"Zeit der Gespenster" - читать интересную книгу автора (Picoult Jodi)
Was, wenn du schliefest? Und was, wenn du träumtest in deinem Schlaf? Und was, wenn du träumend in den Himmel kämest und dort eine seltsame, schöne Blume pflücktest? Und was, wenn du beim Erwachen jene Blume in der Hand hieltest? Ah! Was dann? SAMUEL TAYLOR COLERIDGE TEIL EINS2001 FRANÇOIS VI., DUC DE LA ROCHEFOUCAULD, MAXIME 76 Als Ross Wakeman sich das erste Mal umbrachte, hatte er Erfolg, anders als beim zweiten oder dritten Mal. Er schlief am Steuer seines Wagens ein und fuhr von einer Brücke in einen See. Das war das zweite Mal. Seine Retter fanden ihn am Ufer. Als man seinen Honda barg, waren alle Türen verriegelt und die Fenster aus Sicherheitsglas waren von unzähligen Sprüngen durchzogen. Kein Mensch konnte sich erklären, wie er aus dem Auto herausgekommen war und dabei nicht einmal einen Kratzer abgekriegt hatte. Beim dritten Mal wurde Ross in New York auf der Straße überfallen. Der Täter nahm ihm die Brieftasche ab, schlug ihn zusammen und schoss ihm dann in den Rücken. Die Kugel hätte ihm aus der kurzen Entfernung das Schulterblatt zerschmettern und einen Lungenflügel durchbohren müssen, doch stattdessen wurde sie wie durch ein Wunder von dem Knochen abgebremst. Das Bleikügelchen trägt Ross jetzt als Schlüsselanhänger bei sich. Das erste Mal war vor etlichen Jahren, als Ross in ein Gewitter geraten war. Der Blitz war aus dem Himmel gezuckt, genau auf sein Herz zu. Die Ärzte teilten ihm mit, dass er sieben Minuten lang klinisch tot gewesen war. Sie folgerten, dass Ross nicht direkt von dem Stromschlag getroffen worden sein konnte, weil bei einer Spannung von 50 000 Ampere in der Brusthöhle die Feuchtigkeit in den Zellen verdampft und er im wahrsten Sinne des Wortes geplatzt wäre. Der Blitz musste demnach ganz in der Nähe eingeschlagen haben und hatte in Ross’ Körper einen Induktionsstrom erzeugt, der zu einer Herzrhythmusstörung geführt hatte. Die Ärzte sagten, dass er ein echter Glückspilz sei. Sie irrten. Und nun, als Ross das nasse Dach des Hauses der O’Donnells in Oswego hochkletterte, verschwendete er keinen Gedanken mehr an Sicherheitsmaßnahmen. Der Wind, der vom Lake Ontario heranwehte, war selbst im August noch kalt und peitschte ihm das lange Haar ins Gesicht, als er sich um das Giebelfenster herummanövrierte. Der Regen prasselte ihm in den Nacken, während er mit der Blitzlichthalterung hantierte und die wasserdichte Videokamera auf den Speicher ausrichtete. Seine Stiefel rutschten ab und verschoben ein paar Schindeln. O’Donnell, der unter einem Regenschirm stand, spähte zu ihm hoch. »Vorsicht«, rief er. Und Ross hörte auch, was er nicht aussprach: Aber ihm würde nichts passieren. Er würde nicht ausgleiten, er würde nicht abstürzen. Deshalb übernahm er freiwillig die riskantesten Einsätze, deshalb brachte er sich wieder und wieder in Gefahr. Deshalb hatte er Bungee-Springen und Free Climbing und Crack ausprobiert. Er winkte zu Mr. O’Donnell hinunter, um ihm zu signalisieren, dass er ihn verstanden hatte. Aber ebenso sicher, wie Ross wusste, dass in acht Stunden die Sonne aufgehen würde – ebenso sicher, wie er wusste, dass er wieder einen Tag durchstehen musste –, ebenso sicher wusste er, dass er nicht sterben konnte, obwohl er sich nichts sehnlicher wünschte. Das Baby weckte Spencer Pike, und er setzte sich schwerfällig auf. Trotz der Nachtbeleuchtung, die in jedem Zimmer des Pflegeheims Shady Pines brannte, konnte Spencer nicht weiter als bis zum Fußende seines Bettes sehen. Er konnte in letzter Zeit gar nichts mehr sehen, wegen des grauen Stars auf beiden Augen; aber manchmal, wenn er aufstand, erhaschte er in dem Spiegel, an dem er vorüberkam, einen flüchtigen Blick von jemandem, der ihn beobachtete – jemand, dessen Gesicht nicht fleckig und gelb war, jemand, dem die Haut nicht schlaff von den Knochen hing. Jemand, der er früher einmal gewesen war. Hören konnte er allerdings noch gut. Verdammt, er hörte Dinge, die er nicht hören wollte. Das Baby weinte erneut los. Spencers Hand huschte über die Decke zu dem Klingelknopf neben dem Bett. Einen Moment später kam die Nachtschwester herein. »Mr. Pike«, sagte sie. »Was ist los?« »Das Baby weint.« Die Schwester schüttelte sein Kissen auf. »Hier gibt es keine Babys, Mr. Pike, das wissen Sie doch. Sie haben geträumt.« Sie tätschelte seine hagere Schulter. »So, jetzt wird aber schön weitergeschlafen.« Warum, fragte Spencer sich, sprach sie mit ihm, als wäre er ein Kind? Und wieso verhielt er sich wie eines, ließ zu, dass sie ihm die Decke bis über die Brust zog? Eine Erinnerung drang Spencer in die Kehle, etwas, das er nicht ganz bis vor die Nebelwand ziehen konnte, das ihm aber Tränen in die Augen trieb. »Brauchen Sie etwas Naproxen?«, fragte die Schwester freundlich. Spencer schüttelte den Kopf. Schließlich war er mal Wissenschaftler gewesen. Und noch hatte kein Labor das Medikament entwickelt, das seinen Schmerz lindern könnte. In natura war Curtis Warburton kleiner, als er im Fernsehen wirkte, aber es mangelte ihm nicht an dem Charisma, das »Zuerst in der Küche«, murmelte Eve O’Donnell, und ihr Mann nickte. Das Rentnerehepaar hatte sich dieses Haus am See als Sommerwohnsitz gekauft, und in den drei Monaten, seit die beiden hier wohnten, hatten sie mindestens zweimal in der Woche übernatürliche Phänomene beobachtet. »Gegen zehn Uhr morgens hab ich alle Türen abgeschlossen, die Alarmanlage eingeschaltet und bin zur Post gefahren. Als ich zurückkam, war die Alarmanlage noch immer eingeschaltet … aber in der Küche standen alle Schränke offen, und die Frühstücksflocken lagen überall auf dem Tisch. Ich hab Harlan angerufen, weil ich dachte, er wäre vielleicht zwischendurch nach Hause gekommen und hätte das Chaos angerichtet.« »Ich war aber die ganze Zeit über im Elks Club«, warf ihr Mann ein. »Ich war nicht im Haus. Keiner war da.« »Und dann haben wir nachts um zwei von oben auf dem Speicher diese Dampforgelmusik gehört. Sobald wir hinaufgingen, hörte sie auf. Und als wir die Tür aufgemacht haben, stand da ein Spielzeugklavier für Kinder, ohne Batterien, mitten im Raum.« »Wir haben kein Spielzeugklavier«, fügte Harlan hinzu. »Und ein Kind schon gar nicht.« »Als wir dann Batterien reingetan haben, hat es gar nicht die Musik gespielt, die wir gehört hatten.« Eve zögerte. »Mr. Warburton, Sie verstehen hoffentlich, dass wir keine Leute sind, die … die an solche Sachen glauben. Aber … Aber wenn es »Mrs. O’Donnell, Sie werden nicht verrückt.« Curtis berührte mitfühlend ihre Hand. »Morgen früh haben wir bestimmt schon eine genauere Vorstellung davon, was in Ihrem Haus vor sich geht.« Er schaute über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass Ross auch alles filmte. Je nachdem, wie sich die Dinge entwickelten, könnte er einen Beitrag über die O’Donnells in »Haben Sie irgendwelche Geistervisionen gehabt?