"Der Brander: Admiral Bolitho im Kampf um die Karibik" - читать интересную книгу автора (Кент Александер)

II Der neue Bolitho

Kapitän Valentine Keen trat aus dem Schatten des Hüttendecks und schlenderte zu den Backwordwanten hinüber. Wohin ersah, war alles eifrig bei der Arbeit, auf dem Achterdeck, dem Batteriedeck und hoch oben in den Masten und Rahen.

Der wachhabende Offizier tippte grüßend an seinen Hut und schritt dann taktvoll zur anderen Decksseite hinüber. Wie alle an Bord bemühte er sich, einen stark beschäftigten Eindruck zu machen und sich vom Erscheinen des Kommandanten nicht über Gebühr ablenken zu lassen.

Keens Blicke wanderten über sein neues Schiff. Er hatte sich in seiner Gig schon rund um die Achates pullen lassen, hatte ihre Linien studiert und den Trimm, wie sie da so gelassen über ihrem schwarzbeige gestreiften Spiegelbild im Wasser ritt.

Seeklar. Es war die ureigenste Entscheidung des Kommandanten, ab wann dieser Zustand galt. Danach, wenn der Anker eingeschwungen und der Bug seewärts gerichtet war, gab es kein Zurück mehr.

Das Wetter war warm und feucht für Mai, und die schützenden Landzungen hüllten sich in leichten Dunst. Keen hoffte, daß trotzdem ein leichter Wind aufkommen würde. Denn Bolitho drängte bestimmt ungeduldig aufs Auslaufen, wollte dem Land den Rücken kehren, wenn auch aus anderen Gründen als Keen.

Er beschattete die Augen und spähte zum Fockmasttopp hinauf. Achates war noch nie unter Admiralsflagge gesegelt. Ob es das Schiff irgendwie verwandeln würde?

Keen trat zurück in den Schatten neben der Treppe zum Hüttendeck und beobachtete zufrieden das Treiben an Bord. Das Schiff machte einen guten Eindruck: solide, dauerhaft und in langen Jahren erprobt. Einige Offiziere hatten darauf schon als Kadetten gedient, und der harte Kern ihrer Unteroffiziere — sie bildeten das Rückgrat jedes Kriegsschiffes — gehörte seit Jahren zur Stammbesatzung.

Das Schiff strahlte Selbstvertrauen aus und den spürbaren Eifer, bald wieder in See zu stechen, bevor es das Schicksal so vieler anderer, stillgelegter Artgenossen teilen mußte. Keens altes Schiff, die Nicator mit 74 Kanonen, die sich vor Kopenhagen und später in der Biskaya ausgezeichnet hatte, war schon außer Dienst gestellt: überflüssig und unerwünscht geworden wie ihre Mannschaft, die sich so tapfer geschlagen hatte, als die Trommeln zur Schlacht riefen.

Achates' früherer Kommandant hatte sie sieben Jahre lang befehligt. Seltsam, daß er trotz dieser langen Zeit seinem Quartier keinen persönlichen Stempel aufgeprägt hatte. Vielleicht hatte er alles in die Mannschaft investiert. Die Leute machten einen zufriedenen Eindruck, auch wenn während der Überholung die übliche Zahl an Deserteuren zu verzeichnen gewesen war. Schließlich gab es Frauen, Kinder und Freundinnen an Land, die nach der langen Trennung fast nicht mehr wiederzuerkennen waren. Keen vermochte die Leute nur schwer dafür zu tadeln, daß einige dem Lockruf des Landes erlegen waren.

Mit einem Finger lockerte er sein Halstuch und beobachtete, wie ein Beiboot über das Schanzkleid geschwenkt und zu Wasser gelassen wurde. Wenn der Tag so warm blieb, mußten sie alle aussetzen und wässern, damit das Holz quoll und die Boote nicht undicht wurden.

Allmählich wurde sich Keen über seine Empfindungen klar. Er war froh, daß er auslaufen, mit Bolitho auslaufen konnte. Schon bei zwei Gelegenheiten hatte er auf anderen Schiffen unter ihm gedient, erst als Fähnrich, später als Dritter Offizier. Beide hatten sie geliebte Menschen verloren, aber während Bolitho nun geheiratet hatte, war Keen immer noch allein.

Er begann, über die Befehle nachzudenken, die ihm Bolitho vorab übersandt hatte.

