"Fieber" - читать интересную книгу автора (Little Bentley)


Für Larry und Janice Weldon,

meinen Onkel und meine Tante



DREI


1.


Stacy hatte tatsächlich eine Freundin, die noch Single war, und auch wenn Hunt es nur im Scherz gesagt hatte, versuchten Joel und seine Frau tatsächlich, sie zu verkuppeln, indem sie die beiden an einem Freitag zum Abendessen einluden. Ehrlicherweise hatten sie Hunt und Stacys Freundin vorgewarnt, also kam es nicht völlig überraschend. Beiden wurde versichert, es sei nicht als Blind Date anzusehen, und sie wollten die beiden keineswegs unter Druck setzen ... aber irgendwie war alleine das schon Druck genug, und so ertappte Hunt sich dabei, wie er vor dem Spiegel verschiedene Outfits ausprobierte, um möglichst gut auszusehen.

Sie hieß Beth und arbeitete zusammen mit Stacy in der PR-Abteilung von Thompson Industries. Zu Beginn des Abends blieb Beth bei Stacy in der Küche, während Hunt und Joel im Wohnzimmer saßen, fernsahen und sich unterhielten. Lilly lief immer wieder zwischen ihren Eltern hin und her. Das Abendessen nahmen sie dann am großen Esstisch ein, und Hunt und Beth saßen praktischer- und keineswegs zufälligerweise nebeneinander. Die beiden kamen sofort sehr gut miteinander aus, und auch wenn Stacy und Joel für derartige Aufgaben jederzeit zur Verfügung gestanden hätten, benötigten Beth und Hunt keinerlei Unterstützung oder Konversationshilfen ihrer Gastgeber, die sich deshalb ganz auf ihre Tochter und deren dramatische Schilderung ihrer Erlebnisse an diesem Tag konzentrieren konnten.

Danach brachte Stacy das Mädchen ins Bett, während Joel sich in die Küche zurückzog, um die Spülmaschine einzuräumen, sodass Hunt und Beth auf sehr diskrete Art und Weise alleine zurückblieben. Sie saßen nebeneinander auf dem Sofa, nah, aber nicht zu nah, und leiteten das Über-sich-selbst-Reden damit ein, einander zu berichten, wie sie die McCains kennen gelernt hatten. Beth erzählte, wie sie und Stacy sich als Kolleginnen bei Thompson Industries angefreundet hatten, und Hunt berichtete, Joel und er hätten früher in der gleichen Straße gewohnt und seien während der Grundschulzeit die besten Freunde gewesen.

»Wow«, sagte Beth. »So lange kennen Sie einander schon?«

»Na ja, es gab große zeitliche Lücken. Während der High School haben wir getrennte Freundeskreise aufgebaut, und danach hat jeder sein eigenes Leben angefangen. Ich bin nach Kalifornien gezogen, habe einen Job gefunden und geheiratet. Zu Joel habe ich erst wieder Kontakt aufgenommen, als ich letzten Monat hierhergezogen bin, nachdem meine Scheidung endlich durch war. Davor habe ich lange nichts von ihm gesehen oder gehört, vielleicht fünfzehn Jahre lang nicht.«

Stacy kam die Treppe herunter. »Ihr beide solltet ein bisschen spazieren gehen«, schlug sie vor, als sie auf dem Weg in die Küche durchs Wohnzimmer kam. »Ist so ein schöner Abend.«

»Subtil«, stellte Beth fest. »Sehr subtil.«

Stacy lachte.

Doch Beth und Hunt beschlossen, diesen Vorschlag tatsächlich aufzunehmen, und nachdem sie ihren Gastgebern gesagt hatten, sie würden ein wenig an die frische Luft gehen, spazierten sie die Auffahrt hinunter, dann den Bürgersteig entlang und an den fast gleich aussehenden Häusern vorbei.

»Sie sind also geschieden«, sagte Beth.

»Stört Sie das?«

»Ich weiß nicht.«

»Was ist mit Ihnen?«

»Hab nie geheiratet. Hab sogar noch nie mit jemandem zusammengelebt«, gab Beth zu.

Die Überraschung musste Hunt deutlich anzusehen gewesen sein.

»Ich habe allerdings nicht wie eine Nonne gelebt«, fügte Beth hinzu. »Ich hatte eine Menge Freunde. Mit dem letzten war ich mehr als fünf Jahre zusammen.«

»Aber zusammen gewohnt haben Sie nicht.«

»Manchmal hat er bei mir übernachtet, oder ich bei ihm ... aber richtig zusammengewohnt haben wir nicht.«

»Und warum haben Sie sich getrennt?«

»Sie sind ganz schön neugierig, meinen Sie nicht?«

»'tschuldigung. Ich bin nicht ... ich habe nicht ... ich bin das schon eine ganze Weile nicht mehr gewohnt ...« Er holte tief Luft. »Ich weiß überhaupt nicht, was ich hier tue. Ich improvisiere nur. Es tut mir leid, wenn ich ...«

Beth lachte. »Ist schon gut. Ich hätte nichts gesagt, wenn ich gewusst hätte, dass Sie das so ernst nehmen. Es ist bloß ... ich verstehe mich nicht gut darauf, mich selbst zu analysieren, und Sie haben mich ... du hast mich ...«

»Ich habe dich dazu gebracht, dich selbst zu analysieren?«

»Genau.«

»Tut mir leid.«

»Muss es nicht. Und damit du's weißt: Tad und ich haben uns getrennt, weil er mich abgeschossen hat. Er hatte in einer Kneipe ein Flittchen kennen gelernt, und am nächsten Morgen hat er mich angerufen und mir gesagt, dass es aus ist.«

»So ein Blödmann«, sagte Hunt.

»Soll das ein Kompliment sein?«

»Ja.«

Sie hakte sich bei ihm ein. Er spürte die Wärme des Körpers neben sich. Das lief alles deutlich besser, als er gehofft hatte.