«, fragte Curtis. »Temperaturschwankungen erlebt?« »In unserem Schlafzimmer ist es manchmal höllisch heiß, und von einer Minute zur nächsten wird uns eiskalt«, antwortete Harlan. »Gibt es irgendwelche Bereiche im Haus, in denen Ihnen besonders unbehaglich zumute ist?« »Der Speicher, ganz eindeutig. Und das Badezimmer im ersten Stock.« Curtis’ Augen huschten von dem handgeknüpften Orientteppich zu der antiken Vase auf dem Kaminsims. »Ich muss Sie warnen, dass eine Geistersuche eine kostspielige Angelegenheit werden kann.« Als Warburtons Feldforscher hatte Ross in Bibliotheken und Zeitungsarchiven nach Dokumenten über das Grundstück der O’Donnells gesucht – in der Hoffnung, dabei auch auf Informationen zu stoßen, dass sich hier ein Mord oder Selbstmord ereignet hatte. Seine Nachforschungen hatten nichts dergleichen ergeben, aber das war für Curtis kein Hinderungsgrund. Schließlich konnte ein Geist sowohl eine Person als auch einen Ort heimsuchen. Geschichte konnte wie ein schwacher Duft in der Luft schweben oder wie eine Erinnerung sein, die sich auf der Innenseite der Augenlider eingeprägt hat. »Der Preis spielt keine Rolle«, sagte Eve O’Donnell. »Natürlich nicht.« Curtis lächelte. »Also dann. Ran an die Arbeit.« Das war Ross’ Stichwort. Während der Ermittlungen war er für Aufbau und Überwachung der elektromagnetischen Ausrüstung, der digitalen Videokameras, des Infrarotthermometers zuständig. Er arbeitete für einen Hungerlohn, obwohl die Sendung im Fernsehen und Fälle wie dieser hier viel Geld einbrachten. Vor neun Monaten hatte Ross die Warburtons um einen Job bekniet, nachdem er in der »Ich würde mir gern mal den Speicher ansehen«, sagte Ross. Er wartete an der offenen Tür, bis Eve O’Donnell vor ihm her nach oben ging. »Ich komme mir albern vor«, gestand sie, obwohl Ross sie nicht danach gefragt hatte. »Dass ich in meinem Alter auf einmal Gespenster sehe.« Ross lächelte. »Ein Geist kann einen Menschen ganz schön durcheinanderbringen und ihm das Gefühl geben, er wäre verrückt, aber ein Geist tut dem Menschen nichts.« »Oh, ich glaube nicht, dass sie mir was tun würde.« »Sie?« Eve zögerte. »Harlan meint, wir sollten Ihnen von uns aus keine Informationen geben. Und wenn Sie dann das, was wir sehen, auch sehen, hätten wir die Bestätigung.« Sie fröstelte, blickte die schmale Treppe hinauf. »Meine kleine Schwester ist gestorben, als ich sieben war. Manchmal frage ich mich … ob ein Geist einen Menschen finden kann, wenn er will?« Ross wandte den Blick ab. »Ich weiß es nicht«, sagte er. Seine Augen verweilten auf der kleinen Tür oben an der Treppe. »Ist es da?« Sie nickte, ließ ihn vor, damit er die Tür entriegeln konnte. Die Videokamera, die Ross draußen angebracht hatte, beobachtete sie durchs Fenster, ein Zyklopenauge. Eve schlang sich die Arme um den Oberkörper. »Ich krieg hier oben Gänsehaut.« Ross rückte ein paar Kisten beiseite, damit auf dem Band keine Schatten zu sehen sein würden, die leicht zu erklären wären. »Curtis sagt, so weiß man, wo sie zu finden sind. Man orientiert sich an seinem Instinkt.« Ein Blinken auf dem Boden erregte seine Aufmerksamkeit. Er ging in die Knie und hob eine Handvoll Pennys auf. »Sechs Cent.« Er lächelte. »Komisch.« »Manchmal macht sie so was.« Eve schob sich Richtung Tür. »Lässt uns Kleingeld da.« »Der Geist?«, fragte Ross und drehte sich um, aber Eve war schon die Treppe hinuntergeflüchtet. Er holte tief Luft, schloss die Speichertür und löschte das Licht, sodass der Raum in Dunkelheit versank. Er trat zur Seite, wo die Kamera ihn nicht erfassen konnte, und schaltete sie per Fernbedienung ein. Dann konzentrierte er sich auf die Finsternis, die ihn umgab, ließ sie schwer lasten auf seiner Brust und in seinen Kniekehlen, wie er es von Curtis Warburton gelernt hatte. Ross öffnete seine Sinne, bis seine Zweifel nachließen, bis der Raum um ihn herum erblühte. Irgendwo links von ihm hörte er einen Schritt und das unverkennbare Klimpern von Münzen auf dem Boden. Ross schaltete eine Taschenlampe ein und richtete den Strahl nach unten auf seine Schuhe – und die drei neuen Pennys daneben. »Aimee?«, flüsterte er in die leere Luft. »Bist du das?« Comtosook, Vermont, war ein von Grenzen bestimmter Ort: das Gefälle, an dem er in den Lake Champlain glitt, die Klippen am Rande des Granitsteinbruchs, in dem die Hälfte der Einwohner arbeitete, die unsichtbare Demarkationslinie, an der entlang die wellige Landschaft von Vermont mit einem einzigen weiteren Schritt zur Stadt Burlington wurde. An der Kongregationalistenkirche im Ortskern hing eine von der Zeitschrift Aber ganz gleich, was Comtosook für Touristen bedeutete, es was Elis Heimat. Schon immer. Als einer der beiden Polizisten im Ort war ihm natürlich klar, dass die Touristen nur eine Illusion sahen. Er fuhr die Cemetery Road hinunter. In Nächten wie dieser, wenn der Mond kugelrund und gelb wie ein Habichtsauge aussah, lag der Friedhof immer auf seiner Route. Obwohl die Fenster heruntergekurbelt waren, wehte kaum ein Lüftchen, und Elis kurz geschnittenes schwarzes Haar war im Nacken feucht. Sogar Watson, sein Bluthund, hechelte auf dem Beifahrersitz. Alte Grabsteine standen geneigt, wie müde Fußsoldaten. In der linken Ecke des Friedhofs, nahe der Buche, befand sich Comtosooks ältester Grabstein. WINNIE SPARKS, stand darauf. GEBOREN 1835. GESTORBEN 1901. GESTORBEN 1911. Der Legende nach war der Leichenzug der reizbaren alten Frau auf dem Weg zum Friedhof gewesen, als die Pferde scheuten und ihr Sarg vom Wagen fiel. Der Deckel sprang auf, und eine fuchsteufelswilde Winnie kletterte heraus. Zehn Jahre später starb sie – erneut –, und ihr schwer geprüfter Gatte hämmerte den Deckel vorsichtshalber mit 150 Nägeln zu, aus reiner Vorsicht. Ob die Geschichte wahr war oder nicht, interessierte Eli herzlich wenig. Doch die Jugendlichen aus dem Ort sahen anscheinend in Winnies Unwillen, tot zu bleiben, Anlass genug, um mit Sixpacks Bier und Haschisch zu ihrem Grab zu ziehen. Eli faltete seinen langen Körper aus dem Pick-up. »Kommst du?«, sagte er zu dem Hund, der sich stattdessen auf dem Sitz niederließ. Kopfschüttelnd lief Eli über den Friedhof, bis er Winnies Grab erreichte, wo vier Jugendliche, die so bekifft waren, dass sie ihn nicht hatten kommen hören, um die blaufingerige Flamme einer Brennpastenschale herumsaßen. »Buh«, sagte Eli ausdruckslos. »Die Bullen!« »Scheiße!« Man hörte Turnschuhe huschen und Flaschen klimpern, als die Jugendlichen hastig die Flucht ergriffen. Eli beschloss, sie laufen zu lassen. