"Das dritte Gesicht" - читать интересную книгу автора (Sheldon Sidney)

ERSTES BUCH

1

Jemand stellte ihr nach. Sie hatte gelesen, daß es Triebtäter gab, Spanner, Schleicher, Fetischisten, wie immer man sie auch nennen mochte, die Frauen verfolgten und belästigten, aber so etwas kam doch nur in einer anderen, einer brutaleren Welt vor. Sie hatte keine Ahnung, wer es sein könnte, konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wer ihr etwas antun wollte. Sie kämpfte mit aller Macht gegen ihre Ängste an, wollte auf keinen Fall die Nerven verlieren, aber in letzter Zeit war sie von fürchterlichen Alpträumen heimgesucht worden, und jeden Morgen hatte sie beim Aufwachen das Gefühl, als drohte ihr ein schreckliches Unheil. Vielleicht bilde ich mir alles nur ein, dachte Ashley Patterson. Ich arbeite zuviel. Ich brauche Urlaub.

Sie wandte sich um und betrachtete sich im Schlafzimmerspiegel. Sie war Ende Zwanzig, hübsch gekleidet, schlank, hatte ein ebenmäßiges, geradezu aristokratisches Gesicht und intelligente, besorgt dreinblickende braune Augen. Das dunkle Haar fiel in sanftem Schwung auf die Schulter. Sie war elegant und attraktiv, aber auf eine eher dezente Art. Ich kann mich nicht ausstehen, dachte Ashley. Ich bin zu dünn. Ich muß mehr essen. Sie ging in die Küche und bereitete das Frühstück zu, zwang sich, nicht mehr an ihre Ängste und Beklemmungen zu denken, und konzentrierte sich darauf, daß das Omelett leicht und luftig geriet. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und schob eine Scheibe Brot in den Toaster. Zehn Minuten später war alles fertig. Ashley deckte den Tisch und setzte sich hin. Sie griff zur Gabel, starrte einen Moment lang auf das Frühstück und schüttelte dann verzweifelt den Kopf. Vor lauter Angst war ihr der Appetit vergangen.

Das kann nicht so weitergehen, dachte sie ungehalten. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt, aber so was lasse ich nicht mit mir machen. Niemals.

Ashley warf einen Blick auf ihre Uhr. Höchste Zeit, daß sie sich auf den Weg zur Arbeit machte. Sie sah sich noch einmal in der vertrauten Umgebung um, so als suchte sie Zuspruch. Ihre geschmackvoll eingerichtete Wohnung, die aus Wohn-, Schlaf- und Arbeitszimmer, Bad, Küche und Gästetoilette bestand, lag im zweiten Stock eines Mietshauses am Via Camino Court. Sie wohnte seit drei Jahren in Cupertino, Kalifornien. Bis vor zwei Wochen war ihr diese Wohnung immer wie ein gemütliches Nest vorgekommen, ein Refugium. Jetzt war sie zu einer Festung geworden, einer Zuflucht, in die niemand eindringen und ihr etwas antun konnte. Ashley ging zur Wohnungstür und musterte das Schloß. Ich lasse mir ein Riegelschloß einbauen, dachte sie. Gleich morgen. Sie schaltete sämtliche Lichter aus, überzeugte sich davon, daß die Tür fest verschlossen war, und fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage.

Die Garage war menschenleer. Ihr Wagen stand etwa fünf Meter vom Fahrstuhl entfernt. Sie sah sich vorsichtig um, rannte dann zu ihrem Wagen, stieg ein, verriegelte die Türen und blieb einen Moment lang sitzen, bis ihr Herz wieder ruhiger schlug. Dunkel dräuende Wolken zogen über den Himmel, als sie in Richtung Innenstadt fuhr. Laut Wetterbericht sollte es Regen geben. Aber es wird nicht regnen, dachte Ashley. Die Sonne wird wieder herauskommen. Ich schlage dir was vor, lieber Gott. Wenn es nicht regnet, bedeutet das, daß alles in Ordnung ist, daß ich mir alles nur eingebildet habe.