»Wo wir schon in einer so schönen Beichtstimmung sind: Warum hast du dich scheiden lassen?«

Er zuckte mit den Schultern. »Das Übliche, nehme ich an. Wir sind uns nur noch gegenseitig auf die Nerven gegangen. Jedenfalls hatte keiner von uns eine Affäre ... wir konnten nur einfach nicht zusammen leben. Wahrscheinlich hätten wir besser nie geheiratet.«

Eine halbe Stunde später kehrten sie zurück, Hand in Hand. Joel und Stacy waren mit dem Abwasch fertig und saßen im Wohnzimmer auf dem Sofa; im Hintergrund lief eine alte Spyro-Gyra-CD. Beth bat um Entschuldigung und ging ins Badezimmer. Hunt blickte zu Joel hinüber und sah, dass sein Freund grinste und dabei die Augenbrauen auf und ab tanzen ließ - in übertriebener Groucho-Marx-Manier.

Hunt nickte und grinste ebenfalls.

Vielleicht klappte es ja wirklich.

2.


Von einer stürmischen Romanze konnte man wahrlich nicht sprechen. Beide hatten sich erst vor kurzem die Finger verbrannt, und so ließen Beth und Hunt es langsam angehen. Er wartete eine Woche, bis er sie überhaupt anrief; eine Woche später hatten sie ihr erstes »richtiges« Date: die traditionelle Kombination aus Abendessen und Kino. Hunt hatte schon befürchtet, es gebe vielleicht nichts mehr, worüber sie noch hätten reden können, und dass sie all ihre intelligenten Äußerungen und interessanten Themen schon beim Abendessen verbraucht hätten, sodass nun lange Pausen peinlicher Stille entstehen könnten, gelegentlich unterbrochen von mitleiderregenden Versuchen, so etwas wie eine Konversation einzuleiten. Doch wenn überhaupt, kamen die beiden noch besser miteinander aus als bei Joel, und sie unterhielten sich prächtig. Sie hatten viel gemeinsam. Nicht dass die Gefahr bestand, dass sie zu einem dieser Pärchen mutierten, die immer alles gemeinsam machten, doch es genügte, um ein Fundament zu haben, auf dem eine echte Beziehung würde wachsen können. Nach dem Film gingen sie einen Kaffee trinken und plauderten bis Mitternacht. Als Hunt sie dann bei ihr zu Hause absetzen wollte, fragte Beth ihn, ob er nicht mit reinkommen und die Nacht mit ihr verbringen wolle.

Danach verging kein Wochenende mehr, an dem sie nicht gemeinsam etwas unternahmen. Sie machten ganz alltägliche Dinge - gingen in Buchhandlungen und Einkaufszentren, gingen wandern, liehen sich Filme aus, verbrachten einen Samstag in Tombstone und einen anderen in den Old Tucson Studios. Edward und Jorge, Hunts Arbeitskollegen, machten sich über ihn lustig, weil er offensichtlich schon so unter dem Pantoffel stand, dass er einen ganzen Sonntagnachmittag damit zubrachte, in Beths Garten Unkraut zu jäten. »Ich arbeite die ganze Woche an Bäumen und Büschen«, sagte Jorge. »Das Letzte, womit ich mein Wochenende verbringen will, ist Gartenarbeit!« Zugleich aber verstanden sie ihn, und beide mochten Beth.

An einem kühlen Samstagnachmittag gingen sie alle miteinander aus: Beth und Hunt, Joel, Stacy und Lilly sowie Edward und Jorge mit ihren Frauen. Sie besuchten das Sonora Desert Museum und gingen anschließend zum Essen in ein italienisches Restaurant, wo Lilly auf dem Fußboden einschlief und die anderen sich unterhielten, bis der Laden schloss.

Beths Haus war neuer und größer als Hunts, aber es war keiner von diesen Möchtegern-Mediterran-Bauten, die mit erschreckender Geschwindigkeit anscheinend in jedem Teil der Stadt hochgezogen wurden. Es war ein langgestrecktes, niedriges Haus im Pseudo-Santa-Fe-Stil und lag auf einem Grundstück, das groß genug war, um neben dem Gebäude selbst noch Platz für einen Gemüsegarten zu haben, während hinter dem Haus einige Blumenbeete lagen. Beth wohnte nicht zur Miete, das Haus gehörte ihr, und Hunt verbrachte mehr und mehr Nächte dort. Schließlich kam der Punkt, an dem Beth ihn fragte, ob er nicht bei ihr einziehen wolle. Hunt könne ja die Hälfte der monatlichen Hypothek beitragen, fügte sie schnell hinzu, weil sie fürchtete, er könne sich beleidigt fühlen, wenn sie ihm anbot, mietfrei bei ihr zu wohnen.

Zwar wäre Hunt nur zu gern mit Beth zusammengezogen, doch er war noch nicht bereit, sich so schnell festzulegen, und so sagte er ihr in gespieltem Macho-Tonfall, er sei ein Mann, der seine Freiheit brauche. Sie lachte, doch sie verstand, was mit diesem Scherz gemeint war, und so drängte sie ihn zu nichts. Also gingen sie weiter miteinander aus, waren zusammen und hatten Spaß.

Hunts Exfrau Eileen war keine sonderliche Musikliebhaberin gewesen und nur aus Pflichtgefühl auf Konzerte mitgegangen - und auch nur dann, wenn Hunt nicht irgendwelche Kumpel hatte auftreiben können, die ihn begleiteten. Nach der Trauung hatten sie kein einziges Konzert mehr gemeinsam besucht. Im Laufe der Jahre war Hunt träge geworden und ging kaum noch aus; inzwischen zog er es vor, zu Hause zu bleiben und CDs zu hören.

Bei Beth war es genau andersherum. Sie liebte das Nachtleben, und über Internet, die Underground- und Alternativ-Presse hielt sie sich auf dem Laufenden, was die Veranstaltungskalender sowohl der kleineren Clubs als auch der größeren Konzertsäle der Stadt anging. In den ersten drei Monaten, die sie zusammen waren, hatte Hunt mehr Livekonzerte besucht als im ganzen Jahrzehnt zuvor.