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe zuerst auf die letzte davoneilende Gestalt, dann auf den Boden. Außer einer dünnen, süßlich riechenden Rauchwolke hatten sie zwei Flaschen Bier, Marke Rolling Rock, zurückgelassen, die Eli sich nach Dienstschluss genehmigen würde. Er bückte sich und zupfte einen Löwenzahn von Winnies Grabstein. Ein Wort kam ihm in den Sinn, als hätte die Bewegung es gelöst: Shelby Wakeman war nach einem durchschlafenen Tag erschöpft aufgewacht. Sie hatte wieder diesen Traum gehabt, in dem Ethan auf einem Flughafen neben ihr stand, doch wenn sie sich ihm zuwandte, war er verschwunden. Verzweifelt hetzte sie dann von Terminal zu Terminal, um ihn zu suchen, bis sie schließlich durch eine Tür hinaus auf das Rollfeld lief und sah, wie ihr Neunjähriger mitten auf der Landebahn einer heranrasenden Düsenmaschine stand. Der Traum versetzte Shelby in Panik, egal, wie oft sie sich sagte, dass all das nie passieren würde, und die größte Angst bereitete ihr der Anblick ihres Sohnes, wie er mit ausgestreckten Armen dastand, sein Buttermilchgesicht der Sonne entgegengehoben. »Erde an Mom … Hallo?« »Tschuldigung.« Shelby lächelte. »Ich war ganz in Gedanken.« Ethan stellte seinen Teller in die Spülmaschine. »Meinst du, man kann auch im Schlaf in Gedanken versinken, wenn Nacht ist?« Bevor sie antworten konnte, schnappte er sich sein Skateboard, ohne das er nicht mehr vor die Tür ging. »Kommst du gleich raus?« Sie nickte und sah Ethan nach, wie er nach draußen stürmte. Sie hatte ihm schon so oft gesagt, er solle leise sein – um vier Uhr morgens schliefen die meisten Menschen und tobten nicht auf Skateboards herum –, aber meistens vergaß er es, und meistens brachte Shelby es nicht über sich, ihn daran zu erinnern. Ethan litt unter XP, Xeroderma Pigmentosum, einer sehr seltenen Erbkrankheit, durch die er extrem empfindlich auf die ultravioletten Strahlen des Sonnenlichts reagierte. Auf der ganzen Welt gab es nur tausend bekannte Fälle von XP. Wenn man die Krankheit hatte, hatte man sie von Geburt an, und sie war unheilbar. Als Ethan sechs Wochen alt war, hatte Shelby bereits bemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber es verging noch ein Jahr mit zahlreichen Untersuchungen, bis XP diagnostiziert wurde. Ultraviolettes Licht, so hatten die Ärzte erklärt, schädigt die menschliche DNA. Bei den meisten Leuten wird dieser Schaden automatisch repariert … nicht jedoch bei XP-Patienten. Schließlich wird die Zellteilung beeinträchtigt, was Krebs auslöst. Ethan, so sagten sie, könnte Doch Shelby überlegte sich, dass sie, wenn das Sonnenlicht ihren Sohn töten würde, einfach nur dafür sorgen musste, dass es immerzu dunkel war. Sie blieb tagsüber im Haus. Sie las Ethan bei Kerzenlicht Geschichten vor. Sie verhängte die Fenster des Hauses mit Handtüchern und Vorhängen, die ihr Ehemann jeden Abend, wenn er von der Arbeit kam, wieder herunterriss. »Verdammt, kein Mensch ist allergisch gegen die Sonne«, hatte er gesagt. Als ihre Scheidung durch war, hatte Shelby sich inzwischen gründlich über Licht informiert. Sie wusste, dass nicht nur die Außenwelt Gefahren barg. Supermärkte und Arztpraxen hatten Neonlampen, die ultraviolette Strahlung abgaben. Sonnenmilch wurde so alltäglich wie Handcreme, sowohl im Haus als auch draußen. Ethan hatte zweiundzwanzig Mützen, und er setzte sie mit der gleichen beiläufigen Routine auf, wie andere Kinder sich ihre Unterwäsche anzogen. Shelby räumte die Küche auf und setzte sich dann mit einem Buch an den Rand der Einfahrt. Ihr langes, dunkles Haar war in einem faustdicken Zopf gebändigt, und ihr war noch immer warm – wie um alles in der Welt konnte Ethan so herumtoben? Er sauste mit seinem Skateboard eine selbst gemachte Holzrampe hinauf und machte einen Kickflip. »Mom! Mom? Hast du das gesehen? Genau wie Tony Hawk.« »Weiß ich doch«, bestätigte Shelby. »Findest du nicht, es wäre super, wenn wir …« »Wir werden uns keine Halfpipe hier in der Einfahrt bauen, Ethan.« »Aber … dann eben nicht. Mir doch egal.« Und schon war er mit donnernden Rädern verschwunden. Shelby schmunzelte. Sie liebte die leise Großspurigkeit, die sich allmählich in Ethans Persönlichkeit schlich, als legte ein Puppenspieler ihm gelegentlich Worte in den Mund. Sie liebte es, wenn er heimlich Ethan vollführte einen Shifty Pivot, dann einen Casper-Bigspin. Es hatte eine Zeit gegeben, sinnierte Shelby, da hätte sie einen Helipop nicht von einem G-Turn unterscheiden können. Es hatte auch eine Zeit gegeben, in der Shelby für sich selbst und für Ethan Mitleid empfunden hatte. Doch Shelby konnte sich kaum noch daran erinnern, wie ihr Leben gewesen war, bevor seine Krankheit über sie geschleudert wurde wie ein Fischernetz. Und ehrlich gesagt, jedes Leben, das sie vor Ethan gehabt hatte, konnte eigentlich kein berauschendes Leben gewesen sein. Er machte vor ihr eine Vollbremsung. »Ich hab einen Mordshunger.« »Du hast doch gerade erst gegessen!« Ethan blinzelte sie an, Shelby seufzte. »Meinetwegen, dann geh rein und iss eine Kleinigkeit, aber es wird schon rosa.« Ethan blickte in Richtung Sonnenaufgang, eine Klaue, die sich am Horizont festgekrallt hatte. »Lass mich von hier draußen zusehen«, bettelte er. »Nur einmal.« »Ethan …« »Ich weiß ja.« Seine Stimme senkte sich am Ende. »Noch drei Hardflips.« »Einen.« »Zwei.« Ohne auf ihre Antwort zu warten, sauste Ethan wieder davon. Shelby klappte ihren Roman auf, nahm die Worte wahr wie Autos auf einem Frachtzug – ein Strom ohne individuelle Merkmale. Sie hatte gerade die Seite umgeblättert, als sie merkte, dass Ethans Skateboard nicht mehr in Bewegung war. Er hatte es sich gegen ein Bein gelehnt, das Emblem vom Superhelden Wolverine war weiß getüpfelt. »Mom?«, fragte er. »Schneit es?« Das kam ziemlich oft vor in Vermont. Aber nicht im August. Eine weiße Flocke landete auf dem Buch. Aber es war keine Schneeflocke. Sie hob das Blütenblatt an die Nase und schnupperte. Rosen. Shelby hatte von eigenartigen Wetterphänomenen gehört, die Frösche dazu brachten, massenhaft Richtung Meer zu wandern; einmal hatte sie einen regelrechten Hagelschauer aus Heuschrecken erlebt. Aber das? Die Blütenblätter fielen weiter, verfingen sich in ihrem und Ethans Haar. »Verrückt«, flüsterte er und setzte sich neben Shelby, um die Laune der Natur zu bestaunen. »Pennys.« Curtis Warburton drehte die Münzen, die Ross ihm gegeben hatte, in der Hand. »Sonst noch was?« Ross schüttelte den Kopf. Drei Stunden waren vergangen, und selbst bei einem wütenden Gewitter draußen, das reichlich Energie lieferte, war die paranormale Aktivität bestenfalls minimal gewesen. »Einmal hab ich gedacht, ich hätte was gesehen, aber das war dann doch nur ein Rauchmelder ganz hinten im Speicher.« »Tja, ich hab nicht das Geringste gespürt«, seufzte Curtis. »Wir hätten besser den Fall in Buffalo nehmen sollen.« Ross steckte eine Filmkassette zurück in ihre Hülle und schob sie sich in die Tasche. »Übrigens, die Frau, Eve, sie hat eine kleine Schwester erwähnt, die gestorben ist, als sie sieben Jahre alt war.« Curtis sah ihn an. »Interessant.