"Harry Potter und der Orden des Phönix" - читать интересную книгу автора (Rowling Joanne K.)

Es sind Sommerferien und wieder einmal sitzt Harry bei den unsäglichen Dursleys im Ligusterweg fest. Doch diesmal treibt ihn größere Unruhe denn je warum schreiben seine Freunde Ron und Hermine nur so rätselhafte Briefe? Und vor allem: Warum erfährt er nichts über die dunklen Mächte, die inzwischen neu erstanden sind? Noch ahnt er nicht, was der geheimnisvolle Orden des Phönix gegen Voldemort ausrichten kann ... Als Harrys fünftes Schuljahr in Hogwarts beginnt, werden seine Sorgen nur noch größer. Und dann schlägt der Dunkle Lord wieder zu. Harry muss seine Freunde um sich scharen, sonst gibt es kein Entrinnen.


Joanne K. Rowling

HARRY POTTER

und der Orden des Phönix

Aus dem Englischen von Klaus Fritz

Scanned by

hajufu

2003

CARLSEN

Das Papier dieser Ausgabe wurde nach strengen Umweltrichtlinien hergestellt und ist recyclebar; der Rohstoff stammt aus kontrolliertem schwedischem Waldanbau.

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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2003

Original text copyright ©Joanne K. Rowling 2003

Originalverlag: Bloomsbury Publishing Plc, London 2003

Originaltitel: Harry Potter and the Order ot thc Phoenix Harry Potter, names, characters and related indicia arc Copyright and trademark Warner Bros.

Harry Potter Publishing rights are Copyright JK Rowling.

Umschlaggestaltung: Doris K. Künster

Umschlagillustration: Sabine Wilharm

Satz: Dörlemann Satz, Lemfördc

Druck und Bindung: Clausen amp; Bosse, Leck

ISBN 3-551-55555-9

Printed in Germany


Für Neil, Jessica und David,

die meine Welt verzaubern

Dudley umnachtet

Der bislang heißeste Tag des Sommers neigte sich dem Ende zu und eine schläfrige Stille lag über den großen wuchtigen Häusern des Ligusterwegs. Autos, die normalerweise glänzten, standen staubig in den Einfahrten, und Rasenflächen, die einst smaragdgrün waren, lagen verdorrt und gelbstichig da - wegen der Dürre war es verboten worden, sie mit Gartenschläuchen zu wässern. Die Bewohner des Ligusterwegs, die sich nun nicht mehr wie üblich mit Autowaschen und Rasenmähen die Zeit vertreiben konnten, hatten sich in die Schatten ihrer kühlen Häuser zurückgezogen und die Fenster weit aufgestoßen in der Hoffnung, eine vermeintliche Brise hereinzulocken. Der einzige Mensch, der noch draußen war, ein Teenager, lag in einem Blumenbeet vor Nummer vier flach auf dem Rücken.

Es war ein schlaksiger, schwarzhaariger Junge mit Brille, der ausgezehrt und leicht ungesund wirkte wie jemand, der in kurzer Zeit recht schnell gewachsen war. Seine Jeans war dreckig und zerrissen, sein T-Shirt ausgeleiert und verblichen, und die Sohlen seiner Turnschuhe schälten sich vom Oberleder. Harry Potters Äußeres machte ihn nicht lieb Kind bei den Nachbarn, jener Sorte von Menschen, die meinten, Schmuddeligkeit gehöre gesetzlich bestraft, doch da er sich an diesem Abend hinter einem großen Hortensienbusch versteckt hatte, war er für Passanten gänzlich unsichtbar. Tatsächlich konnten ihn nur Onkel Vernon und Tante Petunia sehen, falls sie die Köpfe aus dem Wohnzimmerfenster streckten und senkrecht nach unten ins Blumenbeet schauten.

Alles in allem, dachte Harry, konnte man ihm zu seiner Idee, sich hier zu verstecken, nur gratulieren. Vielleicht war es nicht sonderlich bequem, wie er da auf der heißen, harten Erde lag, doch immerhin stierte ihn niemand finster an und knirschte so laut mit den Zähnen, dass er die Nachrichten nicht hören konnte, oder warf ihm gehässige Fragen an den Kopf, wie es noch jedes Mal geschehen war, wenn er versucht hatte, sich ins Wohnzimmer zu setzen und mit Tante und Onkel fernzusehen.

Als wäre Harrys Gedanke durchs offene Fenster geflattert, fing Vernon Dursley, sein Onkel, plötzlich an zu reden.

»Bin froh, dass der Bursche nicht mehr versucht, sich hier breit zu machen.

Übrigens, wo steckt er eigentlich?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Tante Petunia beiläufig. »Nicht im Haus jedenfalls.«

Onkel Vernon grunzte.

»Die Nachrichten gucken ...«, höhnte er. »Möchte wissen, was er wirklich im Schilde führt. Ein normaler Junge pfeift doch drauf, was in den Nachrichten kommt - Dudley hat keine Ahnung, was in der Welt passiert. Bin mir nicht mal sicher, ob er weiß, wer der Premierminister ist! Jedenfalls sieht's nicht so aus, als käme irgendwas über seine Sippschaft in unseren Nachrichten -«

»Vernon, schhh!«, sagte Tante Petunia. »Das Fenster steht offen!«

»Oh - ja - Verzeihung, Liebling.«

Die Dursleys verstummten. Harry lauschte einem Werbesong für Obst-und-Kleie-Frühstücksflocken, während er Mrs. Figg, eine schrullige alte Dame aus dem nahen Glyzinenweg, langsam vorbeitappen sah. Sie blickte finster drein und murmelte vor sich hin. Harry war sehr froh, dass er hinter dem Busch versteckt lag, weil Mrs. Figg ihn seit kurzem jedes Mal wenn sie ihn auf der Straße traf, zu sich nach Hause zum Tee einlud. Sie war um die Ecke gebogen und verschwunden, als Onkel Vernons Stimme erneut aus dem Fenster schwebte.