Zehn Minuten später fuhr Ashley Patterson durch das Stadtzentrum von Cupertino. Sie war stets aufs neue beeindruckt, wenn sie sah, was aus diesem einstmals verschlafenen Winkel des Santa Clara Valley geworden war. Hier, in diesem rund achtzig Kilometer südlich von San Francisco gelegenen Tal, hatte die sogenannte Computerrevolution ihren Anfang genommen, was dem Tal den durchaus treffenden Beinamen Silicon Valley eingetragen hatte.

Ashley war bei der Global Computer Graphics Corporation beschäftigt, einem erfolgreichen, rasch expandierenden, jungen Unternehmen mit zweihundert Angestellten.

Als Ashley in die Silverade Street einbog, überkam sie wieder dieses beklemmende Gefühl, als wäre er hinter ihr, verfolgte sie. Aber wer? Und warum? Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Anscheinend war alles so wie immer.

Doch eine innere Stimme sagte ihr etwas ganz anderes.

Vor Ashley erstreckte sich das weitläufige, moderne Firmengebäude von Global Computer Graphics. Sie fuhr auf den Parkplatz, zeigte dem Wachmann ihren Ausweis und stieß auf den für sie reservierten Stellplatz. Hier fühlte sie sich sicher.

Als sie aus dem Wagen stieg, fing es an zu regnen.

Um neun Uhr morgens herrschte bei Global Computer Gra-phics bereits reges Treiben. In den acht nach dem Baukastenprinzip gestalteten Kabuffs saßen die Computergenies in Diensten der Firma, allesamt junge Leute, die hier Websites entwickelten, Logos für neue Unternehmen gestalteten, Graphiken für CD-Hüllen und Buchumschläge entwarfen und Bildmaterial für Illustrierte bearbeiteten. Der Betrieb war in mehrere Abteilungen untergliedert: Verwaltung, Verkauf, Marketing und Kundendienst. Der Umgangston war eher zwanglos. Die Angestellten liefen in Jeans, T-Shirts und Pullis herum.

Als Ashley sich zu ihrem Arbeitsplatz begeben wollte, wurde sie von ihrem Abteilungsleiter Shane Miller angesprochen.

»Morgen, Ashley.«

Shane Miller war Anfang Dreißig, ein stämmiger, ernster Mann, der eine angenehme Art an sich hatte. Am Anfang hatte er versucht, Ashley ins Bett zu locken, hatte es aber schließlich aufgegeben, und im Lauf der Zeit waren sie gute Freunde geworden.

Er reichte Ashley die neueste Ausgabe des Time Magazine. »Schon gesehen?«

Ashley schaute auf das Cover. Dort prangte das Bild eines vornehm wirkenden, auf die Sechzig zugehenden Mannes mit silbergrauem Haar. Die Schlagzeile lautete: Dr. Steven Patterson, Vater der Herz-Mikrochirurgie.

»Ich hab’s schon gesehen.«

»Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters?«

Ashley lächelte. »Wunderbar.«

»Er ist ein großartiger Mann.«

»Ich werd’s ihm ausrichten. Wir sind zum Mittagessen verabredet.«

»Gut. Übrigens ...« Shane Miller zeigte Ashley ein Foto von einem Filmstar, das für die Anzeige eines Kunden verwendet werden sollte. »Wir haben hier ein kleines Problem. Desiree hat etwa fünf Kilo zugelegt, und das sieht man. Schau dir die dunklen Ringe unter den Augen an. Und selbst mit Make-up wirkt die Haut unrein. Meinst du, du bekommst das hin?«

Ashley betrachtete das Bild. »An die Augen kann ich mit Weichzeichner rangehen. Ich könnte versuchen, ihr Gesicht etwas schmäler zu ziehen, aber - nein. Vermutlich würde sie dadurch etwas merkwürdig aussehen.« Wieder musterte sie das Bild. »Möglicherweise muß ich’s mit Airbrush versuchen und an der einen oder anderen Stelle den Kloner einsetzen.«

»Danke. Ist mit Samstag abend alles klar?«

»Ja.«

Shane Miller deutete mit dem Kopf auf das Foto. »Das eilt nicht. Sie wollten es schon letzten Monat haben.«

Ashley lächelte. »Na, das ist ja mal ganz was Neues.«

Sie machte sich an die Arbeit. Ashley war Werbegraphikerin und Expertin für Text- und Bildgestaltung per Computer.

Als Ashley eine halbe Stunde später an dem Foto arbeitete, spürte sie, daß jemand sie beobachtete. Sie blickte auf. Es war Dennis Tibble.

