen hatte sich um Belindas Absicht gedreht, eine Gouvernante und ein passendes Kindermädchen für ihre Tochter zu engagieren. Dies und ihr Vorschlag, nach London zu ziehen, hatten den Streit entzündet. Sie hatte ihm erklärt:»Nur weil du selbst in Falmouth mit den Dorfkindern aufgewachsen bist, kannst du nicht von mir verlangen, daß ich Elizabeth die Möglichkeit vorenthalte, sich im Leben zu verbessern und von deinen Leistungen zu profitieren.»

Es war eine schwierige Geburt gewesen, während Bolithos Abwesenheit auf See. Die Ärzte hatten Belinda vor einem zweiten Kind gewarnt, und als Folge davon war eine Entfremdung zwischen den Eheleuten eingetreten, die Bolitho nicht verstand und als ungerecht empfand. Ein andermal hatte Belinda spitz geäußert:»Ich habe dir von Anfang an erklärt, ich bin nicht Cheney. Hätte ich ihr nicht so ähnlich gesehen, wären wir jetzt wohl kaum verheiratet.»

Bolitho hatte versucht, die Barriere zwischen ihnen niederzureißen, Belinda an sich zu ziehen und ihre Angst zu beschwichtigen. Er wollte ihr von seiner Augenverletzung erzählen und von dem, was sie bedeuten konnte. Statt dessen hatten sie sich in London getroffen, und es war zu unerklärlichen, bitteren Feindseligkeiten zwischen ihnen gekommen, die beide später bedauerten.

Bolitho tippte an seine blanken Knöpfe und dachte wieder an das Kind. Es war jetzt sechzehn Monate alt. Verzweifelt fragte er sich, ob Elizabeth nie in Falmouth spielen, im Sand tollen und schmutzig nach Hause kommen würde, um gescholten und geliebt zu werden.

Jenour hörte ihn seufzen, zog aber die falschen Schlüsse daraus. »Thor müßte schon ziemlich weit weg sein, Sir Richard«, meinte er aufmunternd.

Bolitho nickte. Das Mörserschiff war in der vergangenen Nacht heimlich ausgelaufen, aber Gott allein wußte, ob nicht Spione längst Einzelheiten über den beabsichtigten Einsatz weitergemeldet hatten. Zur Täuschung hatte man Gerüchte in Umlauf gesetzt, wonach Thor den Leichter nach St. Christopher schleppen sollte. Sogar Glassport war genötigt worden, seinen Widerstand aufzugeben, und hatte eine Decksladung mit dem deutlich sichtbaren Namen dieses Bestimmungshafens besorgt.

Wie auch immer, jetzt war es zu spät für Alternativen. Vielleicht war es dafür schon zu spät gewesen, als er darauf bestanden hatte, seinem neuen Geschwader vorauszusegeln und mit des spanischen Königs Gold auf seine Weise umzugehen. Todessehnsucht? Somervells Wort steckte in seinem Kopf wie ein Widerhaken.

Er sagte:»Imrie wird sich zweifellos freuen, wieder auf See zu sein.»

Jenour musterte besorgt die aufrechte Gestalt, die den Hut abgelegt und die Halsbinde gelockert hatte. Bolitho merkte es nicht, er dachte an seine anderen Kommandanten. Haven hatte in einem Punkt recht behalten: Die drei patrouillierenden Fahrzeuge seiner kleinen Streitmacht waren noch nicht nach English Harbour zurückgekehrt. Entweder hatten Glassports Schoner sie nicht zu finden vermocht, oder es hatte jeder für sich beschlossen, die Zeit anderswo totzuschlagen. Er stellte sich die Gesichter vor, als die Kommandanten in der großen Kajüte versammelt waren. Thynne von der Obdurate, die noch ihre Sturmschäden reparierte, war der einzige etatmäßige Kommandant unter ihnen. Bolitho behandelten sie mit einer höflichen Wachsamkeit. Sie alle hatten den toten Price gekannt, und vielleicht sahen sie in Bolithos Strategie einen Diebstahl seiner Ideen.