An einem Samstagabend, als sie von einem Santana-Konzert kamen, sahen sie eine Bande Chicanos mit kahlrasierten Schädeln und blauen Tattoos, die vor der Halle einen schlaksigen Loser-Typen in leuchtend purpurner Kleidung brutal zwischen sich hin und her schubsten, begleitet von grölendem Gelächter. Hunt führte Beth in die entgegengesetzte Richtung, als auch schon mehrere Polizisten aus der Halle kamen, die Schlagstöcke erhoben.

Vier Tage später sahen sie den gleichen Loser-Typen wieder, dieses Mal vor einem Kino. Es war das Programmkino gleich neben der Universität; Beth und Hunt hatten sich eine französische Komödie angeschaut, angeblich einer der besten Filme des Jahres, doch er hatte sie zu Tode gelangweilt. Vor dem Gebäude galt Parkverbot, also hatten sie den Wagen dahinter abgestellt. Während der Rest des Publikums langsam zum Hauptausgang drängte, verließen sie den Saal durch einen Notausgang, um Zeit zu sparen. Hinter ihnen fiel die schwere Tür ins Schloss - und erst da bemerkten sie den Tumult, der über ihnen am Kopf der Treppe herrschte.

Der Mann trug die gleiche purpurne Kleidung, doch es war eine andere Bande, die ihm dieses Mal zusetzte - vier bärtige, übergewichtige Biker brüllten ihm eine Obszönität nach der anderen entgegen, während sie ihm ins Gesicht und in den Magen boxten und dann, nachdem er zu Boden gestürzt war, auf ihn eintraten. Wahrscheinlich ein Drogendealer, dachte Hunt. Aber Drogendealer oder nicht, Beth war wütend über das, was diese Gang da mit dem wehrlosen Mann anstellte. »Lasst ihn in Ruhe!«, rief sie und stürmte die Treppe hinauf. Innerlich völlig verkrampft, eilte Hunt ihr hinterher und rechnete schon damit, fürchterlich zusammengeschlagen zu werden, doch zu seiner Überraschung liefen die Biker tatsächlich davon. Offensichtlich hatten sie Angst, identifiziert werden zu können. Der Mann, auf den sie eingeschlagen hatten, lag zusammengekrümmt am Boden und presste sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände auf den Leib. Vermutlich war eine Rippe gebrochen, wahrscheinlich sogar mehrere - doch das war es nicht, was Hunt wirklich verängstigte. Es war das Blut, das dem Mann aus den Ohren strömte, beängstigend viel Blut, das zum Teil im rissigen Beton versickerte; der Rest bildete eine Lache, die absurderweise fast so aussah wie eine auf dem Kopf stehende Karte beider Teile des amerikanischen Kontinents.

Hastig tastete Hunt nach seinem Handy. »Ich ruf die Polizei!«

»Nein!«, keuchte der Mann zwischen den Stöhnlauten, die er vor Schmerzen ausstieß. »Keine Bullen!«

»Gleich um die nächste Ecke ist ein Krankenhaus«, sagte Beth. »Am einfachsten wäre es, ihn dahin zu bringen.«

»Ich glaube nicht, dass wir ihn bewegen sollten.«

»Keinen Arzt!«, stieß der Mann hervor.

»Aus Ihrem Ohr läuft Blut, verdammt noch mal!«, sagte Hunt. »Vielleicht haben Sie eine schwere Kopfverletzung. Das könnte Sie umbringen!«

Das schien endlich zu dem Mann vorzudringen. Vor Schmerzen zusammengekrümmt, rollte er sich stöhnend auf die Seite; dann stemmte er sich auf die Knie, eine Hand auf das immer noch blutende Ohr gepresst. »Dann bringt mich hin ... aber keinen Krankenwagen ... keine Bullen.«

Natürlich würden die Ärzte fragen, was geschehen sei, und wahrscheinlich wären sie sogar verpflichtet, die Polizei zu informieren, das wusste Hunt - aber das sollte der Mann selbst herausfinden. Er gab Beth die Wagenschlüssel, und schon lief sie über den Parkplatz hinter dem Kino. Hunt half dem Mann auf die Beine und stützte ihn, als er ihn zum Seitenstreifen führte, wo Beth mit dem Wagen hielt. Sie hatte bereits ein paar Taschentücher aus dem Handschuhfach geholt und reichte sie Hunt, kaum dass sie die Tür hinter dem Fahrersitz geöffnet hatte. »Versuch damit die Blutung zu stillen«, sagte sie. Hunt gab dem Mann die Taschentücher, der sie sich sofort ans Ohr presste.

»Ganz fest drücken«, wies Beth ihn an. »Wir sind gleich da.«

Der Mann lehnte sich im Sitz zurück, rollte sich instinktiv auf die linke Seite und schluchzte leise vor sich hin. Hunt schlug die Tür zu, lief zur Beifahrerseite, sprang in den Sitz, und schon fuhren sie los.

Das Desert Regional Hospital lag tatsächlich in der Nähe; es war weniger als einen Häuserblock entfernt. Beth hielt mit kreischenden Reifen auf einem der Parkplätze, die für Rettungswagen reserviert waren. Dann lief sie zum Eingang der Notaufnahme. Ehe Hunt dem Mann helfen konnte auszusteigen, kamen bereits zwei Pfleger mit einer Krankentrage aus der gläsernen Schiebetür, hoben den Patienten geschickt vom Rücksitz und betteten ihn auf das weiche Kissen, das auf der Trage lag.