« Die beiden Männer gingen nach unten. Maylene saß mit einem Infrarotthermometer auf der Couch im dunklen Wohnzimmer. »Hast du was?«, fragte Curtis. »Nein. Dieses Haus ist ungefähr so aktiv wie ein Komapatient.« »Wie läuft’s?«, mischte Eve O’Donnell sich ein. Sie stand in der Tür zum Wohnzimmer, eine Hand am Kragen ihres Bademantels. »Ich denke, wir können mit Sicherheit davon ausgehen, dass Sie nicht allein im Haus sind. Die hier …«, Curtis hielt ihr die Pennys hin, die Ross ihm gegeben hatte, »hab ich oben gefunden.« »Ja … manchmal liegen da Münzen rum. Das habe ich Ross erzählt.« »Ach ja?« Ross drehte sich stirnrunzelnd um. Doch bevor er Curtis fragen konnte, warum er sich dumm stellte, sprach sein Boss schon weiter. »Geister treiben manchmal ihren Schabernack. Vor allem der Geist eines Kindes, beispielsweise.« Ross spürte die Anspannung in der Luft, als Eve O’Donnell ihr ganzes Vertrauen in Curtis setzte. »Ich muss Ihnen sagen«, fuhr Curtis fort, »dass ich hier sehr starke Einflüsse spüre. Es gibt eine Präsenz, aber es ist jemand, den Sie kennen, jemand, der Sie kennt.« Curtis neigte den Kopf zur Seite und zog die Stirn kraus. »Es ist ein Mädchen … ich spüre, dass es ein Mädchen ist, und ich empfange eine Zahl … Ross stand wie angewurzelt da. Ihm war eingeschärft worden, sich stets vor Augen zu halten, dass es sich bei 85Prozent der Fälle, die sie untersuchten, um Schwindeleien von Leuten handelte, die entweder ihre Zeit vergeuden, ins Fernsehen kommen oder beweisen wollten, dass die Beschäftigung mit übersinnlichen Phänomenen alles andere als eine Wissenschaft war. Er wusste schon nicht mehr, wie oft sie in einer stöhnenden Wand versteckte Lautsprecher gefunden hatten oder wie oft an einem wackelnden Kronleuchter eine Angelschnur befestigt gewesen war. Aber er hätte nie gedacht, dass auch die Warburtons eine Show abzogen. »Es würde natürlich zusätzliche Kosten bedeuten«, sagte Curtis gerade, »aber ich denke, hier eine Séance abzuhalten wäre angebracht.« Ross dröhnte der Schädel. »Curtis, könnte ich Sie kurz sprechen?« Sie zogen ihre Mäntel über und gingen nach draußen unter das Garagenvordach, während der Regen niederprasselte. »Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund dafür«, sagte Curtis. »Ich hatte sie praktisch schon am Haken, als Sie mich unterbrochen haben.« »Ich glaube nicht, dass es hier einen Geist gibt. Das mit der Schwester wissen Sie doch nur von mir.« Curtis zündete sich eine Zigarette an. Die Spitze glimmte wie ein rotes Auge. »Na und?« »Sie können die Frau doch nicht anlügen, nur um ein paar Dollar zu verdienen und ihre Reaktion zu filmen.« »Ich erzähle den O’Donnells bloß das, was sie hören wollen. Die beiden glauben, dass sie einen Geist im Haus haben. Sie »Es geht hier nicht bloß um irgendeinen Geist«, sagte Ross mit bebender Stimme. »Es geht um jemanden, der ihr etwas bedeutet hat.« »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so ein Purist sind. Ich dachte, Sie wüssten inzwischen, wie die Sache läuft.« »Ich weiß allerdings, wie die Sache läuft. Ich wusste nur nicht, dass das alles Schwindel ist.« Curtis schleuderte die Zigarette auf den Boden. »Ich bin kein Schwindler. Der Geist meines Großvaters ist mir erschienen, Ross. Ich habe sogar ein Foto von ihm gemacht, wie er am Fuß meines Bettes steht. Sie ziehen Ihre eigenen Schlüsse. Verdammt, was ist denn mit der Aufnahme, die Sie selbst gemacht haben, von dem Gesicht, das aus dem See aufsteigt? Meinen Sie, ich hätte das arrangiert? Ich war zu dem Zeitpunkt doch ganz woanders.« Curtis atmete tief durch, beruhigte sich wieder. »Hören Sie, ich will die O’Donnells nicht aufs Kreuz legen. Ich bin Geschäftsmann, Ross, und ich kenne meine Kunden.« Ross konnte nichts antworten. Vielleicht hatte Curtis ja sogar die Pennys, die er gefunden hatte, selbst unter das Stativ gelegt. Vielleicht hatte Ross die letzten neun Monate seines Lebens völlig vertan. Er war auch nicht besser als die O’Donnells – er hatte nur das gesehen, was er glauben wollte. Vielleicht hatte sie tatsächlich übersinnliche Fähigkeiten, denn genau in diesem Moment kam Maylene nach draußen. »Curtis? Was ist denn?« »Ach, nichts weiter. Ross möchte die Branche wechseln, er will zu den Moralpredigern.« Ross trat hinaus in den peitschenden Regen und stapfte zu seinem Auto. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Digitalkamera und seinen Rucksack zu holen. Das waren Dinge, die er ersetzen konnte, im Gegensatz zu seiner Selbstbeherrschung, die ihm rasch abhandenzukommen drohte. In seinem Auto drehte er die Heizung voll auf, versuchte, die innere Kälte zu vertreiben, die nicht verschwinden wollte. Er fuhr eine Meile, ehe er merkte, dass er das Licht nicht eingeschaltet hatte. Dann hielt er am Straßenrand und schnappte nach Luft. Ross wusste, wie man paranormale Phänomene wissenschaftlich aufzeichnete und wie man die Ergebnisse interpretierte. Er hatte Lichter gefilmt, die über Gräbern tanzten; er hatte Stimmen in leeren Kellern aufgenommen; er hatte Kälte an Orten gespürt, wo sich kein Lüftchen regen konnte. Neun Monate lang hatte Ross geglaubt, einen Zugang zu der Welt gefunden zu haben, in der Aimee war … und jetzt stellte sich heraus, dass diese Tür bloß auf die Wand gemalt war. Verdammt, allmählich gingen ihm die Ideen aus. Als Az Thompson erwachte, hatte er den Mund voller Steine, klein und glatt wie Olivenkerne. Er spuckte fünfzehn auf die runzelige ledrige Haut seiner Handfläche, ehe er sich zutraute, wieder Luft zu holen, ohne zu ersticken. Er schwang die Beine über den Rand der Armeepritsche. Er versuchte, die Gewissheit abzuschütteln, dass aus diesen Steinen, sollte er in der harten Erde unter seinen Füßen begraben werden, ein krebsartiges, schwarzes Dickicht wachsen würde wie das, das in dem Märchen des Weißen Mannes über ein Mädchen, das nur durch einen Kuss geweckt werden konnte, ein Schloss überwucherte. Es machte ihm nichts aus, in der freien Natur zu übernachten. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er immer ein Bein in der Natur und ein Bein in der Die anderen behandelten ihn so, wie sie Abraham Lincoln behandeln würden, wenn er aus dem Zelt spaziert käme – mit Demut und einiger Ehrfurcht angesichts der Tatsache, dass er immer noch am Leben war. Az war nicht so alt wie Lincoln, aber viel fehlte nicht. Er war 102 oder 103 – er hatte schon vor einiger Zeit aufgehört zu zählen. Da er die aussterbende Sprache seines Volkes beherrschte, wurde er als Lehrer geachtet. Außerdem machte ihn schon allein sein Alter zum Stammesältesten, was einige Bedeutung gehabt hätte, wenn die Abenaki ein rechtlich anerkannter Stamm gewesen wären. Az hörte jeden einzelnen Wirbel in seinem Rückgrat knirschen, als er sich auf einem Klappstuhl niederließ. Er hob ein Fernglas auf, das neben der Feuerstelle lag, und spähte auf das Land, eine Parzelle an der nordwestlichen Kreuzung von Montgomery Road und Otter Creek Pass. Auf seiner höchsten Stelle stand das große, weiße Haus, jetzt ein Schandfleck. Es würde als Erstes verschwinden, wie Az wusste, der alles über dieses Grundstück wusste, von den Landvermessungsergebnissen bis hin zur Nummer des Grundbucheintrags. Er wusste, an welchen Stellen der Boden im Winter zuerst vereiste und wo niemals Grün wuchs. Er wusste, welches Fenster in dem verlassenen Haus von herumstromernden Kindern zerbrochen worden war, welche Seite der Veranda zuerst eingesackt war, welche Bretter der Treppe morsch waren. Er kannte auch das Kennzeichen von jedem Fahrzeug der Redhook-Gruppe, das im Umkreis geparkt hatte. Man munkelte, dass Newton Redhook das erste Einkaufszentrum von Comtosook bauen lassen wollte. Auf einem »Glaub mir«, sagte Fat Charlie. »Das war El Niño.