Diese Befürchtung hatte er Jenour gegenüber geäußert, nicht etwa, weil der junge Flaggleutnant schon über genug Erfahrung und Klugheit als Kritiker verfügte, sondern weil er sie mit einem teilen wollte, dem er vertrauen konnte.

Aber Jenour hielt das bezeichnenderweise für ausgeschlossen und hatte beharrlich erklärt:»Sie kennen Ihre bisherigen Leistungen, Sir Richard, das genügt jedem. «Jenour war ein angenehmer, eifriger junger Mann, der ihn an niemanden erinnerte. Vielleicht hatte er ihn sich deshalb ausgesucht. Deshalb und wegen seiner verblüffenden Kenntnisse über Bolithos bisherige Unternehmen, seine Schiffe und Gefechte.

Die drei Briggs Upholder, Tetrarch und Vesta sollten morgen die Anker lic hten und mit dem Flaggschiff auslaufen. Blieb nur zu hoffen, daß sie nicht auf feindliche Fregatten stießen, bevor sie das Festland erreichten. Alle drei zusammen trugen sie nur zweiundvierzig Kanonen. Wenn doch wenigstens ihre einzige Korvette aufsein Rückrufsignal reagiert hätte! Denn die Phaedra sah wie eine kleine Fregatte aus, und in den richtigen Händen konnte sie auch als eine solche kämpfen. Oder maß er sie schon wieder an seiner ersten Korvette und dem damit verbundenen

Glück?

Bolitho schritt langsam zum Ende der Aufschleppe, dorthin, wo sie in die unruhigen Wellen tauchte. Das Wasser war dunkel wie Ebenholz, betupft mit gelegentlichen Reflexen der Ankerlaternen oder, wie im Fall der Hyperion, von den Spiegelbildern der erleuchteten offenen Stückpforten. Er fühlte die warme Brise an seinen Wangen und versuchte sich die Seekarte mit allen Unwägbarkeiten vorzustellen, die ihnen auf jeder der sechshundert Seemeilen zustoßen konnten.

Er wollte sich nicht aufregen, wenn er an Haven dachte. Haven war kein Feigling, aber von anderen, tieferen Sorgen besessen. Was er auch von seiner Kommandierung auf einen Veteranen wie Hyperion hielt, Bolitho sah es anders. Das Schiff mochte alt sein, gewiß, aber es war noch immer ein weit besserer Segler als die meisten seiner Sorte. Ungewöhnlich, daß ein Flaggkapitän sich zum Gegner seines Admirals machte, ob er ihn nun haßte oder nicht. Die Karriereleiter war schwer genug zu erklettern, ohne daß man sich noch selbst Hindernisse in den Weg legte. Doch Haven wies jeden persönlichen Kontakt zurück, und als auf der Überfahrt von England traditionsgemäß seine Gegenwart an der Tafel nötig war, wo Bolitho einige jüngere Offiziere bewirtete, hatte er sich abseits gehalten. Bolitho dachte an das Bildnis von Havens hübscher Frau. War sie die Ursache seiner Probleme? Das allerdings hätte er gut verstehen können.

Der Schatten eines Fischerboots glitt an der ihnen am nächsten liegenden Brigg vorüber. Brachte es dem Feind eine Nachricht? Falls die Dons herausbekamen, was er beabsichtigte, konnte der Admiral in Havanna wenige Stunden nach Erhalt der Nachricht ein ganzes Geschwader in See haben.

Es wurde Zeit, zur Anlegebrücke zu gehen, wo die Barkasse wartete, aber Bolitho zögerte noch. Es war so friedlich hier, ein Aufschub vor der Gefahr und dem Ruf der Pflicht.