Eine seltsame Mission. Einmalig und ungewöhnlich.

Sein Blick streifte die schwarze Reihe der Achtzehnpfünder an Steuerbord, deren Rohre wie vor einer Schlacht ausgefahren waren, damit die Segelmacher möglichst viel freie Decksfläche für ihre Arbeit bekamen.

Ob Krieg oder Frieden, ein Schiff mußte immer funktionstüchtig sein. Keen hatte auch zwischen den Kriegen unter Bolitho gedient und erfahren müssen, daß nur Toren einem unterzeichneten Friedensvertrag blind vertrauten.

Da hörte er Schritte im Niedergang und sah Leutnant Adam Pascoe an Deck kommen.

Immer wieder von neuem überrascht, stellte Keen fest, daß Pascoe Bolitho ähnelte wie ein jüngerer Bruder. Das gleiche schwarze Haar, auch wenn Pascoe es nach der neuen Marinemode kurzgeschnitten trug, nicht in einem Nackenzopf. Die gleiche Rastlosigkeit: eben noch ernst und in sich gekehrt, und gleich darauf voll jugendlichem Feuer. Kein Wunder mit 21 Jahren, dachte Keen. Trotzdem — ohne einen Krieg, der seinen Zoll an Menschenleben und Schiffen forderte, konnte Pascoe nur mit viel Glück auf Beförderung oder ein eigenes Kommando hoffen.

Er begrüßte den Flaggleutnant.»Nun, Mr. Pascoe, fanden Sie in der Admiralskajüte alles zu Ihrer Zufriedenheit?»

Pascoe lächelte.»Aye, Sir. Wir haben vier der achteren Achtzehn-pfünder abgebaut und durch Rohrattrappen ersetzt, damit er reichlich Platz findet.»

Keen warf einen Blick zum Hüttendeck hinauf.»Wie ich ihn kenne, wäre er auch mit zehn Schritten Auslauf zufrieden. Hauptsache, er kann irgendwo auf und ab marschieren, um sich beim Nachdenken Bewegung zu verschaffen.»

Scheinbar zusammenhanglos sagte Pascoe:»Ich sehe nicht ein, welchen Sinn unsere Mission hat, Sir. Wir haben gekämpft, bis der Feind eine Atempause brauchte, um sich zu erholen, und trotzdem hält es unsere Regierung für richtig, jetzt fast alle Besitzungen zurückzugeben, die wir den Franzosen abgerungen haben. Mit Ausnahme von Ceylon und Trinidad haben wir auf alles verzichtet und können uns nicht einmal dazu durchringen, Malta endgültig zu behalten. Jetzt geht auch San Felipe zum Teufel, und der Admiral muß diese schmutzige Arbeit sogar eigenhändig besorgen.»

Keen musterte den jungen Mann ernst.»Ein guter Rat, Mr. Pascoe. «Er sah Pascoe trotzig den Kopf heben, gewahrte das vertraute Aufbegehren in seinen Augen. Doch unbeirrt fuhr er fort:»In der Messe können Offiziere ihre privaten Ansichten frei diskutieren, vorausgesetzt, nichts davon kommt der Mannschaft zu Ohren. Aber das gilt nicht für den Kommandanten und den Flaggleutnant; wir müssen Zurückhaltung üben. Ich vermute, Ihr Wunsch. Ihrem Onkel zu dienen, war so stark, daß Sie diesen Posten eher um seinet- als um Ihretwillen übernommen haben?»

Keen sah an Pascoes Gesicht, daß er ins Schwarze getroffen hatte. Er setzte hinzu:»Der Auftrag eines Marineoffiziers unterscheidet sich gründlich von dem eines Adjutanten. Sie müssen diskret sein, sogar vorsichtig, denn es wird immer Zuhörer geben, die sich Ihr Vertrauen erschleichen wollen. «Er zögerte, sprach dann aber weiter, weil er es für wichtig hielt.»Manche könnten Ihrem Onkel übelwollen. Fällen Sie deshalb kein Urteil in Dingen, die Sie nicht ändern können. Andernfalls wäre es besser für Sie beide, wenn Sie sich umgehend an Land bringen ließen und den Hafenadmiral von Spithead um Ihre Versetzung bäten.»