»Morgen, meine Süße.«

Seine Stimme ging ihr auf die Nerven. Tibble war das Computergenie der Firma. Er wurde im ganzen Betrieb nur »Der Tüftler« genannt. Jedesmal wenn ein Computer abstürzte, wurde Tibble darauf angesetzt. Er war Anfang Dreißig, dürr und glatzköpfig, und unangenehm arrogant. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht mehr locker, und in der Firma ging das Gerücht, daß er auf Ashley fixiert sei.

»Kann ich dir behilflich sein?«

»Nein, danke.«

»Hey, wollen wir Samstag abend irgendwo eine Kleinigkeit essen gehen?«

»Besten Dank. Ich habe schon was vor.«

»Gehst du wieder mit dem Boß aus?«

Ashley wandte sich um und schaute ihn wütend an. »Hör mal, das geht dich gar nichts .«

»Ich versteh’ sowieso nicht, was du an dem findest. Das ist doch ein Streber hoch drei. Mit mir wird’s bestimmt amüsanter.« Er zwinkerte. »Weißt du, was ich meine?«

Ashley versuchte sich zu beherrschen. »Ich muß wieder an die Arbeit, Dennis.«

Tibble beugte sich zu ihr. »Ich will dir mal was verraten, meine Süße«, flüsterte er. »Ich gebe nicht auf. Niemals.«

Sie schaute ihm nach, als er wegging. Könnte er derjenige sein? fragte sie sich.

Um halb eins fuhr Ashley ihren Computer herunter und begab sich zum Margherita Di Roma, wo sie mit ihrem Vater zum Essen verabredet war.

Sie saß an einem Ecktisch in dem bis auf den letzten Platz besetzten Restaurant und blickte auf, als ihr Vater auf sie zukam. Er sah gut aus, das mußte sie ihm lassen. Die Leute drehten sich um und starrten ihn an, als er zu Ashleys Tisch ging. Wie fühlt man sich denn als Tochter eines berühmten Vaters?

Vor etlichen Jahren war Dr. Steven Patterson ein entscheidender Durchbruch in der Anwendung mikrochirurgischer Methoden bei Herzoperationen gelungen. Seither wurde er ständig von sämtlichen bedeutenden Universitätskliniken auf der ganzen Welt zu Vorträgen eingeladen. Ashleys Mutter war gestorben, als Ashley zwölf war, und außer ihrem Vater hatte sie keinerlei Anverwandte.

»Entschuldige die Verspätung, Ashley.« Er beugte sich vor und küßte sie auf die Wange.

»Ist schon gut. Ich bin gerade erst gekommen.«

Er setzte sich. »Hast du das Time Magazine gesehen?«

»Ja. Shane hat es mir gezeigt.«

Er runzelte die Stirn. »Shane? Dein Chef?«

»Er ist nicht mein Chef. Er ist - er ist einer der Abteilungsleiter.«

»Beruf und Privatleben sollte man stets voneinander trennen, Ashley. Du triffst dich doch auch privat mit ihm, nicht wahr? Das ist ein Fehler.«

»Vater, wir sind doch bloß gute -«

Ein Kellner kam an ihrem Tisch. »Darf ich Ihnen die Speisekarte bringen?«

Dr. Steven Patterson drehte sich um. »Sehen Sie nicht, daß wir uns gerade unterhalten?« herrschte er ihn an. »Verschwinden Sie gefälligst, bis wir Sie rufen.«

»Entschuldigung, Sir.« Der Kellner eilte davon.

Ashley wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte vergessen, wie aufbrausend ihr Vater sein konnte. Einmal hatte er während einer Operation auf einen Assistenten eingeprügelt, weil der sich ein Fehlurteil erlaubt hatte. Ashley konnte sich nur zu gut an die Streitereien zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater erinnern, die sie als kleines Mädchen miterlebt hatte. Sie hatten sie zu Tode erschreckt. Es war immer um das gleiche Thema gegangen, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war. Sie hatte es verdrängt.

Ihr Vater fuhr fort, als ob nichts gewesen wäre. »Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja. Daß du dich nicht mit diesem Shane Miller abgeben solltest. Auf gar keinen Fall.«

Und seine Worte beschworen eine weitere schlimme Erinnerung herauf.