Hunt folgte ihnen durch den Eingang, doch dann wurden sie alle von einer streng wirkenden Frau aufgehalten, die sich aus dem Fenster einer kleinen Wachstube lehnte und sich weigerte, den Öffner der Sicherheitstür zu betätigen, der das Wartezimmer vom eigentlichen Krankenhaus trennte. »Ich brauche Informationen über die Versicherung, ehe der Patient zugelassen werden kann«, sagte die Frau. Beth stand neben dem Fenster, aufgebracht und fassungslos.

»Ich habe keine Krankenversicherung!«, heulte der Mann.

»Dann tut es mir leid«, gab die Frau zurück, »dann werden Sie zum County General müssen. Mittellose nehmen wir nicht mehr auf.«

»Ich kann bezahlen«, stöhnte der Mann. »Schauen Sie in meiner Tasche nach.«

»Wir nehmen keine unversicherten Patienten auf.«

»Sie müssen ihn aufnehmen!«, sagte Beth. »Das ist unverantwortlich!«

»Es tut mir leid.«

»Der Mann ist brutal zusammengeschlagen worden und blutet aus dem Ohr. Es könnte eine innere Kopfverletzung sein.«

»Wie ich schon sagte, Sie müssen zum County ...«

»Na gut«, warf Hunt ein. »Dann lassen Sie ihn dort hinbringen!«

»Sie müssen ihn dorthin bringen«, erklärte die Frau. »Wir können keine Krankenwagen entbehren, und der Mann unterliegt nicht unserer Zuständigkeit. Wir sind nicht dafür verantwortlich, dass Sie ihn ins falsche Krankenhaus gebracht haben.«

»Sie müssen uns jetzt hier nicht anmeckern!«, fauchte Beth. Dann wandte sie sich den beiden Pflegern zu. »Können Sie uns helfen, den Mann wieder in unseren Wagen zu schaffen, oder gehört das auch nicht mehr zu Ihrem Job?«

Die Krankentrage wurde den gleichen Weg wieder zurückgerollt, und die Pfleger, denen das alles sehr peinlich zu sein schien, legten den verletzten Mann vorsichtig und so bequem wie nur möglich auf die Rückbank; eines der Kissen aus der Krankentrage ließen sie freundlicherweise unter seinem Kopf.

Dieses Mal setzte Hunt sich ans Steuer, doch er wusste nicht, wohin er fahren musste. »Weißt du, wo dieses Krankenhaus ist?«, fragte er.

Beth nickte. »Bis dort sind es ungefähr zehn Minuten, wenn alle Ampeln grün sind. Fahr los.«

Sie setzten sich in Bewegung. Von der Rückbank kam nur noch Schweigen, und Hunt verstellte den Innenspiegel. Der Verletzte hatte die Augen geschlossen. Er musste das Bewusstsein verloren haben. Hunt fuhr so schnell, wie es erlaubt war, doch nun trat er das Gaspedal tiefer durch und erhöhte die Geschwindigkeit um weitere zehn Meilen die Stunde. Beinahe hoffte er, ein Streifenwagen würde sie anhalten und anschließend mit Blaulicht zum Krankenhaus eskortieren.

Dieses Glück hatten sie nicht.

Die erste Ampel stand auf Grün, bei der zweiten rasten sie über Gelb, und dann wurden sie von einer roten Ampel aufgehalten. Von nun an waren sie im zähfließenden Verkehr eingepfercht und mussten fünf Meilen unter der Höchstgeschwindigkeit bleiben.

Mehrere Häuserblocks vom Krankenhaus entfernt erwachte der Mann wieder. Gerade als sie an einem Supermarkt vorbeikamen, schrie er vor Schmerzen auf.

»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Beth.

»Natürlich nicht!«, schrie er zurück.

»Wir sind fast da.«

»Setzen Sie mich einfach ab«, verlangte er.

»Sie müssen zu einem Arzt«, sagte Hunt. »Vielleicht haben Sie innere Verletzungen oder ...«

»Ich geh ja ins Krankenhaus!«, sagte der Mann mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich weiß, dass ich Hilfe brauche. Ich hab Schmerzen! Es tut so verdammt weh!«

»Wir können Sie nicht einfach hier absetzen.«

»Ich bin nicht versichert. Vielleicht schicken die mich auch weg! Wenn ihr mich einfach nur absetzt und dann verschwindet, müssen die mich nehmen. Ich tu so, als würde ich ohnmächtig, dann haben die gar keine andere Wahl!«

Der Mann hat recht, überlegte Hunt. Vielleicht würde er auch vom zweiten Krankenhaus abgewiesen. Und wohin sollten sie ihn dann bringen?

Hunt fuhr auf den Parkplatz des Krankenhauses und auf das hell erleuchtete NOTAUFNAHME-Schild zu.

»Helft mir rein. Und dann haut ab. Von da an schaff ich es schon.«

Sie hatten keine Zeit mehr, zu diskutieren. »Okay.«

»Hunt ...«, setzte Beth an.

»Der Mann hat recht«, sagte er. »Die müssen ihn behandeln.«

Zu beiden Seiten stützten sie den Fremden und halfen ihm, in die Notaufnahme zu humpeln. Bei jedem Schritt sog er scharf die Luft ein.

»Wie heißen Sie eigentlich?«, fragte Beth, während sie auf den Empfang zuhinkten.

»Ist doch egal.«

Die Dienst habende Krankenschwester schaute sie besorgt an. Sie griff schon nach einem Klemmbrett, auf dem einige Formulare lagen. »Was haben Sie denn?«

»Ich schaff das«, sagte der Mann. »Geht jetzt. Und danke.«

Hunt griff nach Beths Hand und zog sie in Richtung Ausgang. »Ich bin in 'ne Prügelei geraten«, hörte er den Mann hinter sich sagen. »Ich glaube, ich hab 'n paar gebrochene Rippen, und mein Ohr blutet ...«

Dann waren Hunt und Beth durch die Tür.

»Das ist doch nicht richtig so!«, sagte Beth.