« Winks schüttelte den Kopf. »Es ist unnatürlich, sonst nix. Ist doch nicht normal, dass es Rosen regnet.« Fat Charlie lachte. »Winks, guck dir lieber wieder irgendwelche Talkshows im Fernsehen an. Diese Horrorstreifen vernebeln dir langsam das Hirn, Mann.« Az sah sich um, bemerkte die zarte Blütenschicht auf der Erde. Er fuhr sich mit der Zunge durch die Mundhöhle, schmeckte wieder die Steine. »Was denkst du, Az?«, fragte Winks. Er dachte, dass diese Blütenblätter noch ihr geringstes Problem sein würden. Az richtete das Fernglas auf einen Bulldozer, der gemächlich die Straße heraufgetuckert kam. »Ich denke, keiner kann in der Erde graben«, sagte er laut, »ohne etwas ans Licht zu holen.« So hatte Ross Aimee kennengelernt: Am Broadway Ecke 112. Straße, im Schatten der Columbia University, war er im wahrsten Sinne des Wortes in sie hineingelaufen, und alle ihre Bücher und Notizen waren in einer braunen Pfütze gelandet. Sie war Medizinstudentin und bereitete sich auf ihre Anatomieprüfung vor, und als sie die Früchte ihrer harten Arbeit im Schlamm liegen sah, fing sie beinahe an zu hyperventilieren. Wie sie so dasaß, mitten auf der Straße in New York, war sie außerdem die schönste Frau, die Ross je gesehen hatte. »Ich helf dir«, versprach Ross, obwohl er von Anatomie keine Ahnung hatte. »Gib mir eine Chance.« So machte Ross Aimee einen Heiratsantrag: Ein Jahr später waren sie mit einem Taxi auf dem Weg zu einem Restaurant. Am Broadway Ecke 112. Straße bat Ross den Fahrer anzuhalten. Er stieg aus und kniete sich vor der offenen Tür auf dem schmutzigen Bürgersteig hin. Er klappte ein kleines Kästchen mit einem Ring darin auf und blickte in Aimees stahlblaue Augen. »Heirate mich«, sagte er, und dann verlor er das Gleichgewicht, und der Brillantring fiel durch das Gitter eines Gullys. Aimee klappte der Unterkiefer herunter. »Sag, dass das nicht wahr ist«, brachte sie schließlich hervor. Ross blickte nach unten auf das schwarze Gitter und das leere Kästchen. Er warf auch das in den Gully. Dann zog er einen anderen Ring, den richtigen Ring, aus der Tasche. »Gib mir noch eine Chance«, sagte er. Jetzt hob er auf dem menschenleeren Parkplatz die Flasche und trank einen Schluck. Manchmal hätte Ross sich am liebsten selbst die Haut abgekratzt, um zu sehen, was auf der anderen Seite war. Er wollte von Brücken in Betonseen springen. Er wollte schreien, bis ihm die Kehle blutete, rennen, bis seine Fußsohlen aufplatzten. In solchen Momenten, wenn das Versagen wie eine Flutwelle war, wurde sein Leben zu einer endlichen Geraden, deren Ende er aber aufgrund irgendeines kosmischen Witzes offenbar nicht erreichen konnte. Ross dachte über Selbstmord nach, so wie manche Menschen Einkaufslisten aufstellten – methodisch, detailliert. Es gab Tage, da ging es ihm gut. Und dann gab es Tage, an denen er auf der Straße die Leute zählte, die ihm glücklich vorkamen. Es gab Tage, da wäre es für ihn das Naheliegendste auf der Welt gewesen, kochendes Wasser zu trinken oder im Kühlschrank zu ersticken oder nackt hinaus in den Schnee zu gehen, um sich in der Kälte einfach zum Schlafen hinzulegen. Ross hatte einiges über Selbstmord gelesen und war fasziniert, was sich die Leute alles einfallen ließen – Frauen, die sich ihr langes Haar als Schlinge um den Hals legten, Männer, die sich Mayonnaise in die Vene spritzten, Teenager, die Feuerwerkskörper verschluckten. Aber jedes Mal, wenn er kurz davor war zu testen, wie viel Gewicht ein Balken hielt, oder wenn er sich mit einem Grafikermesser die Haut aufritzte, bis Blut kam, musste er daran denken, was für eine Sauerei er hinterlassen würde. Er wusste nicht, was der Tod für ihn bereithielt. Aber er wusste, dass es nicht das Leben sein würde, und das reichte ihm. Seit dem Tag, an dem Aimee starb, hatte er nichts mehr empfunden. Seit dem Tag, an dem er, wie ein Idiot, den Helden spielen musste, zuerst seine Verlobte aus dem Autowrack zog und dann auch noch die Fahrerin des anderen Wagens, bevor der in Flammen aufging. Als er zu Aimee zurückkam, war sie schon tot. Sie war allein gestorben, während er Supermann spielte. Toller Held, der die Falschen rettet. Er warf die leere Flasche auf den Boden seines Jeeps, legte den Gang ein und raste wie ein Teenager von dem Parkplatz auf die schmale Landstraße. Er bremste vor einem Bahnübergang, wo die Schranke sich soeben langsam senkte und das Warnlicht blinkte. Er dachte an nichts mehr, außer daran, den Wagen langsam vorrollen zu lassen, bis er die Schranke durchbrach, bis der Jeep unbeweglich auf den Schienen saß, wie ein Opfertier. Der Zug stampfte heran. Die Schienen begannen, eine stählerne Sinfonie zu singen. Ross überließ sich dem Sterben, preßte vor dem Aufprall noch ein einziges Wort durch die Zähne: Das Getöse war überwältigend, ohrenbetäubend. Und doch glitt es an ihm vorbei, entfernte sich, bis Ross den Mut aufbrachte, die Augen zu öffnen. Dampf stieg aus der Motorhaube seines Wagens auf, der ungleichmäßig hoppelte, als hätte ein Reifen zu wenig Luft. Und er zeigte jetzt in die Richtung, aus der Ross gekommen war. Es war nichts zu machen: Mit Tränen in den Augen fuhr Ross los. Ohne unterschriebenen Vertrag würde Rod van Vleet nicht wieder wegfahren. Zum einen hatte Newton Redhook ihn damit betraut, das gut siebeneinhalb Hektar große Pike-Grundstück an sich zu bringen. Zum anderen hatte er über sechs Stunden gebraucht, um zu dem Pflegeheim in dieser gottverlassenen Gegend von Vermont zu gelangen, und Rod hatte keinesfalls die Absicht, in naher Zukunft noch einmal herzukommen. »Mr. Pike«, sagte er lächelnd zu dem alten Mann, der so potthässlich war, dass Rod noch wochenlang Albträume haben würde. Spencer Pikes kahler Schädel war fleckig wie eine Warzenmelone. Seine Hände waren knotig und verdreht, sein Körper hatte die Form einer Gurke angenommen. »Wie Sie hier sehen, ist die Redhook-Gruppe bereit, heute einen auf Sie ausgestellten Scheck in Höhe von fünfzigtausend Dollar zu hinterlegen, als Zeichen unseres guten Willens, bis die Eigentumsfrage verbindlich geklärt ist.