Der Fischer war verschwunden, ohne zu ahnen, welche Gedankengänge er ausgelöst hatte. Bolitho starrte auf die leuchtenden Reihen offener Stückpforten der Hyperion. Das sah aus, als ob sie innerlich brannte. In ihrem rundlichen Rumpf drängten sich sechshundert Seelen — alle ihm überantwortet. Sie verlangten nicht viel, aber oft wurden ihnen selbst noch die einfachsten Bequemlichkeiten vorenthalten. Er konnte sich die anonymen Seesoldaten in ihrer Sektion des Decks vorstellen, wo sie wohnten und auch ihre Ausrüstung reinigten und putzten. Er sah andere Quartiere vor sich, wo die Seeleute zwischen Kanonen ihre Freiwachen verbrachten, an traditionellen Kleinigkeiten bastelten oder winzige Schiffsmodelle aus Knochen und Muscheln schnitzten. Wie konnten ihre von schwerer Arbeit groben Hände solch feine Arbeiten hervorbringen? Dann die Fähnriche der Hyperion, acht an der Zahl, die den Lehrstoff für ihr Leutnantsexamen studierten, manchmal bei schwächster Beleuchtung, einem Docht in einer alten Kartusche.

Die Offiziere hatten sich noch nicht hervorgetan, aber mit der Zeit würden sie zeigen, was sie konnten oder was nicht. Bolitho schlug mit seinem Hut nach einem durch die Dunkelheit summenden Insekt. Führerschaft, darauf kam es an. Alles beruhte auf guter Führerschaft.

Als er sich wieder dem Bootsschuppen zuwandte, hörte er Jenours Schritte davoneilen. Eine Kutsche rollte heran, ein Pferd stampfte unruhig, und die Stimme eines Mannes suchte es zu besänftigen.

Jenour kam zurück und wisperte:»Eine Dame, Sir Richard.»

Bolithos Herz erriet ihren Namen. Er fragte sich keinen Moment, wer da zu dieser späten Stunde kommen mochte. Vielleicht hatte er sie unbewußt erwartet, in der Hoffnung, daß sie ihn schon finden würde. Und trotzdem fühlte er sich unvorbereitet.

Sie begegneten einander unter dem aufgepallten Rumpf eines alten Bootes. Catherine war von Kopf bis Fuß in einen Umhang gehüllt, dessen Kapuze lose über ihrem Haar hing. Hinter ihr sah man die Kutsche warten, den Mann neben dem Pferd stehen, beleuchtet von zwei kleinen Laternen, die ihren gelben Schein auf die Straße warfen. Jenour wollte sich zurückziehen, aber sie winkte seine Entschuldigung beiseite.»Lassen Sie nur, ich habe ja auch meine Zofe bei mir.»

Bolitho trat näher, doch sie kam ihm nicht entgegen. Der Umhang verbarg sie völlig, lediglich das Oval ihres Gesichts und eine goldene Halskette waren erkennbar.

Sie sagte:»Du verläßt uns bald. «Das klang wie eine Feststellung.»Ich kam, um dir Glück zu wünschen, was auch immer. «Die Stimme versagte ihr. Bolitho streckte die Hand aus, doch sie protestierte schnell:»Nein, das wäre unfair. «Nach einer Pause fragte sie ohne Gemütsbewegung:»Du hast meinen Mann getroffen?»

Bolitho versuchte, ihr in die Augen zu sehen, aber auch diese lagen im tiefen Schatten.»Ja. Aber ich möchte lieber von dir reden und erfahren, wie es dir ergangen ist.»

Sie hob das Kinn und drehte sich halb um.»Seit dem Empfang? Mein Mann spricht viel von dir. Du hast ihn beeindruckt, und er bewundert andere nicht oft. Die Tatsache, daß du den neuen Namen der Consort kanntest.»

Bolitho beharrte:»Wir wollen über dich reden, Kate.»

Sie erschauerte und entgegnete leise:»Ich habe dich einmal gebeten, mich nicht Kate zu nennen.»

«Ich weiß. Ich habe nichts vergessen. «Er zuckte die Achseln und merkte, daß er etwas falsch machte.