»Wir haben getan, was wir konnten. Mehr als die meisten anderen getan hätten. Und wir hatten keine Wahl.« Er öffnete die Tür und stieg in den Wagen. »Wir hätten gleich einen Rettungswagen rufen sollen.«

»Aber hätten die ihn mitgenommen?«

Die Frage konnte Hunt nicht beantworten.

Es war schon nach Mitternacht, und Hunts Haus lag hier deutlich näher als Beths, also kam Beth dieses Mal mit zu ihm. Die Nachbarn feierten eine Party. Den ganzen Häuserblock entlang waren Autos geparkt, und mehrere Pickups waren einfach auf das Baumwollfeld auf der anderen Straßenseite gefahren. Aus einer lärmenden Stereoanlage dröhnte Rapmusik. Offensichtlich lief die Party schon eine ganze Weile, und die Stimmung schien immer noch zu steigen. Die Feier hatte sich bis zu Hunts Hinterhof ausgebreitet, doch er war müde und nicht in der Stimmung, sich jetzt mit einer Horde betrunkener White-Trash-Gestalten anzulegen und mit ihnen über Grundstücke und Hausfriedensbruch zu diskutieren.

Beth und er ignorierten die Nachtschwärmer, gingen ins Haus, schlossen hinter sich ab und fielen ins Bett. Sie waren sogar für Sex zu müde, also küssten sie sich nur züchtig und rollten sich dann jeweils fast bis an die Bettkante - und dort schliefen sie auch prompt ein.

Hunt träumte, der Loser-Typ in den purpurnen Klamotten hätte Beth niedergestochen, und mit wachsender Panik fuhr Hunt nun sie von Krankenhaus zu Krankenhaus, von Tucson über Phoenix bis nach Los Angeles.

Aber niemand wollte sie aufnehmen.

3.


»Meine Fresse«, sagte Joel. »Das ist nicht zu fassen!«

Hunt nickte.

»Was ist bloß mit dem Gesundheitswesen in diesem Land passiert? Wenn wir als Kinder krank geworden sind, sind wir einfach zum Arzt gegangen. Als ich mir mal den Arm gebrochen hatte, sind wir ohne Probleme in die Notaufnahme gekommen. Und unsere Eltern waren nicht gerade reich. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Wir haben die besten Ärzte und die am besten ausgestatteten Krankenhäuser der Welt, die berühmtesten Forscher und die größten Pharma-Unternehmen, die immer neue Mittel herstellen, aber wir können uns nicht mal um Leute kümmern, die zusammengeschlagen wurden, oder um Unfallopfer, oder um Menschen, deren gesundheitliche Probleme leicht zu behandeln sind! Wer hat noch mal gesagt, man solle ein Land danach beurteilen, wie es seine ärmsten Bürger behandelt? Wenn das stimmt, leben wir in einem ziemlich jämmerlichen Land. Ist doch wahr, Mann!«

»Jou«, stimmte Hunt zu, doch seine Gedanken kreisten immer noch um Beth. Ob sie gut versichert war? Gefragt hatte er sie nicht, aber das hätte er wohl tun sollen, erst recht nach diesem entsetzlichen Traum.

»Diese ganze verdammte Medizin heutzutage wird von den Versicherungen zu eigenen Zwecken genutzt, und die letztendlichen Entscheidungen treffen die Bürokraten. Aber die Gesundheitsfürsorge darf nicht profitorientiert sein! Sie ist eine Notwendigkeit und sollte allen und jedem offenstehen.«

Die beiden saßen in Joels Wohnzimmer und hörten ein altes Meat-Puppets-Album, das Hunt aus einem beachtlichen Plattenstapel auf dem Fußboden ausgewählt hatte. Zusammen mit einer Freundin rannte Lilly durchs Zimmer. Die Mädchen waren auf dem Weg zum Hinterhof. Eine Sekunde später hörten sie Stacys Stimme aus der Küche: Sie ermahnte die Mädchen, nicht so durchs Haus zu rennen.

»Es muss doch einen Verbraucherschutz geben, an den man sich wenden kann! Ach verdammt, vielleicht sollte ich einfach unseren Kongressabgeordneten und unsere Senatoren anschreiben. Für irgendwas müssen die doch gut sein!«

Joel lachte.

»Was ist daran so lustig?«

»Du. Der gute alte Hunt. Erinnerst du dich noch an die Junior High? Als Mrs. Halicki dich gezwungen hat, deinen Tisch auf den Gang zu stellen und deine Klausur draußen zu schreiben, weil du ein Ozzy-T-Shirt anhattest? Und wie du die Petition geschrieben hast, sie zu feuern?«

Hunt lachte leise. »Ja. Bloß, dass Mrs. Halicki Wind davon bekam und mir einen Verweis erteilte.«

»Und jedem anderen von uns, die deinen Wisch unterschrieben hatten.«

Lilly streckte den Kopf durch die Tür. »Daddy? Spielt ihr mit uns Basketball, du und Onkel Hunt?«

Joel blickte zu Hunt, worauf dieser lächelte. »Na klar.«

»Ich und Onkel Hunt gegen Kate und Daddy!«, verkündete Lilly, als sie auf den Hof kamen.

»He! Willst du nicht mit deinem Daddy ins gleiche Team?«

Lilly lachte. »Sorry, Daddy!«

»Also gut, Mädchen! Dann wirst du eben untergehen!«


Hunt war erstaunt, wie schnell Joel und er nach einer Pause von fast fünfzehn Jahren wieder zueinander gefunden hatten. Und er war dankbar dafür. Das machte den ganzen Umzug viel einfacher - so einfach sogar, dass Hunt die Umstellung kein bisschen bedauerte und auch gar kein Heimweh hatte. Nicht einmal den einst so geliebten Strand vermisste er. Hunt war einfach froh darüber, nach Tucson zurückgekehrt zu sein. Für ihn schien sich alles zum Besten gewendet zu haben.