« Der Alte kniff die milchigen Augen zusammen. »Was zum Teufel soll ich mit Geld anfangen?« »Na ja. Sie könnten vielleicht eine Reise machen. Sie und eine Pflegeperson.« Rod lächelte die Frau an, die mit verschränkten Armen hinter Pike stand. »Kann nicht reisen. Anweisung des Arztes. Die Leber könnte … versagen.« Rod lächelte verlegen. »Na ja.« »Das haben Sie schon mal gesagt. Sind Sie senil?« »Nein, Sir.« Rod räusperte sich. »Soweit ich informiert bin, war das Grundstück bereits seit etlichen Generationen im Besitz der Familie Ihrer Frau, ist das richtig?« »Ja.« »Mr. Pike, wir sind davon überzeugt, dass die Redhook-Gruppe zum weiteren Wachstum von Comtosook beitragen kann, indem wir Ihr Land zur Förderung der Wirtschaft des Ortes nutzen.« »Ihr wollt da Geschäfte hinsetzen.« »Jawohl, Sir, das haben wir vor.« »Baut ihr auch einen Laden, in dem man Bagels kriegt?« Rod blinzelte verblüfft. »Ich glaube nicht, dass Mr. Redhook das schon so genau weiß.« »Baut einen. Ich mag Bagels.« Rod schob den Scheck erneut über den Tisch, diesmal zusammen mit dem Vertrag. »Mr. Pike, wir können gar nichts bauen, solange ich nicht hier Ihre Unterschrift habe.« Pike starrte ihn lange an, dann griff er nach einem Stift. Rod stieß den angehaltenen Atem aus. »Die Eigentumsurkunde läuft auf den Namen Ihrer Frau? Cecelia Pike?« »Es hat Cissy gehört.« »Und das … was die Abenaki behaupten … ist da irgendetwas dran?« Pikes Fingerknöchel wurden weiß vor Anspannung. »Auf dem Land gibt es keinen Indianerfriedhof.« Er sah zu Rod hoch. »Ich kann Sie nicht leiden.« »Den Eindruck habe ich auch, Sir.« »Der einzige Grund, warum ich das hier unterschreibe, ist der, dass ich das Land lieber weggebe, als erleben zu müssen, dass es an den Staat fällt.« Rod rollte den unterschriebenen Vertrag zusammen und trommelte damit auf den Tisch. »So!«, sagte er. »Wir werden die offenen Fragen prüfen und die Transaktion dann hoffentlich möglichst bald über die Bühne bringen.« »Bevor ich sterbe, meinen Sie«, sagte Pike trocken, während Rod sich sein Jackett anzog. »Wollen Sie nicht noch zu unseren Gesellschaftsspielen bleiben? Oder zum Lunch … ich hab gehört, heute gibt es Wackelpudding.« Er lachte, und es klang wie eine Säge in Rods Rücken. »Mr. van Vleet … was geschieht mit dem Haus?« »Um die Wahrheit zu sagen, es befindet sich nicht gerade in einem guten Zustand«, sagte Rod vorsichtig. »Es könnte sein, dass wir einige … Änderungen vornehmen müssen. Mehr Platz schaffen, wissen Sie, für Ihren Hamburger-Imbiss.« »Bagels.« Pike runzelte die Stirn. »Ihr reißt es also ab.« »Leider ja.« »Ist auch besser so«, sagte der Alte. »Zu viele Gespenster.« Die einzige Tankstelle von Comtosook gehörte zu dem Gemischtwarenladen. Zwei Zapfsäulen aus den Fünfzigerjahren standen auf dem Parkplatz, und Rod brauchte gut fünf Minuten, bis er begriff, dass es tatsächlich keinen Schlitz für seine Kreditkarte gab. Er schob die Zapfpistole in den Tank, holte sein Handy heraus und wählte eine der eingespeicherten Nummern. »Angel-Steinbruch«, meldete sich eine weibliche Stimme. Rod schüttelte den Kopf. »Ich wollte die Nummer 617-569 …« »Tja, da haben Sie sich wohl verwählt.« Klick. Verdutzt steckte er sein Handy wieder ein und füllte noch ein paar Liter in den Tank. Dann griff er nach seinem Portemonnaie und ging auf den Laden zu, um zu bezahlen. Ein Mann mittleren Alters mit karottenrotem Haar stand auf der Veranda und fegte etwas zusammen, das aussah wie Blütenblätter. Rod blickte zu dem Schild über der Tür – ABE’S STORE – und dann wieder zu dem Ladenbesitzer. »Sind Sie Abe?« »Richtig geraten.« »Haben Sie ein öffentliches Telefon?« Abe deutete in eine Ecke der Veranda. Dort stand ein Fernsprecher, direkt neben einem betrunkenen Alten, der keine Anstalten machte, zur Seite zu gehen. Rod tippte eine Nummer ein und spürte dabei die ganze Zeit die Blicke des Ladenbesitzers im Rücken. »Angel-Steinbruch«, hörte er gleich darauf. Er knallte den Hörer auf und starrte ihn an. Abe bewegte sich beim Fegen auf Rod zu. »Probleme?«, fragte er. »Da stimmt anscheinend irgendwas mit den Telefonleitungen nicht.« Rod fischte einen Zwanziger für das Benzin aus seinem Portemonnaie. »Kann sein. Oder die Indianer haben doch recht – dass auf dem ganzen Ort ein Fluch liegt, wenn sie ihr Land nicht zurückbekommen.« Rod verdrehte die Augen. Er war schon fast wieder bei seinem Wagen, als ihm Spencer Pikes Bemerkung mit den Gespenstern wieder einfiel. Er drehte sich um und wollte Abe danach fragen, aber der Mann war verschwunden. Sein Besen lehnte an dem ramponierten Verandageländer, und mit jedem Lufthauch flogen Blütenblätter aus dem zusammengefegten Haufen auf, wie Wünsche. Plötzlich hielt ein Wagen auf der anderen Seite der Zapfsäulen. Ein Mann mit schulterlangem braunen Haar und beunruhigenden seegrünen Augen stieg aus und reckte sich, bis sein Rücken knackte. »Entschuldigen Sie«, sagte er, »wissen Sie, wo Shelby Wakeman wohnt?« Rod schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht von hier.« Er wusste nicht, warum er das tat, aber er schaute in den Rückspiegel, als er wieder im Wagen saß. Der Mann stand noch immer da. Dann klingelte Rods Handy. Er zog es aus der Brusttasche, klappte es auf. »Van Vleet.« »Angel-Steinbruch«, sagte die Frau am anderen Ende, als hätte er sie angerufen, als wäre das ganz normal. »Ich komm ja schon«, murmelte Shelby, als das Klopfen an der Haustür lauter wurde. Es war erst elf Uhr morgens. Wenn dieser Trottel Ethan aufgeweckt hatte … Sie band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz hoch und blinzelte in die Sonne, als sie die Tür öffnete. Er hatte das Tageslicht im Rücken, und im ersten Moment erkannte sie ihn nicht. »Shel?« Vor zwei Jahren hatte sie Ross zuletzt gesehen. Sie sahen sich noch immer ähnlich – die gleiche schlaksige Figur, der gleiche intensive, helle Blick, von dem die meisten Menschen sich schwer lösen konnten. Aber Ross war dünner geworden, und er hatte langes Haar. Und ach, die Ringe unter seinen Augen waren noch dunkler als ihre eigenen. »Ich hab dich geweckt«, entschuldigte er sich. »Ich kann auch später …« »Komm schon her«, unterbrach Shelby ihn und schlang die Arme um ihren kleinen Bruder. »Geh wieder ins Bett«, drängte Ross, nachdem Shelby ihn fast eine Stunde bemuttert hatte. »Bald braucht Ethan dich wieder.« »Ethan wird Plötzlich wich sie zurück. »Ach, Ross«, murmelte sie, schob dann die Hand unter seinen Hemdkragen und zog die lange Kette heraus, die er darunter verbarg. Der Anhänger war ein Brillantring, ein gefallener Stern. Shelby schloss die Faust darum. Ross fuhr zurück, und die Kette zerriss. Er packte Shelbys Handgelenk und schüttelte es, bis sie den Ring losließ und er ihn in der Hand hielt. »Nicht«, sagte er scharf. »Aber es ist doch schon …« »Meinst du, ich wüsste nicht, wie lange es her ist?