«Ich auch nicht. Ich habe alles über dich gelesen, was ich nur bekommen konnte, weil ich fürchtete, mit der Zeit meine Erinnerungen an dich zu verlieren. Ich war verletzt, habe deinetwegen gelitten.»

«Das ahnte ich nicht.»

Sie hörte nicht hin.»Hast du angenommen, dein Leben bedeute mir so wenig, daß ich es jahrelang verfolgen könnte, ohne zu leiden? Sieben Jahre, an denen ich nicht teilhaben durfte — hast du gedacht, ich liebte dich nicht?»

«Ich war der Meinung, du hättest dich von mir abgewendet.»

«Vielleicht tat ich das auch, eine Zeitlang. Und doch wünschte ich mir mehr als alles andere, daß du Erfolg haben würdest, daß man erkennen würde, wer du wirklich bist. Oder hättest du es lieber gesehen, die Leute hätten im Vorbeigehen höhnisch über mich gelächelt wie über Nelsons Hure? Wie hättest du diesen Sturm abgewettert, sag?»

Bolitho hörte Jenour davongehen, doch es war ihm egal.

«Bitte gib mir Gelegenheit, zu erklären…»

Sie schüttelte den Kopf.»Du bist mit einer anderen verheiratet und hast ein Kind, da gibt es nichts zu erklären.»

Bolitho ließ die Arme sinken.»Und was ist mit dir? Du hast ebenfalls geheiratet.»

«Ihn?«antwortete sie gedehnt.»Lacey brauchte mich, ich konnte ihm helfen. Und ich brauchte Sicherheit, wie schon gesagt.»

Sie betrachteten einander schweigend. Dann bat sie:»Sei vorsichtig, auf was du dich einläßt. Ich werde dich wahrscheinlich nicht wiedersehen.»

Bolitho erwiderte:»Ich segle morgen, aber das weißt du wahrscheinlic h schon.»

Zum erstenmal hob sie die Stimme.»Sprich mit mir nicht in diesem Ton! Ich bin gekommen, weil ich noch immer an unsere Liebe glaube. Nicht aus Trauer oder Mitleid. Wenn du denkst.»

Durch den Umhang packte er ihren Arm.»Geh nicht im Zorn, Kate. «Er erwartete, daß sie sich losreißen und zur Kutsche eilen würde. Aber etwas in seiner Stimme zwang sie zu bleiben.

Er setzte von neuem an.»Den Gedanken, daß ich dich niemals wiedersehen sollte, könnte ich nicht ertragen.»

«Es war dein Entschluß«, flüsterte sie.

«Nicht ganz.»

«Würdest du deiner Frau erzählen, daß du mich gesehen hast? Wie ich höre, ist sie eine Schönheit. Könntest du ihr das antun?«Sie trat ein wenig zurück.»Dein Schweigen ist auch eine Antwort.»

Bolitho sagte bitter:»Das stimmt nicht. »

Sie wandte sich zum Gehen. Dabei glitt die Haube von ihrem Kopf, und der Schein der Lampen fiel auf die Ohrringe, die er ihr einst geschenkt hatte.

Als er sie wieder festhalten wollte, wich sie zurück und bedeckte ihr Gesicht.»Morgen werde ich dir nachsehen, wenn sich dein Schiff entfernt. Wie die Dinge liegen, wird mein Herz mit dir segeln, Richard. Aber jetzt geh!»

Dann lief sie mit schwingendem Umhang davon, bis sie die Kutsche erreichte.

Jemand räusperte sich, es war Jenour.»Tut mir wirklich leid, Sir Richard…»

Bolitho schnitt ihm das Wort ab.»Es ist Zeit, daß Sie erwachsen werden, Mr. Jenour.»

Jenour eilte hinter ihm her, den Kopf noch voll von dem, was er unfreiwillig gehört und gesehen hatte.

Auf der Pier blickte Bolitho noch einmal zurück. Die Lampen ihrer Kutsche hatten sich nicht bewegt. Sie sah ihm noch in der Dunkelheit nach.