Immer noch konnte er kaum fassen, dass Joel tatsächlich Stacy geheiratet hatte. Als Hunt mit Eileen nach Kalifornien gezogen war, hatte er alle Wurzeln gekappt und sämtliche Brücken hinter sich abgerissen; deshalb hatte er auch nicht die Weiterentwicklung seiner alten Freunde und Bekannten im »Leben nach der Schule« miterleben können. Er dachte über sie alle immer noch wie vor fünfzehn Jahren, und dass Joel und Stacy ein Ehepaar waren, erschien ihm noch immer fast unglaublich. Hunt fühlte sich wie jemand, dessen Leben eine Zeitlang wie eingefroren gewesen war, während alle anderen weitergelebt hatten. Doch nun holte er die verlorene Zeit langsam nach, und dabei hatte er das Gefühl, als würde er zwei- oder dreimal die Woche bei seinen Eltern anrufen, um ihnen immer wieder erstaunliche Neuigkeiten mitzuteilen: Mr. Llewelyn war vor zwei Jahren gestorben; Hope Williams hatte sich als Lesbe entpuppt; Dr. Crenshaw war pleitegegangen ...

Seine Eltern, vor allem seine Mutter, freuten sich jedes Mal, Neuigkeiten aus Tucson zu erfahren, doch sie waren alles andere als glücklich darüber, dass ihr Sohn jetzt als Baumbeschneider arbeitete. Hunt hatte sich schon gedacht, wie sie darauf reagieren würden; deshalb hatte er es so lange wie nur möglich aufgeschoben, es ihnen zu sagen. Doch irgendwann ließ es sich einfach nicht mehr verheimlichen. Zunächst hatte Hunt ernstlich in Erwägung gezogen, ihnen zu erklären, er habe diesen Job nur angenommen, weil es auf seinem Fachgebiet einfach keine offenen Stellen gegeben hatte und er dringend Geld brauchte - aber auch wenn das faktisch richtig war, entsprach es doch nicht der Wahrheit. Die Wahrheit war, dass Hunt sich gar nicht mehr um eine Stelle als Computerfachmann bemühte. Schließlich hatte er jetzt einen Job. Vielleicht würde sich irgendwann etwas im Management-Informationssystem des County ergeben, vielleicht auch nicht. Wie auch immer - Hunt machte sich keine Sorgen darüber. Er nahm die Dinge, wie sie sich entwickelten.

Beim Kartenspiel hatten Hunt und Lilly ihre Gegner Joel und Kate vernichtend geschlagen. Nach dem Spiel hatte Joel gefragt, ob Hunt zum Essen bleiben wolle, doch er lehnte ab. In dieser Woche hatte er bereits zweimal bei den McCains gegessen und wollte deren Gastfreundschaft nicht überstrapazieren. Außerdem war er immer noch müde von der letzten Nacht. Er wollte nur noch nach Hause, Beth anrufen, ein bisschen Fernsehen und dann ins Bett.

Als Hunt zu Hause ankam, fand er in seinem Briefkasten ein Schreiben der United Automobile Insurance. Er riss den Umschlag auf und legte die Stirn in Falten. Was wollten die denn? Seine nächste Rate war erst in zwei Monaten fällig. In letzter Zeit hatte er sich weder einen Strafzettel eingefangen noch irgendeinen Unfall gebaut. Ging es vielleicht um seine Heckscheibe? Aber in dieser Sache hatte er die Versicherung gar nicht in Anspruch nehmen müssen: Seine Selbstbeteiligung lag bei zweihundert Dollar, doch es hatte nur hundertfünfundzwanzig gekostet, die Scheibe ersetzen zu lassen, also hatte Hunt die Reparatur ganz aus eigener Tasche bezahlt.

Hunt überflog das Schreiben. Zwar hatte er für die Reparatur die Leistungen der Versicherung nicht in Anspruch genommen, doch er hatte sie informiert, also waren sie verpflichtet, die entsprechenden Informationen weiterzuleiten - so besagte es dieses Schreiben. Auch wenn Hunt keinerlei Schuld an dem Zwischenfall träfe, hieß es, der zu dem Riss in der Heckscheibe geführt habe, sei der Schaden doch zu einem Zeitpunkt entstanden, da er für den Wagen haftete, und zwar zu einem Zeitpunkt, da der Wagen durch die aktuell gültige Police versichert gewesen sei; folglich bliebe der Versicherung keine andere Möglichkeit, als seine Police entsprechend anzupassen.

Hunt schüttelte fassungslos den Kopf, als er die letzte Zeile des Schreibens las.

Seine Versicherung hatte ihm den Schadenfreiheitsrabatt gestrichen.

4.


Langsam spazierten Beth und Stacy durch die Foothills Mall, plauderten und bummelten an den Schaufenstern vorbei. Ein paar Schritte vor ihnen schlürfte Lilly einen Shake von Orange Julius und warf verstohlen einen Blick in das Schaufenster von Victoria's Secret. Dann schaute das Mädchen über die Schulter. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie bemerkte, dass ihre Mutter sie beobachtete. Sofort drehte Lilly sich wieder um.

Als sie an dem Dessous-Geschäft vorbeigingen, deutete Stacy auf das Schaufenster und fragte Beth: »Brauchst du irgendwas?«

Beth lachte.

Es war schon eine Weile her, dass sie das letzte Mal über dieses Thema hatte lachen können - und ihre Freundin hatte die Veränderung offensichtlich bemerkt. Beth wusste nicht recht, ob sie stolz darauf sein sollte oder eher peinlich berührt, doch wie auch immer: Sie war froh, dass ihr Liebesleben sich zum Besseren verändert hatte und dass sie das Leben wieder genießen konnte.

Dass sie Hunt kennen gelernt hatte.

Hunt.

