"Gezeitensturm" - читать интересную книгу автора (Sheffield Charles)Prolog Expansion 1086 (3170 n. Chr.)Das Schweigen, das siebenundneunzig Jahre gedauert hatte, fand ein Ende. Fast ein Jahrhundert lang hatte das Innere des Schiffes nicht eine einzige menschliche Stimme gehört, nicht ein einziges Mal den Schritt eines Menschen auf den Decks gespürt. Flüsternd bahnte sich das Schiff seinen Weg zwischen den Sternen hindurch, die Passagiere befanden sich bei einer Temperatur, die fast am absoluten Nullpunkt lag, in einem traumlosen Paratod. Einmal im Jahr wurden die Körper auf die Temperatur flüssigen Stickstoffs erwärmt, während ihnen gemeinsame Erlebnisse aus der zentralen Datenbank des Schiffes eingespeist wurden: Erinnerungen an die einhundert Jahre währende interstellare Reise für Körper, die währenddessen weniger als einen Tag gealtert waren. Als die letzten Wochen des Abbremsvorgangs gekommen waren, wurde es Zeit, das gemeinsame Erwachen einzuleiten. Wenn das Ziel erreicht wäre, mochte es erforderlich sein, Entscheidungen zu fällen, die über das Urteilsvermögen von Maschinen hinausgingen: eine Vorstellung, die für den Hauptcomputer des Schiffes — der erste seiner Art, der mit Karlan-Emotional-Schaltungen ausgestattet war — zugleich beleidigend und plausibel war. Die erste Aufwärmstufe wurde eingeleitet. Interne Sensoren fingen das beruhigende Flattern wiederkehrenden Herzschlags auf, das erste Seufzen und das Geräusch ein- und ausströmender Luft wieder ihre Tätigkeit aufnehmender Lungen. Die Mannschaft für den Noteinsatz musste zuerst geweckt werden, immer in Zweiergruppen, nach der Maßgabe: wer als Letzter in Schlaf versetzt wurde, steht als Erster wieder auf; und erst, wenn diese Mannschaft ihre Zustimmung erteilte, würden auch die anderen aufstehen dürfen. Das erste Paar trieb langsam in Richtung Bewusstsein, und beide beschäftigte nur eine einzige Frage: Waren sie angekommen — oder war der Kälteschlaf aus einem anderen Grund ausgesetzt worden? Man hatte den Computer darauf programmiert, sie nur aus dreierlei Gründen zu wecken: Man würde ihren Schlaf stören, wenn sich das Schiff endlich seinem Bestimmungsort näherte, Lacoste 32 B, einem kleineren Zwergstern der Klasse G2, der drei Lichtjahre jenseits des rosaroten Sternenleuchtfeuers von Aldebaran lag; man würde sie wecken, wenn an Bord des Schiffes, einem Ellipsoid von einem halben Kilometer Länge, ein Problem auftauchte, das schwerwiegend genug war, als dass die Computer es nicht ohne Interaktion mit den Menschen würden lösen können. Oder, die letzte Möglichkeit, man würde sie aus ihrem Winterschlaf aufstören, wenn einer der ältesten Träume der raumfahrenden Menschheit wahr geworden wäre. Zunächst waren ein Mann und eine Frau geweckt worden. Sie kämpften gegen die Mattigkeit eines Schlafes von einem Jahrhundert Dauer an, fragten über Bedienfelder den internen Status des Schiffes ab und teilten Erleichterung miteinander: Es war an Bord nicht zu einer Katastrophe gekommen. Im Nachrichten-Center lag kein dringender Bericht für sie, keine Meldung über einen bedeutenden wissenschaftlichen Durchbruch. Es würde keine Feier von Superluminalreisenden geben, die diese viel zu spät eintreffenden Kolonisten auf Lacoste willkommen hießen. Vor dem Schiff war bereits wie ein nacktes Auge ihr Zielgestirn zu erkennen. Gravitative Perturbationen des Sterns hatten schon vor langer Zeit die Existenz wenigstens zweier Planetenriesen vermuten lassen. Jetzt konnte diese Vermutung durch unmittelbare Beobachtung bestätigt werden, und dazu die Existenz fünf weiterer, kleinerer Himmelskörper, die sich in der Nachbarschaft des sonnennäheren Planeten befanden. Die Frau erholte sich schneller als der Mann. Sie verließ als Erste die Schindler-Kälteschlafkabine, erhob sich in dem Schwerefeld von einem Zehntel-G, und machte sich dann daran, die externen Displays zu begutachten. Leise stieß sie ein Brummen aus, ihre noch träge reagierenden Stimmbänder formten ein zufriedenes Grunzen, und dann räusperte sie sich versuchsweise. » Und da war es auch. Die Scheibe von Lacoste, die aussah, als bestünde sie aus geschmolzenem Gold, befand sich genau in der Mitte des vorderen Schirms. Zwei Minuten später trat der Mann neben sie, immer noch wischte er sich das schützende Gel aus dem Gesicht. Wie um schweigend zu gratulieren, berührte er ihren Arm, erleichtert, liebevoll. Sie waren Lebenspartner. »Es wird Zeit, die anderen zu wecken.