Er hörte, daß sich die Barkasse näherte, und fühlte sich plötzlich erleichtert. Die See forderte ihn wieder für sich.

Am Mittag des dritten Tages auf See schritt Bolitho an Deck in Luv auf und ab. Es war ein Tag wie jeder andere, als ob nichts, nicht einmal die Wache, gewechselt hätte. Er beschattete seine Augen, um nach dem Wimpel an der Mastspitze zu schauen. Der Wind war stetig wie zuvor und schob eine lange, gleic hmäßige Dünung vor sich her. Er hörte den Rudergänger:»Recht so, wie sie geht, Sir, Südwest zu West!«rufen und wußte, daß es mehr zu seiner Information gedacht war als für den Wachoffizier.

In der langen Dünung lüftete Hyperion wiegend ihr Heck und ließ die Bugwelle an ihrer Bordwand entlangrauschen. Hoch oben arbeiteten die Toppgasten mit gebräunten Oberkörpern, die sich vom Sonnenbrand häuteten. Die Arbeit hörte nie auf: spleißen, neue Leinen einscheren, Tauwerk teeren oder die Boote mit Wasser füllen, damit sich ihre Nähte in der Tropensonne nicht öffneten.

Bolitho merkte, daß der Wachoffizier ihn anstarrte, und suchte sich an alles über ihn zu erinnern. Vernon Quayle war Vierter Leutnant der Hyperion, und wenn man ihn nicht kontrollierte oder im Kampf nicht tötete, würde er sich, einmal fest im Sattel, zu einem Tyrann entwickeln. Er kam aus einer Marinefamilie, sah gut, aber übellaunig aus, war zweiundzwanzig und von vorschneller Wesensart. Seit sie England verlassen hatten, waren bereits drei Mann seiner Division ausgepeitscht worden. Haven sollte da wirklich ein Machtwort sprechen. Vielleicht hatte er es schon getan? Aber der Kommandant und sein dafür zuständiger Erster schienen nur selten miteinander zu sprechen.

Bolitho stellte sich an die Querreling des Achterdecks und blickte in die Kühl, sozusagen den Marktplatz jedes Kriegsschiffes. Der Segelmacher und seine Gehilfen rollten unten geflickte Tuchbahnen ein und legten Handschuh und Nadeln fort. Aus dem Kombüsenschornstein kam der widerliche Geruch gekochten Schweinefleisches. Wie man so was in dieser Hitze essen konnte, war Bolitho schleierhaft. Er schmeckte noch Ozzards starken Kaffee auf der Zunge. Seit dem Verlassen von English Harbour hatte er kaum etwas zu sich genommen. Aus

Sorge, Überlastung oder wegen seiner Schuldgefühle Catherine gegenüber?

Leutnant Quayle salutierte.»Upholder ist auf Station, Sir Richard, der Ausguck meldet sie uns alle halbe Stunde. «Es hörte sich an, als wolle er hinzufügen:»Wenn nicht, geht's ihm schlecht.»

Upholder steckte recht voraus schon mit dem Rumpf unterm Horizont, sie mußte als erste Thor am Treffpunkt sichten. Bolitho hatte die Brigg wegen ihres jungen Kommandanten als Vorhut losgeschickt. William Trotter war ein aufmerksamer Mann aus Devon, der ihn bei ihren wenigen Begegnungen durchaus beeindruckt hatte. Er brauchte sowohl Kommandanten mit Köpfchen als auch gute Ausguckleute, wenn vom ersten Insichtkommen so viel abhing.

Tetrarch stand etwas luvwärts, bereit vorzustoßen und einzugreifen, wenn nötig, und die dritte Brigg, Vesta, segelte weit hinten. Sie sollte sicherstellen, daß ihnen kein wißbegieriger Fremder folgte. Bisher hatten sie nichts gesehen. Es war, als ob irgendeine Warnung die See leergefegt hätte. Morgen würden sie dem Festland nahe genug sein, um es vom Masttopp aus zu sichten.