Er war anders als die Männer, mit denen sie ausgegangen war, nachdem Tad sie »abgeschossen« hatte. Tad war gut aussehend gewesen, erfolgreich und charmant, aber er war auch kleinlich gewesen, sehr auf Kontrolle bedacht und hoffnungslos egozentrisch. Hunt war viel sanfter, ausgeglichener und netter. Auch wenn das nicht unbedingt die Eigenschaften waren, die Beth bei einem Mann suchte, hätte man sie gefragt. Doch Hunt war auch - trotz seines offensichtlichen Mangels an Ehrgeiz - viel intelligenter als Tad, und das sprach Beth schon eher an. Aber das Wichtigste war, dass Hunt sie glücklich machte. Sie war gerne mit ihm zusammen und freute sich jedes Mal darauf, ihn wiederzusehen. Ihre Gefühle für Hunt wurden immer stärker, und sie war fast sicher, dass sie es gemeinsam schaffen konnten.

Wäre es nach Beth gegangen, wären sie sofort zusammengezogen, aber sie hatte Verständnis dafür, dass Hunt zögerte, sich so schnell derart fest zu binden. Nach seiner Scheidung war er ein wenig misstrauisch, und das konnte man ihm schwerlich zum Vorwurf machen. Beth selbst jedoch verspürte keine derartige Zögerlichkeit, trotz ihrer eigenen, durchaus emotional belasteten Lebensgeschichte. Sie war schon immer bereit gewesen, Risiken einzugehen, und sie hatte sich schon immer gut darauf verstanden, notfalls rasche Entscheidungen zu fällen. Außerdem hatte sie schon am ersten Abend bei Stacy und Joel beschlossen, dass sie Hunt behalten wollte.

Eine schick gekleidete Frau, die durchaus ein Model hätte sein können, kam mit großen Schritten aus dem Victoria's Secrets und hätte Beth und Stacy beinahe umgerannt. Sie sprach in ihr Handy und nahm die beiden Frauen kaum wahr, während sie vorübereilte und währenddessen weitersprach. »Nein, Tristan«, sagte sie. »Nach dem Schwimmunterricht hast du Karate, und morgen musst du zum Werken ...«

»Hast du das gesehen?«, fragte Beth ungläubig.

»Hast du das gehört?«, gab Stacy zurück.

»Ja. Ihr Sohn tut mir leid.«

»Mir auch. Die Kinder heutzutage haben einen übervollen Zeitplan. Viele bekommen Ballettstunden, Klavierunterricht oder gehen in Sportvereine, um später die Chance auf ein Hochschulstipendium zu haben. Wir haben versucht, das alles bei Lilly auf ein Mindestmaß zu beschränken. Sie ist bei den Pfadfindern, und jetzt hat sie sich für die Schulband angemeldet. Zumindest so viel lässt sich kaum vermeiden.« Sie seufzte. »Das ist nicht mehr wie früher, als wir selbst noch Kinder waren. Die Mädchen heutzutage haben gar nicht mehr die Zeit, im Einkaufszentrum herumzuhängen oder zusammen zu Hause zu sitzen, zu tratschen und verschiedene Nagellackfarben auszuprobieren.«

»Ja, ist irgendwie schade. Kinder sollten auch ein bisschen Zeit haben, die nicht total verplant ist. Lasst Kinder doch Kinder sein!«

Stacy nickte. »Und die Zeit verfliegt so schnell. Mir kommt es vor, als wäre Lilly gestern noch in Windeln herumgelaufen. Und jetzt dauert es nur noch ein paar Jahre, dann ist sie ein Teenager.«

»Jedenfalls hast du bei deiner Tochter gute Arbeit geleistet. Sie ist ein prächtiges Mädchen.«

»Das ist sie.« Vielsagend blickte Stacy zu Beth hinüber. »Hast du schon mal an eigene Kinder gedacht?«

»Aber Stacy!«

Abwehrend hob sie die Hand. »Ich meine, ganz allgemein. Nicht konkret, und nicht unbedingt mit Hunt. Ich habe mich nur gefragt, ob du dich irgendwann in der Zukunft als Mutter siehst.«

»Weil meine biologische Uhr tickt?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Nein, das habe ich gesagt. Ja, natürlich habe ich schon darüber nachgedacht. Ganz allgemein, nicht konkret.« Sie hielt inne und lächelte. »Und in letzter Zeit auch nicht ganz so allgemein.«

»Aha!« Stacy grinste. »Hunt könnte schon der Richtige sein.«

»Valley Girl.«

»Was soll das jetzt heißen?«

»Am Ende von Valley Girl, als Nicolas Cage mit dem Mädchen den Abschlussball verlässt und die Band auf der Bühne ist. Da fängt die Sängerin - ich glaube, es war Josie Cotton - mit diesem Song an:He could be the one ...« Erst jetzt bemerkte Stacy die Verständnislosigkeit in Beths Miene. »'tschuldigung. War wohl vor deiner Zeit.«

»So viel jünger als du bin ich nun auch nicht!«

»Nimm jedes Kompliment mit, das du kriegen kannst.«

»Mommy!«, rief Lilly.

Als die beiden Frauen das Mädchen erreichten, spähte Lilly gerade durch die Fensterscheibe einer Zoohandlung und beäugte drei junge rote Kätzchen, die sich spielerisch über ein mit Teppich bezogenes Regal rollten.

»Kriege ich eine Katze?«

»Da musst du deinen Vater fragen«, sagte Stacy. »Und das weißt du auch.«

»Das heißt dann wohl nein.«

»Ich habe dir schon mal gesagt: Wenn du deinem Dad beweist, dass du die Verantwortung für eine Katze übernehmen kannst, wird er dir eine kaufen.«

»Aber ich kann ihm nicht beweisen, dass ich mich um ein Haustier kümmern kann, solange ich keins habe. Das ist doch ein Teufelskreis.«

Stacy lachte. »Ein Teufelskreis? Woher kennst du denn den Ausdruck?«

»Ich höre zu«, sagte Lilly. »Ich passe gut auf.«

»Kleine Kinder, große Ohren«, warnte Beth lächelnd.