»Du solltest dich nicht mit diesem Jim Cleary abgeben«, hörte sie ihren Vater sagen. »Auf gar keinen Fall ...«

Ashley war gerade achtzehn geworden. Sie lebten in Bedford in Pennsylvania, wo sie auch geboren war. Jim Cleary war der beliebteste Junge auf der ganzen High-School. Er spielte in der Footballmannschaft, sah blendend aus, war immer lustig und konnte einen hinreißend anlächeln. Ashley hatte den Eindruck, daß sämtliche Mädchen auf der Schule mit ihm schlafen wollten. Und die meisten haben es vermutlich auch getan, hatte sie seinerzeit spöttisch gedacht. Als Jim Cleary sich auch mit ihr verabreden wollte, war Ashley fest entschlossen, nicht mit ihm ins Bett zu gehen. Sie war davon überzeugt, daß er sie nur herumkriegen wollte, doch im Laufe der Zeit änderte sie ihre Meinung. Sie war gern mit ihm zusammen, und sie hatte das Gefühl, daß er sie wirklich mochte.

In diesem Winter fuhr die Oberstufe übers Wochenende zu einem Skilager in die Berge. Jim Cleary war leidenschaftlicher Skifahrer.

»Das wird bestimmt klasse«, versicherte er Ashley.

»Ich fahre nicht mit.«

Er schaute sie verdutzt an. »Wieso nicht?«

»Ich kann die Kälte nicht ausstehen. Ich hab’ dann immer steif gefrorene Finger, selbst mit Handschuhen.« »Aber es macht doch Spaß, wenn -«

»Ich fahre nicht mit.«

Schließlich blieb auch er in Bedford.

Sie hatten die gleichen Interessen, die gleichen Ideale, und sie kamen wunderbar miteinander aus.

»Heute morgen hat mich jemand gefragt, ob du meine Freundin bist«, sagte Jim Cleary eines Tages zu Ashley. »Was soll ich ihm sagen?«

Ashley lächelte. »Sag einfach ja«, erwiderte sie.

Dr. Patterson war besorgt. »Du triffst dich ziemlich häufig mit dem jungen Cleary.«

»Vater, er ist ein anständiger Junge, und außerdem liebe ich ihn.«

»Wie kannst du den denn lieben? Einen Footballspieler, verdammt noch mal. Ich lasse nicht zu, daß du einen Footballspieler heiratest. Er ist nicht gut genug für dich, Ashley.«

Das hatte er bislang bei jedem Jungen gesagt, mit dem sie gegangen war.

Ihr Vater äußerte sich weiterhin abfällig über Jim Cleary, doch an dem Tag, an dem sie ihr Abschlußzeugnis erhielt, kam es zur offenen Auseinandersetzung. Jim Cleary wollte Ashley am Abend zu einer Abschlußfeier mitnehmen. Als er sie zu Hause abholte, weinte sie.

»Was ist los? Was ist passiert?«

»Mein - mein Vater hat gesagt, daß er mich nach London bringt. Er hat mich - er hat mich dort auf einem College angemeldet.«

Jim Cleary schaute sie fassungslos an. »Er will nicht, daß wir miteinander gehen, stimmt’s?«

Ashley nickte kläglich.

»Wann reist du ab?«

»Morgen.«

»Nein! Um Gottes willen, Ashley, das darf er uns nicht antun. Hör zu. Ich möchte dich heiraten. Mein Onkel hat mir einen Bombenjob in seiner Werbeagentur in Chicago angeboten. Wir brennen durch. Morgen früh um sieben geht ein Zug nach Chicago. Wir treffen uns am Bahnhof. Kommst du mit?« Sie schaute ihn eine ganze Weile an. »Ja«, sagte sie dann leise.

Hinterher konnte sich Ashley beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie die Abschlußfeier gewesen war. Sie und Jim hatten sich den ganzen Abend aufgeregt über ihre Pläne unterhalten.