»Duddy ist zum Tee eingeladen?«

»Bei den Polkissens«, sagte Tante Petunia liebevoll. »Er hat so viele kleine Freunde, beliebt, wie er ist ...«

Mit Mühe verkniff sich Harry ein Schnauben. Die Dursleys waren wirklich erstaunlich dumm, wenn es um ihren Sohn Dudley ging. All seine fadenscheinigen Lügen, er wäre jeden Abend der Sommerferien bei einem anderen Typen aus seiner Gang zum Tee, hatten sie geschluckt. Harry wusste genau, dass Dudley nirgends zum Tee war; er und seine Gang verbrachten jeden Abend damit, den Spielplatz im Park zu demolieren, an Straßenecken zu rauchen und Steine auf vorbeikommende Autos und Kinder zu werfen. Harry hatte sie während seiner abendlichen Streifzüge durch Little Whinging dabei beobachtet; er hatte den größten Teil der Ferien damit verbracht, durch die Straßen zu ziehen und unterwegs Zeitungen aus den Mülleimern zu klauben.

Als die ersten Töne der Melodie für die Sieben-Uhr-Nachrichten an Harrys Ohr drangen, drehte sich ihm der Magen um. Vielleicht heute Abend - nachdem er einen Monat gewartet hatte -, vielleicht war es heute so weit.

»Während der Streik der spanischen Gepäckabfertiger in die zweite Woche geht, sitzen so viele Urlauber wie noch nie auf den Flughäfen fest -«

»Denen würde ich eine lebenslange Siesta verpassen, wenn du mich fragst«, knurrte Onkel Vernon, kaum dass der Sprecher den Satz vollendet hatte, und doch: Draußen im Blumenbeet schien sich Harrys Magen wieder zu entspannen.

Wenn irgendetwas passiert wäre, dann hätten sie es sicher als Erstes in den Nachrichten gebracht; Tod und Zerstörung waren wichtiger als gestrandete Urlauber.

Er atmete lange und ruhig aus und blickte in den strahlend blauen Himmel.

Diesen Sommer war es Tag für Tag das Gleiche gewesen: die Spannung, die Erwartung, die zeitweilige Erleichterung und dann erneut die wachsende Spannung ... und stets drängender die Frage, warum noch nichts passiert war.

Er lauschte weiter, nur für den Fall, dass es einen kleinen Hinweis gab, dessen ganze Bedeutung den Muggeln entging - ein rätselhaftes Verschwinden vielleicht, oder ein merkwürdiger Unfall ... aber dem Streik der Gepäckabfertiger folgte eine Meldung über die Dürre im Südosten Englands (»Hoffentlich hört der nebenan zu!«, bellte Onkel Vernon. »Der mit seinen Sprinklern, die er um drei Uhr morgens anstellt!«), dann über einen Hubschrauber, der beinahe über einem Feld in Surrey abgestürzt war, schließlich über die Scheidung einer prominenten Schauspielerin von ihrem prominenten Mann (»Als ob wir an deren schmutzigen Affären interessiert wären«, naserümpfte Tante Petunia, die diesen Fall in jeder Illustrierten, die ihr unter die knochigen Finger kam, gebannt verfolgte).

Harry schloss die Augen vor dem jetzt flammenden Abendhimmel, während der Sprecher sagte: »— und schließlich hat Wally der Wellensittich sich etwas Neues einfallen lassen, wie er sich diesen Sommer abkühlen kann. Wally, der auf den Five Feathers in Barnsley lebt, hat Wasserski gelernt! Mary Dorkins hat sich dort für Sie umgeschaut.«

Harry öffnete die Augen. Wenn sie schon bei Wasserski fahrenden Wellensittichen waren, würde nichts Hörenswertes mehr kommen. Er drehte sich vorsichtig auf den Bauch und stemmte sich auf Knie und Ellbogen, um unter dem Fenster wegzukriechen.

Er hatte sich gerade mal fünf Zentimeter bewegt, als mehrere Dinge in sehr rascher Folge passierten.

Ein lauter, widerhallender Knall zerriss die schläfrige Stille wie ein Pistolenschuss; eine Katze sauste unter einem geparkten Wagen hervor und stob davon; ein spitzer Schrei, ein gellender Fluch und das Geräusch von zerbrechendem Porzellan drangen aus dem Wohnzimmer der Dursleys. Als sei dies das Signal, auf das Harry gewartet hatte, schnellte er hoch und zog einen dünnen hölzernen Zauberstab aus seinem Jeansbund wie ein Schwert aus der Scheide - doch bevor er sich ganz aufrichten konnte, krachte er mit der Schädeldecke gegen das offene Fenster der Dursleys. Es rumste und Tante Petunia kreischte noch lauter.

Harry hatte das Gefühl, als wäre sein Kopf entzweigespalten. Schwankend, mit tränenden Augen, versuchte er den Blick auf die Straße zu richten, um die Quelle des Lärms auszumachen, doch kaum hatte er sich stolpernd erhoben, langten zwei große, purpurrote Hände durchs offene Fenster und schlossen sich fest um seine Kehle.

»Tu - das - Ding - weg!«, schnarrte Onkel Vernon in Harrys Ohr. »Sofort! Bevor - es - jemand - sieht!«


»Lass - mich - los!«, keuchte Harry. Einige Sekunden lang rangen sie miteinander. Harry, der mit der rechten Hand den erhobenen Zauberstab fest umklammerte, zog mit der linken an den Wurstfingern seines Onkels; dann, in dem Moment, als der Schmerz an Harrys Schädeldecke besonders fies pochte, japste Onkel Vernon plötzlich und ließ Harry los, als ob er einen elektrischen Schlag bekommen hätte. Eine unsichtbare Kraft schien durch seinen Neffen pulsiert zu sein, so dass er ihn unmöglich weiter festhalten konnte.