Wieder lächelte Pascoe:»Ich danke Ihnen, Sir. Das habe ich verdient. Aber ich würde meinen Onkel niemals im Stich lassen, weder jetzt noch in Zukunft. Er bedeutet mir viel.»

Keen nahm den ungewöhnlichen Gefühlsausbruch des jungen Leutnants gelassen auf. Pascoes Geschichte war ihm größtenteils bekannt: unehelich geboren, war er der Sohn von Bolithos totem Bruder Hugh, einem Abtrünnigen und Verräter, der sich auf die Seite der amerikanischen Rebellen geschlagen und einen feindlichen Freibeuter befehligt hatte — mindestens ebenso kühn wie John Paul Jones. Für Bolitho mußte das eine große Belastung sein, und auch für diesen jungen Offizier, den seine sterbende Mutter ausgeschickt hatte, seinen einzigen Onkel zu suchen, als letzte Hoffnung auf eine bessere Zukunft.

Leise sagte Keen:»Ich verstehe schon. Vielleicht besser, als Sie glauben.»

Der Midshipman[2] der Wache hastete quer übers Deck auf sie zu und grüßte nervös. Keen erinnerte sich, daß auch er neu angemustert hatte.»Sir, da legt ein Boot von der Werft ab«, stammelte der Junge.

Keen spähte durch das Gitter der Webeleinen.

Ein werfteigenes Boot pullte bereits auf den verankerten Zweidecker zu. Keen sah Sonnenlicht von Goldepauletten und Zweispitz reflektieren und wurde von Panik gepackt. Typisch Bolitho, daß er es nicht abwarten konnte, bis ihn sein eigenes Boot abholen kam. Also hatte er es eilig, den Auftrag anzupacken, ob der ihm nun behagte oder nicht.

Mit unbewegtem Gesicht sagte er zu dem Jungen:»Empfehlung an den Offizier der Wache, Mr. - äh.«»Puxley, Sir.»

«Also, Mr. Puxley, pfeifen Sie die Ehrenwache an die Pforte. «Er packte den Jungen, der zur Achterdecksleiter rennen wollte, und fügte hinzu:»Gehen, Mr. Puxley, nicht rennen!»

Pascoe wandte sich ab, um ein Grinsen zu verbergen. Genau das hatte Bolitho wahrscheinlich zu Keen gesagt, als dieser noch ein kleiner Kadett gewesen war. Er selbst hatte es oft genug zu hören bekommen.

Als die Bootsmannsgehilfen durch die Decks eilten und ihre Pfeifen zwitschern ließen, stapften die Marinesoldaten zur Eingangspforte; ihre roten Uniformröcke mit den gekreuzten weißen Brustriemen leuchteten bunt aus dem Gewühl der Matrosen.

Keen winkte den wachhabenden Offizier heran und sagte unwirsch:»Vielleicht, Mr. Mountsteven, machen Sie sich künftig die Mühe, rechtzeitig nach Ihren Vorgesetzten Ausschau zu halten.»

Pascoe drückte den Hut fester auf sein rebellisches Haar. Auch das hätte Bolitho genauso gesagt.

Keen schritt zur Pforte und blickte dem Boot entgegen. Im Heck konnte er Bolitho sitzen sehen, den alten Säbel zwischen den Knien. Wenn er ohne die ehrwürdige Familienwaffe an Bord gekommen wäre, hätte Keen das als Sakrileg empfunden.

Und da war auch Allday; vierschrötig und wachsam, musterte er die Bootscrew mit angewidertem Blick. Wie hatte der Ehrenwerte Oliver Browne; Pascoes Vorgänger, ihr altes Geschwader bezeichnet? Als gt;happy fewlt;, eine kleine Schar Auserwählter. Klein war die Schar gewiß geworden. Keen sah zu der großen roten Nationalflagge am Heck zurück, die nur hin und wieder auswehte. Aber die wenigen waren genug.

Auch der Erste Offizier der Achates, ein hochgewachsener, breitgesichtiger Mann von der Insel Man, beobachtete das Boot.»Alles klar zum Empfang, Sir«, sagte er.

«Danke, Mr. Quantock.»