»Was ist mit Hunt?«, fragte Stacy. »Meinst du, der mag Katzen?«

»Wird er schon«, versprach Beth. »Wird er schon.«


»Courtney!«

Beth stellte ihre Einkaufstaschen auf den Küchentisch und schaute sich nach der Katze um. Normalerweise begrüßte Courtney sie in dem Augenblick, da sie zur Tür hereinkam. Doch das Klappern des Schlüssels im Schloss und ihre Schritte hatten das Tier dieses Mal noch nicht angelockt, also rief Beth noch einmal: »Courtney!«

Aus dem Wohnzimmer war ein Miauen zu hören, und Beth folgte dem Geräusch. »Courtney?«, rief sie leise. Die Katze - eigentlich ein Kater, aber Beth hatte der Name Courtney so gut gefallen, dass sie über derartige Kleinigkeiten hinwegsehen konnte - saß vor dem Durchgang zum Flur, stocksteif, den Blick unverwandt auf das Schlafzimmer am anderen Ende der Diele gerichtet. Unwillkürlich lief Beth ein Angstschauer über den Rücken - eine Regung, die sie gar nicht zur Kenntnis nehmen wollte. »Was machst du denn?«, fragte sie und hob den Kater hoch. Courtneys Muskeln waren starr, fast zum Zerreißen gespannt. Beth hielt ihn sich vors Gesicht, schaute ihm in die grünen Augen. Erst jetzt entspannte er sich und maunzte sein Frauchen fröhlich an.

»Komm, holen wir uns ein Leckerchen.« Beth trug Courtney in die Küche zurück. Sie wusste nicht, warum das Tier so angespannt gewesen war und was es am Ende des Flures gesehen zu haben glaubte, doch es machte Beth nervös, und sie hatte Angst, nachzusehen.

Sie wünschte, Hunt wäre hier.

Das war ein weiterer Grund, warum sie sich so sehr wünschte, er würde bei ihr einziehen - auch wenn Beth es nur sich selbst gegenüber eingestanden hätte. In letzter Zeit hatte sie ein seltsames Gefühl, was dieses Haus betraf. Immer wieder gab es Augenblicke, in denen sie aufschreckte oder sich ohne jeden erkennbaren Grund unwohl fühlte. Wahrscheinlich kam es daher, dass sie zu lange alleine gelebt hatte. Doch es war immer noch beunruhigend, und sie fühlte sich viel besser, wenn Hunt bei ihr war.

»Schauen wir doch mal, was wir heute gekauft haben«, sagte sie, einfach nur, um eine Stimme zu hören, irgendeine Stimme, und wenn es ihre eigene war. Sie kramte in der ersten Tasche. »Neue Turnschuhe. Und neue Socken. Endlich.« Sie öffnete die zweite Tasche. »Jeans! Jetzt habe ich endlich wieder eine Hose, die mir passt!«

Irgendwo im hinteren Teil des Hauses - es hörte sich an, als käme es aus ihrem Schlafzimmer - war ein leises, stetiges Klopfen zu hören, wie Holz, das auf Holz trifft; in der Stille des Hauses erschien es Beth widernatürlich laut.

Courtney fauchte und machte einen Buckel; dann wich er von seinem Fressnapf zurück.

Da ist nichts, sagte sich Beth. Doch als sie die möglichen Ursachen für das Geräusch durchging - Wasserleitungen, spielende Kinder vor dem Haus, das Fundament, das sich ein wenig setzte, Ratten -, erschien ihr nichts davon plausibel.

Was wäre ihr denn plausibel erschienen?

Sie wehrte sich gegen diesen verrückten Gedanken, wollte gar nicht erst weiter darüber nachdenken. Aber sie dachte darüber nach. Und auch, wenn es helllichter Tag war, auch wenn alle Gardinen offen waren, erschien ihr das Innere des Hauses plötzlich finster und bedrohlich. Durch das Küchenfenster konnte sie die Außenwelt sehen: ihren Wagen, den Vorgarten ihrer Nachbarn, der Valdez, ein Flugzeug am Himmel. Normale, alltägliche Dinge, die Beth jedoch plötzlich eine Million Meilen weit entfernt zu sein schienen.

Sie öffnete eine Küchenschublade und nahm das große Tranchiermesser heraus. Sie umklammerte das Heft, ging aus der Küche durchs Wohnzimmer und nach kurzem Zögern in die Diele. Einen Augenblick hatte das Klopfen aufgehört - wie eine Grille, wenn jemand sich näherte -, doch fast sofort setzte es wieder ein. Nun erkannte Beth, woher das Geräusch kam: aus dem Gästezimmer.

Langsam ging sie weiter und versuchte, keinen Laut zu machen. Die Tür zum Gästezimmer war geschlossen, auch wenn Beth sie sonst immer offen ließ. Nun stand sie davor und lauschte dem Klopfen, das hinter der Tür zu hören war. Sie wusste nicht, was sie erwartete, doch unwillkürlich ging ihr eine Szene aus einem alten Kinderbuch durch den Kopf - eine Gruselgeschichte über ein Haus, in dem der Geist eines alten Schusters spukte. Beth stellte sich vor, wie sie das Zimmer betrat und in einer Ecke eine verschrumpelte Gestalt vorfand, ein weißhaariges Gespenst mit einem weißen Totenschädel anstelle eines Gesichts; die Gestalt saß an einem kleinen Tisch in einem uralten Stuhl und arbeitete wie besessen an einem Paar ebenso geisterhafter Schuhe.

Das Klopfen wurde allmählich leiser und verstummte dann völlig. Dann erklang es wieder mit voller Lautstärke - ein lautes, stetes Hämmern. Vor ihrem geistigen Auge sah Beth riesige grüne Fingerknöchel, die gegen die Tür pochten und Einlass begehrten.

Ihr Instinkt riet ihr, davonzulaufen und sofort das Haus zu verlassen, doch sie blieb stehen, zwang sich mit aller Kraft, nicht die Flucht zu ergreifen.

Sie riss sich zusammen, öffnete die Tür und trat ein.

Da war gar nichts.