Keuchend fiel Harry bäuchlings über den Hortensienbusch, richtete sich auf und spähte umher. Was den lauten Knall verursacht haben könnte, war nicht im Entferntesten zu erkennen, aber inzwischen lugten Gesichter aus einigen Fenstern in der Nachbarschaft. Harry steckte hastig seinen Zauberstab in die Jeans und versuchte, eine Unschuldsmiene aufzusetzen.

»Wunderbarer Abend!«, rief Onkel Vernon und winkte Mrs. Nummer sieben von gegenüber zu, die durch ihre Netzvorhänge böse herüberfunkelte. »Haben Sie eben diesen Auspuffknall gehört? Hat Petunia und mir einen schönen Schreck eingejagt!«

Er grinste unentwegt auf schreckliche, besessene Art umher, bis all die neugierigen Nachbarn von ihren Fenstern verschwunden waren, dann winkte er Harry zu sich heran, und aus dem Grinsen wurde eine wutentbrannte Grimasse.

Harry trat ein paar Schritte näher und achtete darauf, kurz vor dem Punkt Halt zu machen, an dem Onkel Vernons ausgestreckte Hände ihn wieder würgen konnten.

»Was zum Teufel soll das, Bursche?«, fragte Onkel Vernon mit heiserer, vor Wut zitternder Stimme.

»Was soll was?«, sagte Harry kühl. Er blickte unablässig links und rechts die Straße entlang, immer noch in der Hoffnung herauszufinden, von wem der Knall stammte.

»Einen Lärm machen, als ginge eine Pistole los, und das direkt vor unserem -«

»Den Lärm hab ich nicht gemacht«, sagte Harry entschieden.

Neben Onkel Vernons breitem, puterrotem Gesicht tauchte jetzt Tante Petunias schmales Pferdegesicht auf. Sie war aschgrau.

»Warum hast du unter unserem Fenster herumgelungert?«

»Ja - ja, gute Frage, Petunia! Was hast du unter unserem Fenstergetrieben, Bursche?«

»Die Nachrichten gehört«, sagte Harry mit resignierter Stimme.

Tante und Onkel tauschten empörte Blicke.


»Die Nachrichten gehört! Schon wieder?«

»Na ja, es gibt doch jeden Tag neue, oder?«, sagte Harry.

»Spiel mir hier nicht den Neunmalklugen, Bursche! Ich will wissen, was du wirklich im Schilde führst - und hör mir bloß auf mit diesem Quatsch von wegen die Nachrichten hören! Du weißt genau, dass deine Sippschaft -«

»Vorsicht, Vernon!«, hauchte Tante Petunia, und Onkel Vernon senkte die Stimme, bis Harry ihn kaum noch hören konnte - »dass deine Sippschaft nicht in unsere Nachrichten kommt!«

»Das meinst du wohl«, sagte Harry.

Die Dursleys glotzten ihn ein paar Sekunden an, dann schimpfte Tante Petunia: »Du bist ein gemeiner kleiner Lügner. Was treiben denn all diese -«, auch sie senkte die Stimme, so dass Harry das nächste Wort von ihren Lippen ablesen musste, »- Eulen hier, wenn sie dir keine Nachrichten bringen?«

»Aha!«, flüsterte Onkel Vernon triumphierend. »Jetzt lass dir dazu mal eine Ausrede einfallen, Bursche! Als ob wir nicht wüssten, dass du deine ganzen Nachrichten von diesen ekelhaften Vögeln bekommst!«

Harry zögerte einen Moment. Es kostete ihn einige Überwindung, diesmal die Wahrheit zu sagen, obwohl Onkel und Tante unmöglich wissen konnten, wie schlimm es für ihn war, sie einzugestehen.

»Die Eulen ... bringen mir keine Nachrichten«, antwortete er tonlos.

»Das glaub ich nicht«, sagte Tante Petunia sofort.

»Und ich auch nicht«, bestätigte Onkel Vernon.

»Wir wissen, dass du irgendein krummes Ding vorhast«, sagte Tante Petunia.

»Wir sind schließlich nicht blöde, verstehst du«, sagte Onkel Vernon.

»Na, das ist ja mal 'ne Neuigkeit«, erwiderte Harry mit anschwellendem Zorn, und bevor die Dursleys ihn zurückrufen konnten, wirbelte er herum, lief über den Rasen, sprang über die niedrige Gartenmauer und ging mit großen Schritten die Straße entlang davon.

Das gab Ärger, so viel war sicher. Er würde Onkel und Tante später Rede und Antwort stehen und für seine Frechheit bezahlen müssen, doch fürs Erste war ihm das ziemlich schnuppe; er hatte viel dringendere Angelegenheiten im Kopf.

Harry war sich sicher, dass der Knall von jemandem herrührte, der appariert oder disappariert war. Es war genau das Geräusch, das Dobby der Hauself machte, wenn er ins Blaue hinein verschwand. Konnte Dobby denn hier im Ligusterweg sein? Folgte ihm Dobby vielleicht genau in diesem Moment? Bei diesem Gedanken schnellte er herum und spähte zurück, doch der Ligusterweg schien vollkommen ausgestorben, und Harry war sicher, dass Dobby nicht wusste, wie man sich unsichtbar machte.

Er ging weiter und achtete dabei kaum auf den Weg, den er einschlug, denn er hatte diese Straßen in letzter Zeit so oft durchstreift, dass ihn seine Füße wie von allein zu seinen Lieblingsplätzen trugen. Alle paar Schritte warf er einen Blick über die Schulter. Ein magisches Wesen hatte sich in seiner Nähe aufgehalten, als er zwischen Tante Petunias sterbenden Begonien gelegen hatte, das war sicher.

Warum hatte es ihn nicht angesprochen, warum hatte es keine Verbindung aufgenommen, warum versteckte es sich jetzt?

Und dann, als seine Enttäuschung ihren Höhepunkt erreicht hatte, schwand plötzlich diese Gewissheit.

Vielleicht war es doch kein magisches Geräusch gewesen. Vielleicht wartete er nur so verzweifelt auf das kleinste Zeichen aus einer Welt, in die er gehörte, dass er bei ganz gewöhnlichen Geräuschen einfach überreagierte. Konnte er sicher sein, dass der Lärm nicht daher rührte, dass in einem Nachbarhaus etwas zu Bruch gegangen war?