« Ross wandte sich ab. Als Shelby ihn am Arm berührte, reagierte er nicht. Sie ließ es dabei bewenden und zog sich aus dem Zimmer zurück. Shelby hatte recht – er brauchte Schlaf –, aber er wusste auch, dass er ihn nicht finden würde. Ross hatte sich an die Schlaflosigkeit gewöhnt, die jahrelang zu ihm unter die Decke gekrochen war. Er legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Den Ring hielt er so fest in der Hand, dass sich die Zacken der Einfassung in seine Haut gruben. Er würde sich irgendwas besorgen müssen – eine Schnur, ein Lederband –, damit er ihn wieder um den Hals tragen konnte. Als er um 5 Uhr 58 mit einem Ruck erwachte, war Ross völlig verblüfft. Er blinzelte, fühlte sich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Es war das Fehlen des leichten Gewichts auf seiner Brust, das ihn an den Ring erinnerte. Ross öffnete die Faust und geriet in Panik. Der Brillantring, den er beim Einschlafen fest in der Hand gehalten hatte, war nirgends zu sehen. Für eine Achtjährige wusste Lucy Oliver ziemlich viel. Sie konnte die Hauptstädte aller US-Staaten aufzählen. Sie konnte erklären, wodurch eine Gewitterwolke entstand. Sie konnte RHYTHMUS vorwärts Lucy wusste auch, ja, sie war felsenfest davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von Von Nacht zu Nacht veränderten sie die Gestalt. Manchmal waren sie die beweglichen Formen des Musters auf ihren Vorhängen. Manchmal waren sie die kalte Stelle auf dem Boden, wenn Lucy über die breiten Holzdielen zu ihrem Bett rannte. Manchmal waren sie ein Geruch, der Lucy von Laub und Dunkelheit und Kadavern träumen ließ. Heute Nacht tat sie, als wäre sie eine Schildkröte. Nichts vermochte diesen harten Panzer zu durchdringen. Nicht einmal das Wesen, das genau in dieser Sekunde in ihrem Schrank atmete. Doch selbst mit weit geöffneten Augen konnte Lucy sehen, wie die Nacht sich veränderte. An manchen Stellen wurde sie deutlicher, an anderen wich sie zurück … bis Lucy schließlich in das durchsichtige Gesicht einer Frau starrte, das so traurig aussah, dass Lucy Magenschmerzen bekam. Sie unterdrückte einen Schrei, weil der ihre Urgroßmutter geweckt hätte, und riss sich die Decke über den Kopf. Ihre schmale Brust pumpte wie ein Kolben. Ihr Atem rasselte. Wenn diese Frau sie überall finden konnte, wo sollte Lucy sich dann verstecken? Würde ihre Mutter wissen, dass sie geraubt worden war, wenn sie die Delle sah, die Lucys Körper in der Matratze hinterlassen hatte? Sie schob eine Hand unter der Decke hervor, griff nach dem Telefon, das sie auf ihren Nachttisch gelegt hatte, und drückte die Taste, die automatisch das Labor ihrer Mutter anwählte. »Ach, Lucy«, seufzte ihre Mutter in das Schweigen hinein. »Was ist denn jetzt wieder?« »Die Luft«, flüsterte Lucy und hasste ihre Stimme. »Die ist so schwer.« »Hast du deinen Inhalator benutzt?« Natürlich. Lucy war alt genug, um zu wissen, was sie tun musste, wenn sie einen Asthmaanfall bekam. Aber das meinte sie nicht mit schwer. »Sie erdrückt mich.« Da, es war noch schlimmer geworden. Lucy lag unter dem Gewicht der Nacht, versuchte in ganz kurzen Zügen zu atmen, damit der Sauerstoff im Zimmer länger hielt. »Schätzchen.« Der Ton ihrer Mutter erinnerte Lucy an kalte Reagenzgläser und meilenlange, weiße Arbeitsplatten. »Du weißt doch, dass Luft ihr Gewicht nicht verändern kann. Das bildest du dir nur ein.« »Aber …« Lucy rückte weiter von dem Schrank weg, weil sie spürte, dass die Frau sie beobachtete. »Mom, ich erfinde das nicht.« Es entstand eine kurze Pause, dann verlor ihre Mutter die Geduld. »Lucy. Es gibt keine Gespenster oder Kobolde oder Dämonen oder … oder unsichtbare Monster, die die Luft zusammenpressen. Lucy hielt den Hörer noch eine ganze Weile in der Hand, nachdem ihre Mutter aufgelegt hatte. Ihre Mutter hatte recht. Der vernünftige Teil in ihrem Kopf wusste, dass nichts in ihrem Zimmer darauf aus war, sie zu holen. Aber dennoch, als Meredith Oliver Stunden später nach Hause kam, fand sie ihre Tochter schlafend in der mit Kissen und Decken ausgepolsterten Badewanne vor. Das Licht im Bad brannte taghell. Ross sah zu, wie sein Neffe erneut der Schwerkraft ein Schnippchen schlug, denn das Skateboard hing unter seinen Füßen in der Luft. »Das ist ein Fifty/Fifty«, erklärte Ethan ihm mit vor Anstrengung geröteten Wangen. »Hast du das Brett auch wirklich nicht mit Angelschnur an die Schuhe gebunden?« Ethan grinste und sauste wieder auf seine Holzrampe zu, dann drehte er ab und kam zu Ross zurück. »Onkel Ross«, sagte er. »Ich find’s superstark, dass du hier bist.« Auf der Decke neben Ross rupfte Shelby Grashalme aus. »Das ist so ziemlich die höchste Anerkennung, die du kriegen konntest.« »Dachte ich mir.« Ross streckte sich aus, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Eine Sternschnuppe jagte quer durch sein Gesichtsfeld, zog eine Silberspur hinter sich her. »Er ist ein prima Junge, Shel.« Ihre Augen folgten Ethan. »Oh ja.« Ethan donnerte die Rampe hinunter. »Prima genug, um mit dir auf Geisterjagd zu gehen?«, rief er über die Schulter. »Wer hat dir denn gesagt, dass ich Geister jage?« »Ich hab so meine Quellen.« Ethan kippte das Skateboard und sprang gleichzeitig hoch, sodass es aussah, als würde es in seine Hand hochgezogen. »Ich bin schnell, siehst du? Und ich werde nachts nicht müde … und ich kann ganz leise sein …« »Das kann ich mir gut vorstellen«, lachte Ross. »Nein, im Ernst, Onkel Ross, warum willst du mich nicht mitnehmen?« »Mal überlegen. Weil deine Mutter mich teeren und federn würde. Und weil ich mich zur Ruhe gesetzt habe.« »Zur Ruhe gesetzt? Heißt das, du hast keine Lust mehr dazu?« »Kann man so sagen.« »Mensch, das ist aber voll blöd.« »Ethan.« Shelby schüttelte warnend den Kopf. »Jetzt bist du bloß ein ganz normaler Verwandter«, murmelte der Junge. Ross sah ihm nach. »War das eine Beleidigung?« Shelby antwortete nicht, musterte Ross stattdessen aufmerksam. »Sag mal, geht’s dir gut?« »Ja.« Er lächelte sie an. » »Ich hab mir nämlich Sorgen gemacht, weißt du, weil du dich nicht gemeldet hast. Sechs Monate lang.« Ross zuckte die Achseln. »Ich war ziemlich viel unterwegs, mit den Warburtons.« »Ich wusste gar nicht, dass du bei diesen paranormalen Untersuchungen nicht mehr mitmachst.« »Ich habe es satt, nicht das zu sehen, was ich sehen will.« »Es ist ein Unterschied, ob man Paläontologe ist und nicht findet, was man sucht, oder ob man Geisterjäger ist und nicht findet, was man sucht«, sagte Shelby. »Ich meine, es gibt schließlich irgendwo Dinosaurierknochen, auch wenn man nicht das Glück hat, an der richtigen Stelle zu graben. Aber Geister …?