« »In ein paar Minuten«, gab sie zurück. »Denk an Kapteyn! Wir müssen erst einmal sicherstellen, dass wir hier wirklich etwas haben.« Das abschreckende Beispiel von Kapteyn war tief in der Erinnerung eines jeden Raumerkunders eingebrannt: acht Planeten, alle anscheinend mit wunderbarem Potenzial; und alle acht erwiesen sich bei genauerer Untersuchung als völlig unbrauchbar, weder als Standort für menschliche Siedlungen geeignet noch dazu, dort wenigstens die weitere Versorgung zu sichern. An Bord des Kolonieschiffes, das Kapteyn erreicht hatte, war ein zu großer Anteil der Vorräte aufgebraucht worden, um noch ein weiteres Ziel ansteuern zu können. »Wir sind nur zwei Lichttage entfernt«, fuhr sie fort. »Wir können mit den Scans anfangen. Schauen wir erst, ob es eine Sauerstoffatmosphäre gibt, bevor wir jemand anderen wecken!« Der Bordcomputer griff ihren Befehl auf und reagierte sofort. »Was zum Teufel ist denn Der Computer schwieg. Die Frage war für ihn bedeutungslos. In der Mitte des Bildschirms war ein Planet erschienen, eine blaugraue Kugel, die bereits genügend detailliert dargestellt wurde, um die breiten Bänder und Verwirbelungen atmosphärischer Zirkulationstypen erkennen zu lassen. Doch zugleich konnte man auch ein Netzwerk aus undeutlich erkennbaren Linien und hellen Spiralen sehen, die den ganzen Planeten einhüllten und ihn mit seinen zahllosen Lichtfäden festzuhalten schienen. »Irgendjemand ist vor uns hier angekommen …« Die Frau ließ den Satz ausklingen, ohne ihn zu beenden. Das Informationsnetzwerk zwischen den einzelnen bewohnten Planeten war ständig im Einsatz. Der Informationsaustausch war zwar auf Lichtgeschwindigkeit beschränkt, doch selbst vor diesem Hintergrund konnte die Frau nicht glauben, dass irgendein Schiff von Raumerkundern nach Lacoste ausgeschickt worden war, ohne dass sie hier davon gewusst hätten. Und wenn ein anderes Schiff hier bereits angekommen wäre, dann ging das, was sie hier mit eigenen Augen sahen, weit über das hinaus, was eine Erkundungskolonie innerhalb weniger Jahre hätte bewerkstelligen können. Oder auch innerhalb weniger Jahrhunderte. »Panorama-Ansicht wählen.« Der Computer hörte ihre Worte und passte die Darstellung entsprechend an. Der Planet schrumpfte bis auf Erbsengröße zusammen, war nur noch ein heller Punkt auf der Mitte des Bildschirms. Nun war deutlich der Nimbus zu erkennen, der von ausgedehnten Konstruktionsarbeiten im All rings um den Planeten zeugte: ein schimmerndes, wie Perlmutt glänzendes Gerüst, von dem der Planet eingehüllt wurde wie eine Perle von der Auster. Dünne Fäden, ihrerseits Gerüststränge, erstreckten sich schier endlos weit ins All, wurden dünner und dünner, bis sie so zart waren, dass die Auflösung der beobachtenden Sensoren sie nicht mehr darzustellen vermochte. »Die sind nicht von uns, Tamara«, stellte der Mann leise fest, »die sind nicht von uns!« Das war nicht die Arbeit von Menschen; nicht einmal die ringförmig angelegten Straßen, die den Planeten Erde umspannten, kamen dem, was sie hier sahen, in Größe und Komplexität auch nur ansatzweise nahe. Manche dieser spiralförmig verlaufenden Filamente mussten mehr als vierhunderttausend Kilometer lang sein, und dabei mehrere Kilometer breit. Sie hätten eigentlich aufgrund der Gravitationskräfte des Planeten selbst instabil sein müssen, ebenso aufgrund der Gezeiten-Perturbationen und auch aufgrund von den Wechselwirkungen dieser Kräfte untereinander. Doch das war eindeutig nicht der Fall. »Es wird Zeit, die anderen zu wecken«, meinte Tamara. »Und dann?