Harry hatte ein dumpfes, flaues Gefühl im Magen, und unversehens überfiel ihn wieder die Hoffnungslosigkeit, die ihn den ganzen Sommer über geplagt hatte.

Morgen früh um fünf würde der Wecker ihn aus dem Schlaf reißen, damit er die Eule bezahlen konnte, die ihm den Tagespropheten brachte - aber hatte es noch einen Zweck, ihn weiter zu beziehen? Harry schaute dieser Tage nur kurz auf die Titelseite und warf ihn dann beiseite; wenn diese Trottel von der Zeitung endlich erkannt hatten, dass Voldemort zurück war, würde das Schlagzeilen machen, und nur solche Nachrichten scherten Harry.

Zwar kamen, wenn er Glück hatte, auch Eulen mit Briefen von seinen besten Freunden Ron und Hermine, aber all seine Erwartungen, dass ihre Briefe Neuigkeiten für ihn enthalten würden, waren schon lange zunichte.

Wir können nicht viel über Du-weißt-schon-was sagen, verstehst du ... Man hat uns gesagt, dass wir nichts Wichtiges schreiben dürfen, falls unsere Briefe in die falschen Hände gelangen ... Wir sind ziemlich beschäftigt, aber ich kann dir hier nichts Genaues schreiben ...Es geht einiges ab, wir erzählen dir alles, wenn wir dich treffen ...

Aber wann würden sie ihn treffen? Niemand schien sich groß um einen festen Termin zu kümmern. Ich denke, wir besuchen dich ziemlich bald, hatte Hermine auf seine Geburtstagskarte geschrieben, aber wie bald war bald? Soviel Harry aus den vagen Hinweisen in ihren Briefen schließen konnte, waren Hermine und Ron am selben Ort, vermutlich im Haus von Rons Eltern. Er konnte es kaum ertragen, daran zu denken, wie die beiden im Fuchsbau ihren Spaß hatten, während er im Ligusterweg festsaß. Tatsächlich war er so sauer auf sie, dass er die beiden Schachteln mit Schokolade aus dem Honigtopf, die sie ihm zum Geburtstag geschickt hatten, ungeöffnet weggeworfen hatte. Später hatte er es bereut, nach dem welken Salat, den Tante Petunia am selben Abend noch zum Essen aufgetischt hatte.

Womit waren Ron und Hermine eigentlich so beschäftigt? Und warum war er, Harry, nicht beschäftigt? Hatte er nicht bewiesen, dass er mit viel mehr fertig werden konnte als sie? Hatten sie alle vergessen, was er getan hatte? War es nicht er gewesen, der diesen Friedhof betreten und gesehen hatte, wie Cedric ermordet wurde, und der an diesen Grabstein gefesselt wurde und fast umgebracht worden wäre?

Denk nicht drüber nach, ermahnte sich Harry streng und zum hundertsten Mal in diesem Sommer. Schlimm genug, dass er den Friedhof in seinen Alpträumen immer wieder besuchte, da brauchte er in seinen wachen Momenten nicht auch noch darüber nachzubrüten.

Er bog um eine Ecke und war nun auf dem Magnolienring; auf halbem Weg die Straße entlang kam er an der schmalen Gasse vorbei, die an einer Garage entlangführte und in der er zum ersten Mal seinen Paten gesehen hatte. Sirius zumindest schien zu verstehen, wie Harry sich fühlte. Zugegeben, seine Briefe enthielten ebenso wenig handfeste Neuigkeiten wie die von Ron und Hermine, aber wenigstens schrieb er ihm zur Vorsicht mahnende und tröstende Worte statt quälender Andeutungen: Ich weiß, das muss frustrierend für dich sein ... Halt die Ohren steif dann wird schon alles gut gehen ... Sei vorsichtig und tu nichts Unbesonnenes ...

Immerhin, dachte Harry, während er den Magnolienring überquerte, in die Magnolienstraße einbog und auf den nun schon im Dunkeln liegenden Park mit dem Spielplatz zuging, immerhin hatte er (im Wesentlichen) befolgt, was Sirius ihm geraten hatte. Zumindest hatte er der Versuchung widerstanden, den Koffer an seinen Besen zu binden und sich auf eigene Faust auf die Reise zum Fuchsbau zu machen. Im Grunde hatte er sich sehr gut verhalten, wenn er überlegte, wie enttäuscht und zornig er darüber war, so lange im Ligusterweg festzusitzen, wo er nichts weiter unternehmen konnte, als sich in Blumenbeeten zu verstecken, in der Hoffnung, einen Hinweis darauf zu erlauschen, was Lord Voldemort gerade machte. Dennoch wurmte es ihn, dass ihn ausgerechnet ein Mann vor Unbesonnenheiten warnte, der zwölf Jahre im Zauberergefängnis von Askaban gesessen hatte, der entkommen war, daraufhin den Mord begehen wollte, für den man ihn ursprünglich verurteilt hatte, und schließlich mit einem gestohlenen Hippogreif geflohen war.


Harry schwang sich über das geschlossene Parktor und überquerte den verdorrten Rasen. Der Park war so menschenleer wie die Straßen in der Nachbarschaft. Er erreichte die Schaukeln und ließ sich auf einer davon nieder, der letzten, die Dudley und seine Freunde noch nicht demoliert hatten, schlang einen Arm um die Kette und starrte trübsinnig auf die Erde. Im Blumenbeet der Dursleys würde er sich nicht mehr verstecken können. Morgen musste er sich etwas Neues einfallen lassen, wie er die Nachrichten hören konnte. Bis dahin hatte er nichts, auf das er sich freuen konnte, nur eine weitere unruhige, sorgenvoll durchwälzte Nacht, denn selbst wenn er von Alpträumen um Cedric verschont blieb, plagten ihn schreckliche Träume von langen schwarzen Korridoren, die alle an Mauern und verschlossenen Türen endeten, was, wie er vermutete, etwas zu tun hatte mit dem Gefühl, in der Falle zu sitzen, das ihn am Tage quälte. Seine alte Stirnnarbe ziepte oft unangenehm, aber Ron oder Hermine oder Sirius, da machte er sich nichts vor, würden dies nicht mehr sonderlich spannend finden. Früher hatten ihn die Narbenschmerzen gewarnt, wenn Voldemort wieder stärker wurde, doch nun, da Voldemort zurückgekehrt war, würden seine Freunde ihm wohl nur zu verstehen geben, dass es sie nicht überraschte, wenn die Narbe ständig gereizt war ... kein Grund zur Sorge ...