»Warum fliegen wir nicht nach Chicago?« fragte Ashley. »Weil wir bei der Fluggesellschaft unsere Namen angeben müßten. Wenn wir mit dein Zug fahren, weiß niemand, wohin wir uns gewandt haben.«

»Hast du Lust, noch kurz mit zu mir nach Hause zu kommen?« fragte Jim Cleary leise, als sie die Party verließen. »Meine Eltern sind übers Wochenende weggefahren.«

Ashley zögerte. Sie war hin- und hergerissen. »Jim - wir haben so lange gewartet. Auf die paar Tage kommt’s jetzt auch nicht mehr an.«

»Du hast recht.« Er grinste. »Vermutlich bin ich der einzige Mann auf diesem Kontinent, der eine Jungfrau heiratet.«

Als Jim Cleary Ashley nach Hause brachte, erwartete sie Dr. Patterson bereits wutentbrannt. »Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«

»Tut mir leid, Sir. Die Party -«

»Kommen Sie mir nicht mit dummen Ausreden, Cleary. Glauben Sie etwa, Sie könnten mir etwas vormachen?«

»Ich will Ihnen nichts -«

»Ab sofort lassen Sie die Finger von meiner Tochter. Haben Sie verstanden?«

»Vater -«

»Du hältst dich da raus.« Er schrie jetzt. »Cleary, ich möchte, daß Sie auf der Stelle verschwinden und sich nie wieder blik-ken lassen.«

»Sir, Ihre Tochter und ich -«

»Jim -«

»Geh auf dein Zimmer.«

»Sir -«

»Wenn ich Sie noch einmal hier sehe, breche ich Ihnen sämtliche Knochen.«

Ashley hatte ihn noch nie so wütend erlebt. Am Ende hatten alle durcheinandergebrüllt. Dann war Ashley in Tränen ausgebrochen, und Jim hatte das Weite gesucht.

Das lasse ich mir von meinem Vater nicht antun, dachte Ash-ley voller Entschlossenheit. Er will mein Leben zerstören. Sie saß eine ganze Weile auf ihrem Bett. Jim ist meine Zukunft. Ich möchte mit ihm Zusammensein. Ich habe hier nichts mehr verloren. Sie stand auf und packte eine Reisetasche. Eine halbe Stunde später stahl sich Ashley aus der Hintertür und begab sich auf den Weg zu Jim Cleary, der ein paar Straßen weiter weg wohnte. Ich bleibe heute nacht bei ihm, und morgen früh fahren wir mit dem Zug nach Chicago. Doch je näher sie dem Haus kam, desto unsicherer wurde sie. Nein, dachte sie. Das ist falsch. Ich möchte nichts verderben. Ich treffe mich mit ihm am Bahnhof.

Und sie kehrte um und ging wieder nach Hause.

Ashley blieb die ganze Nacht wach, dachte über ihr künftiges Zusammenleben mit Jim nach und stellte sich vor, wie wunderbar alles werden würde. Um halb sechs nahm sie ihre Reisetasche und ging leise an der verschlossenen Tür zum Schlafzimmer ihres Vaters vorbei. Sie schlich sich aus dem Haus und fuhr mit dem Bus zum Bahnhof. Jim war nicht da, als sie dort eintraf. Sie war früh dran. Der Zug ging erst in einer Stunde. Sie setzte sich auf eine Bank und wartete ungeduldig. Sie stellte sich vor, wie ihr Vater aufwachte und entdeckte, daß sie weg war. Er würde toben vor Wut. Aber ich kann nicht zulassen, daß er mir mein Leben vorschreibt. Eines Tages wird er Jim richtig kennenlernen, und er wird sehen, wie glücklich ich mit ihm bin. Halb sieben ... zwanzig vor sieben ... Viertel vor sieben ... zehn vor sieben ... Von Jim war immer noch nichts zu sehen. Ashley bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Was konnte nur dazwischengekommen sein? Sie beschloß ihn anzurufen. Niemand meldete sich, fünf vor sieben . Er kommt bestimmt jeden Moment. Sie hörte von fern den Zug pfeifen und schaute auf ihre Uhr. Eine Minute vor sieben. Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie stand auf und blickte sich hektisch um. Irgendwas Schreckliches muß ihm zugestoßen sein. Vielleicht hatte er einen Unfall und liegt im Krankenhaus. Ein paar Minuten später stand Ashley da und sah zu, wie all ihre Träume zerstoben, als der Zug nach Chicago abfuhr. Sie wartete noch eine halbe Stunde und rief dann erneut bei Jim an. Als sich wieder niemand meldete, ging sie langsam und unglücklich nach Hause.