Bolitho hatte mit dem Segelmeister der Hyperion gesprochen, mit Isaac Penhaligon. Haven konnte sich glücklich schätzen, einen solch erfahrenen Mann an Bord zu haben. Penhaligon kam aus Cornwall, man hatte ihn im zarten Alter von sieben Jahren als Schiffsjungen abgeschoben, und er war seitdem selten an Land gewesen. Jetzt war er um die Sechzig, mit einem lederfarbenen, faltigen Gesicht und blitzenden Augen, die einem Jüngeren zu gehören schienen. Er war auf einem Postschiff gefahren, hatte auf Ostindienfahrern gedient und schließlich, wie er es ausdrückte, als Steuermann des Königs Rock angezogen. Sein Wissen über die Eigenarten aller sieben Meere war schwer zu übertreffen. Obendrein hatte er gerade diese Gewässer hier oft befahren und gegen Sklavenhändler und Bukaniere gekämpft, bis ihn nichts mehr erschrecken konnte. Bolitho hatte beim Errechnen der

Mittagsbreite zugesehen, wie er ein Auge auf die versammelten Fähnriche warf, deren Navigation und maritime Ausbildung ihm oblag. Immer war er bereit zu einem offenen Kommentar, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie sollten. Doch war er niemals sarkastisch zu den jungen Herren, und sie hatten sichtlich Achtung vor ihm.

Penhaligon hatte seine Karten und Notizen mit den Beobachtungen von Price verglichen und nur bemerkt:»Der wußte, wie man navigiert. «Das war ein großes Lob aus seinem Mund.

Ein Decksoffizier näherte sich Leutnant Quayle mit gesenkter Stirn. Bolitho war froh, allein zu sein, als Quayle hinwegeilte. Er hatte das Gesicht des Seemanns gesehen; es zeigte nicht nur Respekt vor dem Offizier, sondern schon Furcht.

Seine Hand strich über die abgenutzte, von der Sonne heiße Reling. Er dachte an das letzte Treffen mit Catherine im Bootsschuppen, an ihre Stimme und Leidenschaftlichkeit. Er mußte sie wiedersehen, wenn auch nur, um ihr alles zu erklären. Aber was erklären? Es nützte nichts, würde sie nur quälen — und ihnen beiden schaden. Sie schien unzugänglich, nur bestrebt, ihm zu sagen, was er ihr angetan hatte. Und doch.

Er erinnerte sich noch lebhaft an ihr erstes Treffen, als sie ihn für den Tod ihres Ehemannes verflucht hatte. Das war schon ihr zweiter gewesen. Es hatte auch einen ersten gegeben, den sie kaum erwähnte, einen haltlosen Glücksritter, der in Spanien bei einem trunkenen Streit umgekommen war. Wer war sie damals, und woher kam sie überhaupt? Bezaubernd und beeindruckend, wie sie heute war, konnte man sie nur schwer in jener Gosse sehen, von der sie in einem Augenblick der Intimität einmal gesprochen hatte.

Und Somervell. War er wirklich so kühl und distanziert, wie er sich gab? Amüsierte ihn das Erwachen ihrer alten Erinnerungen, das er je nach Belieben ignorieren oder ausnutzen konnte? Würde er jemals erfahren, daß sie Bolitho aus der Ferne beobachtet hatte, um zu hören, was er tat oder ob er im Gefecht gefallen war?

Quayle war zum Ruder gegangen und maßregelte den Fähnrich der Wache. Dieser war wie alle anderen vorschriftsmäßig gekleidet, mußte aber bei der Hitze Blut und Wasser schwitzen. Wäre Keen Flaggkapitän gewesen, hätte er. Entschlossen rief Bolitho:»Lassen Sie meinen Diener holen!»