Schnee von gestern ...

Das Gefühl, wie ungerecht das alles war, staute sich in ihm auf, und er hätte am liebsten vor Wut geschrien. Wenn er nicht gewesen wäre, hätte überhaupt niemand erfahren, dass Voldemort zurück war! Und zur Belohnung saß er vier geschlagene Wochen lang in Little Whinging, völlig abgeschnitten von der magischen Welt, dazu verurteilt, zwischen welken Begonien zu kauern, nur um Neuigkeiten über Wasserski fahrende Wellensittiche zu hören. Wie konnte Dumbledore ihn nur einfach so vergessen? Wieso hatten Ron und Hermine sich getroffen, ohne ihn einzuladen? Wie lange noch musste er sich von Sirius sagen lassen, er solle die Ohren steif halten und ein braver Junge sein; oder der Versuchung widerstehen, an den blöden Tagespropheten zu schreiben und denen klar zu machen, dass Voldemort zurückgekehrt war? Solch wilde Gedanken wirbelten durch Harrys Kopf, und seine Eingeweide verknoteten sich vor Zorn, während eine schwüle, samtene Nacht sich über ihn senkte, in der die Luft schwer war vom Geruch warmen, trockenen Grases und einzig das leise Rauschen des Verkehrs auf der Straße hinter den Parkgittern zu hören war.

Er wusste nicht, wie lange er auf der Schaukel gesessen hatte, als das Geräusch von Stimmen seine Grübeleien unterbrach und er aufblickte. Die Laternen der angrenzenden Straßen spendeten dunstiges Licht, stark genug, um die Umrisse einer Gruppe von Leuten hervortreten zu lassen, die auf dem Weg durch den Park waren. Einer von ihnen sang ein lautes und wüstes Lied. Die anderen lachten. Ein leises Ticken kam von mehreren teuren Rennrädern, die sie mit sich schoben.

Harry wusste, wer diese Leute waren. Die Gestalt vorne war unverkennbar sein Cousin Dudley Dursle y auf dem Weg nach Hause, begleitet von seiner treuen Gang.

Dudley hatte so gewaltige Maße wie eh und je, doch ein Jahr strenger Diät und die Entdeckung eines neuen Talents hatten seine Statur deutlich verändert. Wie Onkel Vernon allen, die es hören wollten, entzückt erzählte, war Dudley vor kurzem bei den Schulmeisterschaften im Südwesten der Boxchampion im Juniorenschwergewicht geworden. »Der edle Sport«, wie Onkel Vernon ihn nannte, hatte aus Dudley eine noch furchterregendere Gestalt gemacht, als er es zu Harrys Grundschulzeit gewesen war, wo er als Dudleys erster Punchingball hatte herhalten müssen. Harry hatte nicht die geringste Angst mehr vor seinem Cousin, doch wollte er trotzdem nicht glauben, dass ein Dudley, der lernte, noch härter und gezielter zuzuschlagen, ein Grund zum Feiern sein sollte. In der ganzen Nachbarschaft hatten die Kinder fürchterliche Angst vor ihm - sogar mehr noch als vor »diesem Potter-Jungen«, der, wie man sie gewarnt hatte, ein abgebrühter Hooligan war und ins St.-Brutus-Sicherheitszentrum für unheilbar kriminelle Jungen ging.

Harry beobachtete, wie die dunklen Gestalten den Rasen überquerten, und fragte sich, wen sie heute Abend verprügelt hatten. Schaut euch um, fuhr es Harry unwillkürlich durch den Kopf, während er ihnen mit den Augen folgte. Kommt schon ... schaut euch um ... ich sitze hier ganz allein ... kommt und zeigt's mir ...

Wenn Dudleys Freunde ihn hier sitzen sähen, würden sie sicher geradewegs auf ihn losgehen, und was würde Dudley dann tun? Vor seiner Gang wollte er gewiss nicht das Gesicht verlieren, aber er würde schreckliche Angst haben, Harry zu provozieren ... wie herrlich es wäre, Dudley so hin- und hergerissen zu sehen, ihn zu reizen, zu beobachten, wie er die Kraft nicht aufbrachte, ihm etwas entgegenzusetzen ... und falls einer der anderen versuchte, Harry zu schlagen, war er vorbereitet - er hatte seinen Zauberstab. Sollten sie doch kommen ... liebend gern würde er ein wenig von seinem Frust an den Jungen auslassen, die sein Leben einst zur Hölle gemacht hatten.

Aber sie drehten sich nicht um, sie sahen ihn nicht, hatten fast schon das Gitter erreicht. Harry bezwang den Impuls, ihnen nachzurufen ... eine Schlägerei anzuzetteln, war nicht klug ... er durfte seine magischen Kräfte nicht einsetzen ...

er würde wieder einmal den Rauswurf riskieren.

Die Stimmen von Dudleys Gang erstarben; die Jungen waren außer Sicht, auf dem Weg die Magnolienstraße entlang.

Da siehst du's mal, Sirius, dachte Harry dumpf. Nichts Unbesonnenes. Hab die Ohren steif gehalten. Genau das Gegenteil von dem, was du getan hättest.