Mittags saß Ashley mit ihrem Vater in einem Flugzeug nach London.

Ashley ging zwei Jahre lang in London aufs College, und da sie festgestellt hatte, daß sie gern mit Computern arbeiten wollte, bewarb sie sich für das begehrte MEI-Wang-Stipendium für Frauen in technischen Berufen an der Universi-ty of California in Santa Cruz. Sie wurde angenommen, und drei Jahre später wurde sie bei der Global Computer Graphics Corporation eingestellt.

Anfangs hatte Ashley eine Handvoll Briefe an Jim Cleary geschrieben, doch sie hatte sie alle wieder zerrissen. Sein Verhalten, vor allem aber sein Stillschweigen, verrieten ihr nur allzu deutlich, was er für sie empfand.

Die Stimme ihres Vaters riß Ashley in die Gegenwart zurück. »Du bist ja völlig abwesend. Worüber denkst du nach?« Ashley musterte ihren Vater über den Tisch hinweg. »Über gar nichts.«

Dr. Patterson winkte dem Kellner und lächelte ihn liebenswürdig an. »Jetzt dürfen Sie uns die Karte bringen«, sagte er.

Erst auf dem Rückweg ins Büro fiel Ashley ein, daß sie vergessen hatte, ihrem Vater zu dem Titelbild auf dem Time Magazine zu gratulieren.

Als Ashley zu ihrem Schreibtisch kam, erwartete sie Dennis Tibble.

»Ich habe gehört, daß du mit deinem Vater zu Mittag gegessen hast.«

Der kleine Schleimer hat seine Ohren überall. Er will über alles Bescheid wissen, was hier vorgeht. »Ja.«

»Kann ja nicht besonders amüsant gewesen sein.« Er senkte die Stimme. »Wieso gehst du eigentlich nie mit mir zum Mittagessen?«

»Dennis - ich hab’s dir doch schon mal gesagt. Ich habe kein Interesse.«

Er grinste. »Das kommt schon noch. Wart’s mal ab.«

Ashley blickte ihm hinterher, als er wegging. Er hatte etwas Unheimliches an sich, etwas Gruseliges. Wieder fragte sie sich, ob er derjenige sein könnte, der ... Sie schüttelte den Kopf. Nein. Sie durfte nicht daran denken, mußte sich anderen Dingen zuwenden.

Auf der Heimfahrt machte Ashley kurz beim Apple Tree Book House halt. Bevor sie hineinging, warf sie einen Blick in die spiegelnden Schaufensterscheiben. Hinter ihr war niemand, jedenfalls niemand, den sie kannte. Sie betrat die Buchhandlung.

Ein junger Verkäufer kam auf sie zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ja. Ich - haben Sie ein Buch über Sittenstrolche?«

Er warf ihr einen seltsamen Blick zu. »Über Sittenstrolche?«

Ashley kam sich ziemlich blöd vor. »Ja«, sagte sie rasch. »Außerdem hätte ich gern ein paar Bücher über - äh - Gartenbau und die Tierwelt Afrikas.«

»Sittenstrolche, Gartenbau und afrikanische Tierwelt?«

»Ganz recht«, erwiderte sie bestimmt.

Wer weiß? Vielleicht habe ich eines Tages einen Garten und unternehme eine Reise nach Afrika.

Als Ashley zu ihrem Wagen zurückging, fing es wieder an zu regnen. Sie war kaum losgefahren, als schwere Tropfen auf die Windschutzscheibe prasselten und sämtliche Konturen verwischten, so daß die Straßen vor ihr aussahen wie hingetupfte Landschaften auf einem pointillistischen Gemälde. Sie schaltete die Scheibenwischer an. Surrend setzten sie sich in Bewegung, so als tuschelten sie miteinander. »Er kriegt dich . kriegt dich . kriegt dich . « Ashley stellte sie schleunigst wieder ab. Nein, dachte sie. Sie sagen: Niemand da, niemand da, niemand da.

Ashley stellte ihren Wagen in der Tiefgarage ab und drückte den Fahrstuhlknopf. Zwei Minuten später fuhr sie hoch zu ihrer Wohnung. Sie ging zu ihrer Tür, steckte den Schlüssel ins Schloß, sperrte auf und blieb wie erstarrt stehen. In ihrer Wohnung brannten sämtliche Lichter.