« »Und dann …« Sie seufzte. »Und dann … ich weiß nicht, was wir dann machen sollen. Wir haben es endlich geschafft, Damon! Wir haben eine andere intelligente Spezies gefunden! Und dann auch noch eine technisch höher entwickelte als wir. Aber wenn die Drei Wochen später durchstreiften die Pinassen des Schiffes die Venen und Arterien dieses Weltraum-Artefakts. Fünfzehn Tage lang hatte das Mutterschiff sich regungslos in fünf Kilometern Entfernung aufgehalten; sie warteten auf einen Kontakt mit dem Planeten, zu dem sie Radio- und Laser-Signale hinuntergeschickt hatten, rechneten fest damit. Die Antwort allerdings war völliges Schweigen. Schließlich hatten sie sich weiter angenähert und mit der unmittelbaren Erkundung begonnen. Die nebelschwadenartigen Filamente auf dem Bildschirm entpuppten sich als ein verzahntes Gerüst, aus dem das ganze Artefakt bestand. Diese Filamente reichten bis zur Oberfläche des Planeten selbst hinunter, einer unbewohnten Welt, die für die Kolonisierung durch Menschen äußerst geeignet schien. Aber diese Filamente reichten auch weit in den Weltraum hinaus, und über ihren Zweck vermochte die Besatzung nicht einmal Vermutungen anzustellen. Und diesen Zweck konnten sie auch nicht von den Bewohnern des Artefakts in Erfahrung bringen. Wie der Planet war auch dieses Artefakt unbewohnt. Tamara und Damon Savalle führen mit ihrer Pinasse an einem dieser Filamente entlang, einer Röhre aus einem Metall-und-Polymer-Verbund, die drei Kilometer breit war und etwa fünfzigtausend Kilometer lang. Wartungsmaschinen bewegten sich entlang der inneren Oberfläche, dies jedoch so langsam, dass es schwer war, die Bewegung überhaupt auszumachen. Die kleine Pinasse ignorierten diese Maschinen vollständig. Tamara saß am Kommunikations-Tastfeld und hielt Kontakt mit dem Mutterschiff. »Das bestätigt unsere Analyse bezüglich der Meteoriteneinschläge«, meinte sie. »Mindestens zehn Millionen Jahre alt, seit mehr als drei Millionen Jahren unbewohnt. Und ich weiß nicht, was es da zu grinsen gibt!« »Tut mir leid.« Aber danach sah Damon nicht aus. »Ich habe nur gerade an das alte Paradoxon aus der Prä-Expansions-Zeit gedacht: Wenn es Außerirdische gibt, Sie zuckte mit den Schultern. Damons Frage sollte für mehr als dreitausend weitere Jahre unbeantwortet bleiben. Doch während Tamara und Damon das Artefakt anstarrten und anstaunten, erreichte ein schwaches Signal das Mutterschiff, ausgesendet von einer kleinen, kaum überlebensfähigen Kolonie auf Eta Cassiopeiae A. Sie berichtete von einer faszinierenden neuen Theorie aus der Physik, in der es um die Bose-Einstein-Statistik ging, und unterbreitete zugleich einen Vorschlag für ein raffiniertes, schwieriges Experiment, durchzuführen im Tiefenraum, das weit über die begrenzten Möglichkeiten und Ressourcen der kleinen Kolonie hinausging. Da sich nun alle, die sich im Lacoste-System befanden, so sehr auf die Baumeister konzentrierten, blieb diese neu eingetroffene Nachricht vollständig unbeachtet. Doch die Baumeister waren schon lange fort, während der Superluminal-Transport bereits auf dem Wege war. Die Korridore des Inneren von ›Kokon‹ werden ausgiebig von Phagen (vgl. Eintrag 1067) patrouilliert. Forscher müssen kontinuierlich auf deren Anwesenheit achten. Die Filamente von ›Kokon‹ werden durch ein Gleichgewicht aus Schwerkraft, rotierenden Bezugsrahmen und dem Druck der stellaren Strahlung in Position gehalten. Keine uns bisher nicht bekannte Wissenschaft ist erforderlich, um diese Stabilität zu erklären, auch wenn die gesamte Anlage dieser Struktur darauf schließen lässt, dass gewaltige, diskrete Optimierungsprobleme gelöst wurden, die derzeit die Kapazität auch der besten Computer, die in der Clade verfügbar sind, übersteigen. Elefant (vgl. Eintrag 859) wurde dieses Problem vorgelegt, und er legte eine bedingte Lösung nach einer Rechenzeit von vier Standardjahren vor (das so genannte ›Kokon‹-Bedingungs-Problem). |
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