Er hüpfte von der Schaukel und streckte sich. Tante Petunia und Onkel Vernon schienen der Meinung, wann auch immer Dudley auftauchte, sei die richtige Zeit, um nach Hause zu kommen, und alles danach sei viel zu spät. Onkel Vernon hatte gedroht, Harry im Schuppen einzusperren, wenn er je wieder nach Dudley heimkam, und so unterdrückte Harry ein Gähnen und machte sich mit immer noch finsterer Miene auf den Weg zum Parktor.

Die Magnolienstraße war wie der Ligusterweg gesäumt von großen, wuchtigen Häusern mit tadellos manikürten Rasenstücken, alle von dicken, vierschrötigen Eigenheimbesitzern gemäht, die sehr saubere Autos ähnlich dem von Onkel Vernon fuhren. Harry war Little Whinging am Abend lieber, wenn die gardinenbewehrten Fenster juwelenhelle Farbflecke in die Dunkelheit tupften und er nicht Gefahr lief, missbilligendes Murmeln über seine »Sträflingserscheinung«

zu hören, wenn er an den Hausbesitzern vorbeikam. Er ging rasch, so dass auf halber Strecke durch die Magnolienstraße Dudleys Gang wieder in Sicht kam; sie verabschiedeten sich an der Einmündung zum Magnolienring. Harry trat in den Schatten eines großen Fliederbusches und wartete.

»... hat gequiekt wie 'ne Sau, was?«, sagte Malcolm unter dem schallenden Gelächter der anderen.

»Hübscher rechter Haken, Big D«, sagte Piers.

»Morgen selbe Zeit?«, sagte Dudley.

»Dann bei mir, meine Eltern gehen aus«, sagte Gordon.

»Also bis dann«, sagte Dudley.

»Tschüss, Dud!«

»Wir sehn uns, Big D!«

Harry blieb noch stehen, bis der Rest der Gang weitergelaufen war. Als ihre Stimmen wieder leiser geworden waren, bog er um die Ecke in den Magnolienring, und da er sehr rasch ging, kam er bald in Rufweite zu Dudley, der selbstzufrieden einherschlenderte und melodielos vor sich hin summte.

»Hey, Big D!«

Dudley drehte sich um.

»Oh«, grunzte er. »Du bist's.«

»Seit wann bist du eigentlich ›Big D‹?«, sagte Harry.

»Klappe«, raunzte Dudley und wandte sich ab.

»Cooler Name«, sagte Harry grinsend und holte seinen Cousin ein. »Aber für mich wirst du immer der ›putzige Duddywutz‹ sein.«

»KLAPPE, hab ich gesagt!«, blaffte Dudley, die schinkengleichen Hände zu Fäusten geballt.

»Wissen die Jungs nicht, dass deine Mami dich so nennt?«

»Halt die Fresse.«

»Du sagst ihr doch auch nicht, dass sie die Fresse halten soll. Was ist mit ›Mausebär‹ und ›süßer Duddymatz‹, darf ich dich auch so nennen?«

Dudley sagte nichts. Die Anstrengung, sich zu zwingen, Harry nicht zu schlagen, schien all seine Selbstbeherrschung zu erfordern.

»Und wen hast du heute Abend verprügelt?«, fragte Harry und sein Grinsen schwand. »Wieder einen Zehnjährigen? Vorgestern hast du's Mark Evans besorgt, das weiß ich -«

»Er hat's nicht anders gewollt«, schnarrte Dudley.

»Ach ja?«

»Ist frech geworden.«

»Jaah? Hat er gesagt, du siehst aus wie ein Schwein, dem man beigebracht hat, auf den Hinterbeinen zu laufen? Das ist aber nicht frech, das ist die Wahrheit.«

An Dudleys Kinnlade zuckte ein Muskel. Er war wütend und Harry sah es mit enormer Genugtuung; ihm war, als würde er allen Ärger an seinem Cousin auslassen, dem Einzigen, der dafür herhalten konnte.

Sie bogen nach rechts in die Abkürzung zwischen Magnolienring und Glyzinenweg ein, in die schmale Gasse, wo Harry Sirius zum ersten Mal gesehen hatte. Sie war menschenleer und dunkler als die Straßen, die sie verband, denn es gab keine Laternen. Garagenwände auf der einen, ein hoher Zaun auf der anderen Seite dämpften das Geräusch ihrer Schritte.

»Kommst dir wohl mächtig stark vor mit dem Ding, das du rumträgst, stimmt's?«, sagte Dudley nach einigen Sekunden.

»Welchem Ding?«

»Diesem - diesem Ding, das du versteckt hältst.«

Harry grinste erneut.

»Nicht so doof, wie du aussiehst, was, Dud? Aber wenn du's wärst, glaub ich, könntest du nicht gleichzeitig gehen und reden.«

Harry zog seinen Zauberstab. Er sah, wie Dudley ihn scheel beäugte.

»Das darfst du nicht«, sagte Dudley prompt. »Ich weiß es. Die werfen dich aus dieser Beklopptenschule, auf die du gehst.«


»Woher willst du wissen, dass sie die Vorschriften nicht geändert haben, Big D?«

»Haben sie nicht«, sagte Dudley, obwohl er dabei nicht vollkommen überzeugt klang.

Harry lachte leise.

»Du hast doch Schiss, es ohne dieses Ding mit mir aufzunehmen, oder?«, fauchte Dudley.

»Und du brauchst vier Kumpel hinter dir, bevor du einen Zehnjährigen verprügeln kannst. Dieser Boxtitel übrigens, mit dem du dauernd angibst - wie alt war dein Gegner? Sieben? Acht?«

»Er war sechzehn, wenn du's genau wissen willst«, fauchte Dudley, »und als ich mit dem fertig war, lag er noch zwanzig Minuten halb tot rum, und der war doppelt so schwer wie du. Wart nur, bis ich Dad erzähle, dass du dieses Ding rausgezogen hast -«

»Jetzt rennst du zu Daddy, was? Hat sein Putzi-Putzi-Boxchampion Angst vor Harrys bösem Zauberstab?«

»Nachts bist du nicht so mutig, stimmt's?«, höhnte Dudley.