Keen hatte sich in seinen ersten Wochen an Bord, während das Schiff überholt wurde, mit Vorsicht durch die Listen, Stammrollen und Logbücher gearbeitet. Zwar unterstand nicht zum erstenmal ein Schiff seinem Befehl, aber für diese Mannschaft war er ein unbeschriebenes Blatt. Ehe er sich nicht ihre Achtung errungen hatte, setzte er nichts als selbstverständlich voraus.

Der Erste Offizier sah kurz.nach vorn zum Signalfähnrich am Fuß des Fockmasts und sagte leise, wie zu sich selbst:»Ich wette, das alte Käthchen hat nie damit gerechnet, noch einmal Flaggschiff zu werden.»

Keen mußte lächeln. Da hatte er etwas Neues erfahren. Das alte Käthchen? Ein Schiff, dem seine Leute einen solchen Kosenamen gaben, mußte ein gutes Schiff sein.

Das Boot machte an den Großrüsten fest, und Hauptmann Dewar von den Royal Marines[3] zog seinen Säbel. Wie stets ging Keen das leise, metallische Zischen unter die Haut. Es weckte Erinnerungen, war ein Akkord im Vorspiel zur Schlacht.

Noch einmal musterte der Kommandant sein Schiff. Alle Freiwächter waren vom Schanzkleid zurückgewichen, und selbst die Toppgasten, die oben in den Rahen arbeiteten, hielten inne und starrten zur Pforte hinunter.

Die kleinen Trommelbuben der Marine-Infanterie hoben ihre Schlagstöcke, die Bootsmannsgehilfen befeuchteten die Lippen für ihre Signalpfeifen.

Ebenso stolz wie nervös trat Keen nach vorn; das Ganze war unwichtig — und doch entscheidend.

Bolithos Zweispitz erschien oberhalb der geschrubbten Gräting, die Pfeifen schrillten und zwitscherten, und Hauptmann Deward bellte:»Royal Marines — präsentiert das Gewehr!»

Beim letzten Wort, als die weißen Ton Wölkchen von den hochgerissenen Musketenriemen aufstiegen, intonierten die Querpfeifen die alte Weise vom Heart of Oak, dem Herz aus Eiche.

Bolitho lüpfte grüßend den Hut zur Flagge am Heck, dann lächelte er Keen an.

Gemeinsam machten sie Front nach vorn, wo die Admiralsflagge schneidig zum Fockmasttopp aufstieg und auswehte.

Bolitho und Keen tauschten einen Händedruck.»Das Schiff macht Ihnen alle Ehre«, sagte der Vizeadmiral.

«Unsere Ehre sind Sie, Sir«, erwiderte Keen.

Bolitho musterte die starren Mienen der Seesoldaten, die nervösen, wachsamen Kadetten. Mit der Zeit würde er sie kennenlernen, so wie sie ihn. Er stand wieder an Deck eines Schiffes, und der grüne Schatten jenseits der Bucht, das Land, war nur noch eine Erinnerung.

Bolitho zupfte an seinem feuchten Hemd, dann setzte er abermals seine Unterschrift unter einen der vielen Briefe, die Yovell, sein pummeliger Sekretär, säuberlich aufgesetzt hatte.

Er sah sich in der geräumigen Achterkajüte um, die viel größer war, als er in einem Schiff von dreizehnhundert Tonnen erwartet hätte.

Ozzard, sein schmächtiger Steward, schenkte ihm frischen Kaffee nach und huschte wieder davon, nach nebenan in seine Pantry. Falls er es bedauerte, die Sicherheit des Herrenhauses in Falmouth verlassen zu müssen, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Ozzard war ein Sonderling und ursprünglich Gehilfe in einer Anwaltskanzlei gewesen, ehe er das gefährliche Leben bei der Kriegsmarine gewählt hatte — nicht ganz freiwillig, wie manche behaupteten. Aber mochte er auch knapp dem Kerker entronnen sein, für Bolitho war er Gold wert.

Dann wandte sich Bolitho zu Keen um, der an den offenen Heckfenstern stand; sein gutes Aussehen und geschliffenes Benehmen täuschten leicht darüber hinweg, daß er ein erfahrener, tüchtiger Marineoffizier war.

«Also, Val, was halten Sie davon?»

Keen drehte sich um, doch sein Gesicht blieb im Schatten.