Ozzard entstieg dem Dunkel unter Deck und stand blinzelnd in der Helle, mehr denn je einem Maulwurf ähnelnd: klein, treu und immer bereit zu dienen, wenn er gebraucht wurde. Er hatte Bolitho sogar vorgelesen, als dieser teilweise erblindet war, denn er war gebildet und früher Gehilfe in einer Anwaltskanzlei gewesen. Dann war er zur See gegangen, um einer Anklage zu entfliehen; manche sagten, dem Strick des Henkers.

Bolitho winkte ihn heran.»Hier, mein Rock.»

Ozzard zuckte nicht mit der Wimper, als der Vizeadmiral ihm das Kleidungsstück über den Arm warf und den Hut reichte. Andere sahen zu. Ab morgen konnte auch Haven seinen Offizieren erlauben, sich an Deck in Hemdsärmeln zu bewegen. Wenn es erst einer Uniform bedurfte, um aus einem Mann einen Offizier zu machen, dann gab es für sie alle keine Hoffnung mehr.

Ozzard deutete ein Lächeln an und hastete dankbar wieder in den Schatten. Er kannte Bolithos freudige und trübe Stimmungen. Zuviel der letzteren, dachte er. Er eilte am Wachposten vorbei und betrat die große Tageskajüte, jenes Reich, das er mit Bolitho teilte. Dort untersuchte er den Rock nach Spuren von Teer oder Talg. Dann erblickte er sein Spiegelbild und hielt sich den Rock vor. Er reichte ihm fast bis zu den Fußknöcheln. Ozzard lächelte schmerzlich.

Unwillkürlich packte er den Uniformstoff fester, als er sich jenes furchtbaren Tages erinnerte, an dem der Anwalt ihn früher nach Hause geschickt hatte. Deshalb überraschte er seine junge Frau nackt in den Armen eines Mannes, den er seit Jahren kannte und respektierte. Sie hatten versucht, ihn zu täuschen, aber etwas war in ihm gestorben, als er sie so daliegen sah. Später, als er das kleine Haus an der Themse in Wapping Wall verließ, war ihm das Schild des Ladeninhabers gegenüber ins Auge gefallen: Tom

Ozzard, Schreiber. Auf der Stelle hatte er sich entschlossen, daß dies seine neue Identität sein solle.

Nicht einmal hatte er sich umgesehen nach jenem Zimmer, wo er ihre Lügen mit einer Axt beendet, wo er sie zerhackt und zerschnitten hatte, bis sie unkenntlich waren. Am Tower Hill war er dann auf eine Preßgang gestoßen. Sie waren nie weit entfernt, immer auf Freiwillige hoffend oder auf einen Betrunkenen, der Handgeld nahm und sich dann auf einem Kriegsschiff wiederfand, bis er abmustern konnte oder getötet wurde.

Der Leutnant hatte ihn zweifelnd angesehen. Erstklassige Seeleute, starke junge Männer, die brauchte der König damals! Jetzt sahen sie das anders. Jetzt hätten sie auch einen Krüppel auf zwei Krücken genommen.

Tom Ozzard, Steward des Vizeadmirals, hängte den Rock sorgfältig fort. Er war ein Mann ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, furchtsam, ja zu Tode erschrocken in der Schlacht, wenn das Schiff um ihn herum erbebte.

Tief in seinem Herzen ahnte Ozzard, daß er eines Tages in das kleine Haus in Wapping Wall zurückkehren würde. Dann, aber erst dann, würde er seine Tat gestehen.

Alle Gedanken an Bord waren auf morgen gerichtet. Vom Ausguck hoch oben im Masttopp bis zu Allday, der in seiner Hängematte unter Deck einen gewaltigen Kater ausschlief, von Ozzard bis zu dem Mann in der Achterkajüte, dem er diente, dachten alle an morgen.

Hyperion hatte in all den Jahren und Weltgegenden, in die sie gesegelt war, schon viele Männer kommen und gehen gesehen. Weit vor dem Dreizack ihrer Galionsfigur lag der Horizont. Und jenseits davon konnte nur das Schicksal erkennen, was auf sie zukam.