»Es ist Nacht, Duddymatz. So nennt man es nämlich, wenn es überall dunkel wird wie jetzt.«

»Ich mein, wenn du im Bett bist!«, fauchte Dudley.

Er war stehen geblieben. Auch Harry blieb stehen und starrte seinen Cousin an.

Soweit er Dudleys breites Gesicht erkennen konnte, hatte er eine merkwürdig triumphierende Miene aufgesetzt.

»Was soll das heißen, ich bin nicht mutig, wenn ich im Bett bin?«, sagte Harry völlig verdutzt. »Wovor soll ich Angst haben, vor Kissen vielleicht?«

»Ich hab dich gestern Nacht gehört«, sagte Dudley atemlos. »Hast im Schlaf geredet. Gejammert.«

»Was soll das heißen?«, sagte Harry erneut, doch mit einem kalten, flauen Gefühl im Magen. Gestern Nacht hatte er in seinen Träumen wieder den Friedhof besucht.

Dudley lachte harsch und belle nd auf und nahm eine spitze, wimmernde Stimme an.

»›Lass Cedric leben! Lass Cedric leben!‹ Wer ist Cedric - dein Freund?«


»Ich - du lügst«, sagte Harry unwillkürlich. Doch sein Mund war trocken geworden. Dudley log nicht, das wusste er - wie sonst konnte er von Cedric erfahren haben?

»›Dad! Hilf mir, Dad! Er wird mich umbringen, Dad! Uuh huu!‹«

»Hör auf«, sagte Harry leise. »Hör auf, Dudley, ich warne dich!«

»›Komm und hilf mir, Dad! Mum, komm und hilf mir! Er hat Cedric getötet! Dad, hilf mir! Er wird mich -‹ Nimm das Ding runter!«

Dudley wich an die Mauer der Gasse zurück. Harry richtete den Zauberstab direkt auf Dudleys Herz. Er konnte vierzehn Jahre Hass auf Dudley in seinen Adern hämmern spüren - was würde er nicht dafür geben, jetzt zuzuschlagen, Dudley so gründlich durchzuhexen, dass er wie ein Insekt nach Hause krabbeln musste, stumm und blind geschlagen, mit ausgestreckten Fühlerchen ...

»Fang nie wieder davon an«, fauchte Harry. »Hast du mich verstanden?«

»Halt das Ding woandershin!«

»Ich hab gesagt, hast du mich verstanden?«

»Halt es woandershin!«

»HAST DU MICH VERSTANDEN?«

»TU DAS DING WEG -«

Dudley keuchte, eigenartig schaudernd, als wäre er in Eiswasser getaucht worden.

Etwas war mit der Nacht geschehen. Der sternübersäte indigoblaue Nachthimmel war plötzlich pechschwarz und lichtlos - die Sterne, der Mond, die dunstigen Straßenlichter zu beiden Enden der Gasse waren verschwunden. Das ferne Rauschen der Autos und das Flüstern der Bäume waren verstummt. Der milde Abend war plötzlich stechend und be ißend kalt. Sie waren von völliger, undurchdringlicher, stiller Dunkelheit umgeben, als hätte ein Riese einen dicken, eiskalten Mantel über die ganze Gasse geworfen, der ihnen jegliche Sicht nahm.

Für den Bruchteil einer Sekunde dachte Harry, er hätte versehentlich gezaubert, obwohl er das Verlangen mit aller Kraft unterdrückt hatte - dann zog sein Verstand mit seinen Sinnen gleich - er hatte nicht die Macht, die Sterne zum Erlöschen zu bringen. Er drehte den Kopf hin und her und versuchte, etwas zu erkennen, doch die Dunkelheit drückte auf seine Augen wie ein schwereloser Schleier.

Dudleys angsterfüllte Stimme drang in Harrys Ohr.

»W-was machst du d-da? Hö-hör auf d-damit!«


»Ich mach gar nichts! Sei still und beweg dich nicht!«

»Ich k-kann nichts sehen! Ich b-bin blind! Ich -«

»Still, hab ich gesagt!«

Harry stand stocksteif da und wandte seine blinden Augen nach links und nach rechts. Die Kälte war so heftig, dass er am ganzen Leib zitterte; eine Gänsehaut kroch ihm über die Arme, und seine Nackenhaare sträubten sich - er riss die Augen auf, so weit er konnte, und starrte leer und blind umher.

Es war unmöglich ... sie konnten nicht hier sein ... nicht in Little Whinging ...

er lauschte angestrengt... er würde sie hören, bevor er sie sah ...

»Ich s-sag's Dad!«, wimmerte Dudley. »W-wo bist du? Was machst d-du da -

»Hältst du endlich die Klappe?«, zischte Harry. »Ich versuch was zu hö-«

Doch er verstummte. Er hatte genau das gehört, wovor es ihn gegraust hatte.

Außer ihnen war da noch etwas in dieser Gasse, etwas, das lange, heisere, rasselnde Atemzüge tat. Harry, der zitternd in der eisigen Luft stand, spürte, wie ihn eine grauenhafte Angst durchfuhr.

»L-lass das sein! H-hör auf damit! Ich h-hau dich, ich schwör's!«

»Dudley, halt die -«

WUMM.

Eine Faust traf Harry seitlich am Kopf und riss ihn von den Füßen. Kleine weiße Lichter tauchten vor seinen Augen auf. Zum zweiten Mal in einer Stunde hatte Harry das Gefühl, sein Kopf wäre mittendurch gespalten; im nächsten Moment schlug er hart auf dem Boden auf und der Zauberstab flog ihm aus der Hand.

»Du Schwachkopf, Dudley!«, schrie Harry. Tränen schossen ihm in die Augen vor Schmerz, während er sich auf Hände und Knie hochrappelte und hektisch in der schwarzen Dunkelheit umhertastete. Er hörte Dudley davonstolpern, gegen den Zaun stoßen, taumeln.