«Ich habe die Seekarte studiert und bin mir jetzt darüber klar, welche Bedeutung die Insel San Felipe während des Krieges hatte. Wer sie besitzt, ist fast unangreifbar. «Er zuckte die Schultern.»Eine weite Bucht schützt die Festung, die von ihrem erhöhten Standort alle Zufahrten beherrscht, nötigenfalls auch die Stadt selbst. Mir ist unbegreiflich, warum wir sie den Franzosen zurückgeben. «Dann dachte er an Pascoe und fügte hinzu:»Aber ich nehme an, Ihre Lordschaften sind besser informiert als ich.»

Bolitho schmunzelte.»Darauf würde ich mich nicht verlassen, Val.»

Der Kaffee schmeckte gut. Bolitho fühlte sich nach seiner ersten Nacht an Bord überraschend frisch und ausgeruht. Die Reise mit der Kutsche war anstrengend gewesen, und die vielen Aufenthalte in Landgasthäusern oder zum Pferdewechsel hatten ihm zu viel Zeit gelassen, an Belinda zu denken und sie zu vermissen.

Jetzt stellte das Schiff seine Ansprüche, und das belebte ihn. Den Geruch nach frischer Farbe und Pech, nach Hanf und den fünfhundert Offizieren, Matrosen und Soldaten auf engem Raum konnte er nicht ignorieren; er wollte es auch gar nicht.

Mit Achates schien er Glück gehabt zu haben; jede neue Information verstärkte seine Gewißheit, daß sie keinen Vergleich zu scheuen hatte. Vielleicht war Admiral Sheaffes Wahl doch richtig gewesen: ein kleiner 64er statt eines bombastischen Geschwaders, das Amerikaner ebenso wie Franzosen möglicherweise nur eingeschüchtert hätte.

Bolitho sagte zu Keen:»Ich habe Kapitän Duncan in Plymouth schon benachrichtigen lassen. Er läuft mit seiner Sparrowhawk umgehend nach San Felipe aus, auf dem direkten Weg.»

Wie gut konnte er sich Duncans rotes, gegerbtes Gesicht vorstellen, wenn er seine Order las! Auch er mußte froh sein, mit seiner Fregatte in See gehen zu können, bevor sie ihm unter den Füßen weg eingemottet wurde. Duncan hatte ebenso wie Keen zu seinem alten Geschwader gehört. Die beiden waren wie verlängerte Arme für ihn.

Aber an eines konnte er sich nur schwer gewöhnen: daß er nicht mehr auf die schriftlichen Befehle seines vorgesetzten Flaggoffiziers zu warten brauchte. Über die Ungewißheit seiner Rolle oder die Unfairness seiner Aufgabe mußte er sich nicht mehr grämen. Jetzt lag die Entscheidung allein bei ihm, wann und wie zu handeln war. Und mit der Entscheidung auch die volle Verantwortung.

Er fügte hinzu:»Duncans Anwesenheit könnte den Schock der Bewohner von San Felipe etwas mildern. Ich bezweifle, daß der Gouverneur derselben Meinung ist wie das Parlament.»

Ozzard kam herbeigetrippelt und wartete, bis Bolitho ihn zur Kenntnis nahm. Er erinnerte an einen eifrigen Maulwurf, wie er so seine Hände vor der Brust baumeln ließ.

«Bitte um Entschuldigung, Captain«, sagte er zu Keen,»doch der Erste Offizier läßt sich empfehlen und Ihnen melden, daß der Wind umgesprungen, aber immer noch sehr leicht ist.»

Keen grinste zu Bolitho hinüber.»Ich habe ihm gesagt, er soll mich gleich verständigen. Es ist nur ein Hauch, aber wenigstens können wir jetzt den Anker ausbrechen. Mit Ihrer Erlaubnis, Sir?»

Bolitho nickte, von der Erregung angesteckt.»Yovell, bringen Sie meine Depeschen zum Werftboot, das längsseits liegt.»

Er sah den Sekretär seinen letzten Brief an Belinda mit besonderer Sorgfalt davontragen. Den würde sie lesen, wenn die Achates den Lizard[4] passierte, unterwegs zu den langen Rollern des Atlantik.

Durch das offene Skylight konnte er Keens Stimme hören, das Trillern der Bootsmannspfeifen und das Klatschen nackter Füße auf trok-kenen Planken; die Seeleute hasteten auf Stationen.