»DUDLEY, KOMM ZURÜCK! DU LÄUFST GENAU DRAUF ZU!«

Ein fürchterlicher, quietschender Schrei war zu hören und Dudleys Schritte hielten inne. Im selben Moment spürte Harry eine kriechende Kälte hinter sich, die nur eines bedeuten konnte. Da war mehr als einer.

»DUDLEY, MACH NICHT DEN MUND AUF! WAS IMMER DU TUST, MACH NICHT DEN MUND AUF! Zauberstab!«, murmelte Harry hektisch, seine Hände huschten über den Boden wie Spinnen. »Wo ist - Zauberstab -komm schon - lumos!«

Er sprach das Za uberwort unwillkürlich aus, so verzweifelt brauchte er Licht, das ihm bei der Suche half - und zu seiner ungläubigen Erleichterung flammte nicht weit von seiner rechten Hand entfernt Licht auf- die Spitze des Zauberstabs leuchtete. Harry klaubte ihn auf, rappelte sich hoch und blickte hinter sich.

Ihm drehte sich der Magen um.

Eine mächtige Gestalt, in einen Kapuzenumhang gehüllt, unter dem weder Füße noch Gesicht zu erkennen waren, glitt sanft über den Boden schwebend auf ihn zu und sog die Nacht in sich ein.

Harry stolperte zurück und hob den Zauberstab.

»Expecto patronum!«

Ein silbriger Dunstfaden schoss aus der Spitze des Zauberstabs und der Dementor wurde langsamer, doch der Zauber hatte nicht richtig gewirkt. Der Dementor neigte sich zu Harry hinunter, und Harry wich, über seine eigenen Füße strauchelnd, weiter zurück, während Panik ihm das Gehirn vernebelte -

konzentrier dich -

Ein graues, schleimiges, schorfiges Paar Hände glitt aus dem Umhang des Dementors hervor und langte nach ihm. Ein Rauschen erfüllte Harrys Ohren.

»Expecto patronum!«

Seine Stimme klang matt und fern. Wieder schwebte ein Faden silbrigen Rauchs, schwächer als der letzte, aus dem Zauberstab - er konnte es nicht mehr, der Zauber gelang ihm nicht.

In seinem Kopf erklang ein Lachen, ein schrilles, überdrehtes Lachen ... er konnte den widerlichen, todeskalten Atem des Dementors riechen, der seine Lungen füllte, ihn ertränkte - denken ...an etwas Glückliches ...

Doch es war kein Glück in ihm ... die eisigen Finger des Dementors schlossen sich um seine Kehle - das schrille Lachen wurde immer lauter, eine Stimme sprach in seinem Kopf: »Verneige dich vor dem Tod, Harry ...er mag sogar schmerzlos sein ... ich kann es nicht wissen ... ich bin nie gestorben ...«

Er würde Ron und Hermine nie mehr sehen -

Und während er nach Atem rang, traten ihre Gesichter jäh und klar in sein Bewusstsein.

»EXPECTO PATRONUM!«

Ein gewaltiger silberner Hirsch brach aus der Spitze von Harrys Zauberstab hervor; seine Geweihenden trafen den Dementor dort, wo das Herz hätte sein sollen; er wurde zurückgestoßen, schwerelos wie die Dunkelheit, und als der Hirsch zum Angriff ansetzte, huschte der Dementor, fledermausgleich, geschlagen davon.

»DORTHIN!«, rief Harry dem Hirsch zu. Er wirbelte herum und rannte, den leuchtenden Stab erhoben, die Gasse entlang. »DUDLEY? DUDLEY!«

Er hatte kaum ein Dutzend Schritte getan, da war er schon bei ihm: Dudley lag zusammengerollt auf dem Boden, die Arme aufs Gesicht gedrückt. Ein zweiter Dementor kauerte dicht über ihm, umklammerte mit schleimigen Händen Dudleys Handgelenke, zog sie langsam, fast liebevoll auseinander und senkte seine Kapuze auf Dudleys Gesicht, als wollte er ihn küssen.

»PACK IHN!«, brüllte Harry, und mit rauschendem, donnerndem Lärm kam der silberne Hirsch, den er heraufbeschworen hatte, an ihm vorbeigaloppiert. Das augenlose Gesicht des Dementors war nur noch Zentimeter von Dudleys Gesicht entfernt, als das silberne Geweih ihn erfasste; das Wesen wurde in die Luft geschleudert, und wie sein Gefährte huschte es davon und verschmolz mit der Dunkelheit; der Hirsch lief in kurzem Galopp zum Ende der Gasse und löste sich in silbrigen Dunst auf.

Mond, Sterne und Straßenlaternen erwachten wieder zum Leben. Eine warme Brise strich durch die Gasse. Bäume raschelten in den benachbarten Gärten und das alltägliche Geräusch von Autos auf dem Magnolienring erfüllte wieder die Luft.

Harry stand vollkommen reglos da, mit vibrierenden Sinnen, und gewöhnte sich an die jäh zurückgekehrte Normalität. Nicht lange, dann wurde ihm bewusst, dass sein T-Shirt an ihm klebte; er war schweißnass.

Er konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Dementoren hier, in Little Whinging.

Dudley lag eingerollt auf dem Boden, wimmernd und zitternd. Harry beugte sich zu ihm hinunter, um zu sehen, ob er die Kraft hatte aufzustehen, doch dann hörte er laute, rennende Schritte hinter sich. Instinktiv hob er erneut den Zauberstab und wirbelte auf den Fersen herum, bereit, wem auch immer entgegenzutreten.

Mrs. Figg, ihre schrullige alte Nachbarin, kam, schwer atmend, in Sicht. Ihr grau meliertes Haar löste sich aus dem Haarnetz, ein klackerndes Einkaufsnetz schwang an ihrem Handgelenk und ihre Füße steckten mehr schlecht als recht in ihren schottengemusterten Puschen. Harry wollte seinen Zauberstab rasch verschwinden lassen, aber -

»Nicht wegstecken, du dummer Junge!«, kreischte sie. »Was, wenn noch mehr von denen in der Gegend sind? Oh, dieser Mundungus Fletcher, den bring ich um!«