Bolitho zwang sich, weiter ruhig sitzen zu bleiben und Kaffee zu schlürfen. Keen hatte genug am Hals, wenn er das für ihn neue Schiff zum erstenmal in Fahrt brachte, weg vom bedrohlichen Land. Dabei konnte er keinen Admiral brauchen, der ihm über die Schulter sah.

Wie oft hatte er selbst an der Querreling des Hüttendecks gestanden, voll Hoffnung und mit erregt klopfendem Herzen, während er sich den Kopf zermarterte, ob er nicht etwas vergessen hatte, für das es jetzt ohnehin zu spät war.

Taljen knarrten. Tauwerk quietschte in unzähligen Blöcken, und ganz schwach, scheinbar von weither, hörte Bolitho die Fiedel wimmern, auf der ein Shantyman den arbeitenden Matrosen den Takt angab.

Keuchend kam Yovell zurück.»Alle Depeschen unterwegs zur Küste, Sir«, meldete er mit seinem weichen Devon-Akzent.

Auch Keen trat wieder ein, den Hut unter den Arm geklemmt.

«Anker ist kurzstag, Sir. Würden Sie mir vielleicht an Deck Gesellschaft leisten? Es täte den Leuten gut. Sie jetzt in ihrer Mitte zu sehen.»

Bolitho dankte ihm lächelnd, und dann fiel Keens Blick auf Pascoe.

«Eines verstehe ich nicht, Sir. Gerade eben wurde durch Kurier dieser Brief für den Flaggleutnant gebracht. Er kam gerade noch rechtzeitig.»

Auch Bolitho sah jetzt seinen Neffen an. Der Augenblick war da, den er bisher aufgeschoben hatte, aber sie mußten die leichte Brise zum Auslaufen nutzen. Er merkte, daß Yovell ihn anstrahlte, und begann sich plötzlich zu fragen, ob er das Richtige tat.

Zu Keen sagte er:»Ich komme gleich an Deck, Kapitän Keen.»

Dann nahm er den versiegelten Brief zur Hand und vergewisserte sich, daß es der richtige war. Ein Griff nach seinem Hut, den Ozzard ihm hinhielt, und er schritt mit Keen zur Tür.

«Wahrscheinlich ein dummes Versehen, Sir«, meinte Keen.

Doch im Vorbeigehen drückte Bolitho seinem Neffen den Brief in die Hand.»Ich bin oben, wenn du mich brauchst«, sagte er dabei.

Verwirrt begleitete Keen seinen Vizeadmiral aus dem Schatten des Hüttendecks hinaus und an dem großen Doppelrad vorbei, wo die Rudergänger und der Steuermannsmaat gespannt darauf warteten, daß der Anker ausbrach.

Überall wimmelte es von Matrosen und Soldaten. Die Toppgasten waren längst aufgeentert und hingen wie Affen auf den oberen Rahen, um die lose aufgegeiten Segel fallen zu lassen. Alle Brassen waren bemannt, und die Decksoffiziere und Maaten beobachteten ihre Abteilungen mit Argusaugen, während das Ankerspill klickte, begleitet vom Wimmern der Fiedel. Der Admiralsflagge im Fockmast war sich auch der letzte Mann bewußt.

Allday stand neben einem der Zwölfpfünder auf dem Achterdeck, als ihm plötzlich auffiel, daß Ozzard vergessen hatte, Bolitho den alten Familiensäbel umzuschnallen. Mit einem lautlosen Fluch rannte er davon und stürzte an dem verblüfften Wachtposten vorbei in die Heckkajüte.

Doch er erstarrte, als er Pascoe mitten im Raum stehen sah, ein geöffnetes Schriftstück wie vergessen in der herabhängenden Hand.

Wie Yovell, der fast alle Briefe für den Vizeadmiral schrieb, wußte auch Allday, was in dem Schriftstück stand. Es hatte ihn tief bewegt, daß er zu den wenigen Eingeweihten gehörte.

«Alles in Ordnung, Sir?«fragte er.

Als sich der junge Leutnant ihm zuwandte, gewahrte Allday mit Schrecken, daß seine Wangen tränennaß waren.»Nicht doch, Sir! Er wollte Ihnen eine Freude machen!«»Eine Freude?«So geistesabwesend, als begreife er die Welt nicht mehr, machte Pascoe ein paar Schritte zur Wand und zurück.»Und Sie wußten davon, Allday?«»Aye, Sir. Gewissermaßen.»

Allday war in seinem Leben weit herumgekommen, und Bolitho hatte schon öfter erklärt, daß er es mit einer ordentlichen Erziehung zu sehr viel mehr gebracht hätte als bis zum Seemann. Aber er mußte gar nicht lesen können, um zu verstehen, warum Kapitän Keen über den Titel auf dem Umschlag so erstaunt gewesen war.

Der Brief war adressiert an: gt;Seine Hochwohlgeboren Adam Bo-litho, Flaggleutnant auf Seiner Britannischen Majestät Kriegsschiff Achates.lt; Mit schwimmenden Augen starrte Adam den Inhalt an, ohne weiterlesen zu können. Die schweren Wachssiegel des Anwalts, das Erbrecht auf Bolithos Besitztum in Falmouth, mehr sah er nicht.

Allday führte ihn zu der Polsterbank unter den Heckfenstern.

«Ich hole Ihnen etwas zu trinken, Sir. Und dann bringen wir ihm gemeinsam seinen alten Säbel. «Er sah Adam nicken und setzte leise hinzu:»Schließlich sind Sie jetzt ein echter Bolitho. Genau wie er.»

Wie aus einer anderen Welt klang der Ruf zu ihnen herab:»Anker ist frei, Sir!»

Das Getrappel zahlloser Füße und das rauhe Geschrei der Decksoffiziere schienen von weit her zu kommen.

Allday goß Brandy in ein Glas und brachte es dem Leutnant, den er kannte, seit er mit vierzehn Jahren als Kadett auf Bolithos alter Hyperion angemustert hatte.

«Hier bitte, Sir.»

Adam faßte sich allmählich.»Sie wollen wissen, ob ich mich freue«, sagte er leise.»Meine Empfindungen lassen sich nicht in Worte fassen. Er mußte doch nicht.»

Allday hätte gern ebenfalls einen Schluck getrunken.»Aber es war sein Wunsch. Schon lange.»

Das Deck unter ihren Füßen krängte leicht, als das Schiff unter Mars- und Vorsegeln in der schwachen Brise Fahrt aufnahm.

Allday hob den abgewetzten alten Säbel von seinen Haken an der Wand und betrachtete ihn. Beim letzten Mal hätten sie ihn beinahe für immer verloren. Eines Tages würde er also diesem jungen Mann gehören, dem Ebenbild des anderen oben an Deck.

Leutnant Adam Bolitho wischte sich die Augen mit der Manschette trocken.»Dann wollen wir mal, Allday. «Aber ganz hatte er sich noch nicht wieder gefangen. Er ergriff den Bootsmann am Arm und murmelte:»Bin ich froh, daß Sie eben hier waren. «Grinsend folgte ihm Allday aus der Kajüte.

Der junge Spund freute sich also wirklich, dachte er. Das mochte er ihm auch geraten haben. Anderenfalls hätte er ihn trotz seines Offiziersranges übers Knie gelegt und versohlt.

Adam trat in den Sonnenschein hinaus. Er sah nicht die erstaunten Blicke, die ihm folgten, hörte auch nicht den unterdrückten Fluch eines vorbeihastenden Matrosen, der fast mit seinem Flaggleutnant zusammengestoßen wäre. Er nahm Allday den Säbel aus der Hand und schnallte das Gehenk um Bolithos Mitte.

Bolitho sah ihm dabei zu.»Danke, Adam«, sagte er mit Wärme.

Der Leutnant nickte und suchte nach Worten, aber Bolitho nahm seinen Arm und führte ihn beiseite, wandte sich mit ihm der welligen Küstenlinie zu, die querab vorbeizog und zurückblieb, während das Schiff in tieferes Wasser glitt.

«Später, Adam. Wir haben noch viel Zeit.»

Der Erste Offizier hob sein Sprachrohr und spähte durch das Gewirr der Takelage nach oben.»Los Bramsegel!»

Er warf einen Blick zu der Gruppe, die in Luv stand: der noch jugendliche Vizeadmiral mit seinem Adjutanten; er wollte wohl sehen, ob das Schiff gut genug für ihn war.

Allday war der Blick nicht entgangen. Ein Grinsen unterdrückend, dachte er: Junge, du hast noch eine Menge zu lernen. Du weißt gar nicht, wieviel.