« »Ich bin schon in einem Raum gewesen, in dem die Temperatur innerhalb weniger Sekunden um zehn Grad gesunken ist. Ich habe Kirchenchöre auf Band aufgenommen, die aus menschenleeren, verschlossenen Räumen erklangen. Ich habe gesehen, wie Wasserhähne sich von allein aufdrehten. Aber ich habe nie einen Geist vor meinen Augen erscheinen sehen. Menschenskind, vielleicht gibt es ja für all die Dinge eine einleuchtende Erklärung. Vielleicht steckt Gott dahinter, vielleicht irgendwelche Elfen, vielleicht irgendein Technikfreak.« Shelby schmunzelte. »Sag mal, spricht da derselbe Junge, der noch mit fünfzehn an den Weihnachtsmann geglaubt hat?« »Ich war zehn«, verbesserte Ross sie. »Und du hast schließlich nicht die Falle auf dem Dach aufgestellt und den Beweis gefunden.« »Du hast eine »Mit einem Rentierhufabdruck.« Ross griff in die Tasche nach seinen Zigaretten, sah dann zu Ethan hinüber und überlegte es sich anders. »Ich hätte schon längst aufhören sollen.« »Mit dem Rauchen?« »Mit der Geisterjagd.« »Wieso hast du’s nicht getan?« Ross dachte an Curtis Warburton: »Vielleicht hättest du Physiker werden sollen.« Ross zuckte die Achseln. »Wissenschaft kann nicht alles erklären. Wieso geht man an dreißigtausend Menschen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, und dann kommt jemand, und man weiß, dass man nie wieder die Augen von ihr lassen will?« »Liebe ist zwar nichts Rationales, Ross, aber sie ist auch nicht paranormal.« »Selbst Uniprofessoren und Topmanager können Lügner sein. Oder Spinner«, sagte Shelby. »Und was ist mit Vierjährigen?« Ross sah seine Schwester an. »Was ist mit dem Kind, das mitten in der Nacht zu seiner Mom gelaufen kommt und sagt, in seinem Zimmer ist ein alter Mann, der will, dass sie aus seiner Werkstatt verschwinden, damit er einen Tisch bauen kann? Und dann findest du heraus, dass vor zweihundert Jahren eine Tischlerwerkstatt auf dem Grundstück stand?« »Das … ist wirklich passiert?« Der vierjährige Junge hatte schließlich angefangen, sich auf den Kopf zu schlagen, damit er die Stimme des Geistes nicht mehr hörte. »Tja. Wahrscheinlich können auch Kinder verrückt werden. Eines ist jedenfalls klar: Ich hab damit nichts mehr zu tun.« Aber Ross fragte sich, ob er seine Schwester überzeugen wollte oder sich selbst. Shelby tätschelte ihm die Schulter. »Wenn irgendwer fähig wäre, konkrete Beweise für die Existenz von Geistern zu finden, dann jedenfalls du.« Er blickte sie unsicher an, nahm dann sein Portemonnaie aus der Tasche und zog ein Foto heraus. »Jetzt erzählst du mir gleich, dass das wie ein Mund aussieht und Augen.« Sie blinzelte. »Und eine Hand.« »Ich hab dir gar nichts erzählt. »Und was ist es nun?« »Curtis Warburton würde es Ektoplasma nennen. Als ich das Foto gemacht habe, war auf diesem See absolut nichts … kein Nebel, kein Dunst, nichts. Aber das hier tauchte auf dem Negativ auf. Film ist so empfindlich, dass er Licht, Wärme und magnetische Energie aufzeichnet … genau die Quellen, mit deren Hilfe sich Geister materialisieren.« Ross schob das Foto zurück ins Portemonnaie. »Aber vielleicht sind das auch nur irgendwelche Flecken, weil die im Labor was verschüttet haben.« Er sagte nicht, dass die Luft in dem Moment, als er auf den Auslöser drückte, plötzlich eiskalt geworden war. Er sagte nicht, dass seine Hände den Rest des Tages unentwegt gezittert hatten. »Als du das Foto gemacht hast, war kein Nebel zu sehen?«, fragte Shelby nach. »Nein.« Sie legte die Stirn in Falten. »Wenn ich das Foto in der Zeitung sehen würde, würde ich es für manipuliert halten. Aber …« »Aber ich bin dein Bruder, also musst du mir trauen?« Ethan kam donnernd vor ihnen zum Stehen. »Wir haben doch hier den Steinbruch, da soll vor ganz langer Zeit mal einer ermordet worden sein. Und alle sagen, dass es da spukt. Wir könnten doch mal hinfahren und …« »Nein!«, sagten Ross und Shelby gleichzeitig. »Manno«, murmelte Ethan und rollte wieder davon. Ross blickte zum Horizont, wo die blaue Nacht sich allmählich verfärbte. »Müssen wir nicht langsam rein?« Shelby nickte und fing an, die Überreste des Picknicks einzusammeln. »Und was willst du jetzt machen?« »UFOs jagen.« Er sah sie an. »War ein Witz.« »Du könntest doch eine Zeit lang auf Ethan aufpassen, während ich arbeite. Obwohl das vielleicht gruseliger ist als dein letzter Job.« »Geister sind nicht gruselig«, sagte Ross unwillkürlich. »Es sind einfach Menschen. Na ja, es waren mal welche.« Shelby, die gerade die Decke zusammenfaltete, hielt inne. »Aber gesehen hast du nie einen?« »Nein.« »Obwohl du es wolltest.« Ross lächelte gequält. »Ich hab auch noch nie einen Zehntausend-Dollarschein gesehen, obwohl ich immer einen sehen wollte.« Ja, es war richtig, dass er den Job aufgegeben hatte, schließlich hatte er in den neun Monaten nicht das gefunden, wonach er gesucht hatte. Aber andererseits besaß er ein unerklärliches Foto; womöglich ein Geist, der von der Wärme oder dem Licht oder sogar von den Batterien in seiner Kamera die nötige Kraft bezogen hatte, um sichtbar zu werden. Das fand Ross vollkommen logisch. Schließlich war Aimee seine Energiequelle gewesen. Ohne sie war er selbst kaum mehr als ein Geist, der ungesehen durch sein eigenes Leben glitt. »Ich fahr den nicht über den Haufen!«, brüllte der Vorarbeiter mit dem dunkelroten Gesicht. Er starrte aus dem Führerhaus des Bulldozers zornig auf Eli hinunter, die Arme über dem ausladenden Bauch verschränkt. »Mr. Champigny …« »Winks.« Der Bursche, der ausgestreckt auf dem Boden lag, lächelte zu Eli hoch. »So nennen mich alle.« Elis Hund sprang heran und stellte die Vorderpfoten auf Winks’ Brust. »Watson, Platz!«, befahl Eli. »Mr. Champigny, ich muss Sie bitten aufzustehen. Die Firma Redhook hat die Erlaubnis, auf diesem Grundstück tätig zu werden.« »Was hat er gesagt?«, rief Winks einer Gruppe von Grundstücksbesetzern zu. »Können Sie die nicht festnehmen?«, fragte Rod van Vleet. »Bis jetzt haben sie sich außer zivilem Ungehorsam noch nichts zuschulden kommen lassen.« Zumindest lauteten so die Anweisungen von Elis Chef, Chief Follensbee, der Sorge hatte, das Ganze könnte zu einem regelrechten Rassenkonflikt eskalieren. Eli wusste, dass die Abenaki sich zurückhalten würden, wenn man sie nicht unter Druck setzte. Trotzdem ging ihm das alles gegen den Strich. Er musste den stadtbekannten Trinker Abbott Thule von Abe’s Store abholen und in die Ausnüchterungszelle verfrachten. Er musste Futter für Watson besorgen. Er wollte sich jetzt nicht mit einem Haufen Indianer herumschlagen. Er rieb sich den Nacken. In solchen Augenblicken fragte er sich, wieso er nach dem Tod seiner Mutter nicht nach Florida gezogen war. Er war sechsunddreißig und arbeitete viel zu viel. Verdammt, er könnte jetzt mit seinem Dad eine Runde Golf spielen. Er könnte unter einer Palme dösen. Neben ihm blickte Watson hechelnd zu ihm hoch. »Auf diesem Grundstück ruhen menschliche Überreste«, beteuerte Winks. »Stimmt das?«, fragte Eli. Rods Gesicht verdunkelte sich. »Es sind keine gefunden worden. Bloß ein Medaillon aus Blech, ein paar Tonscherben und ein Penny von 1932.« »Eine Pfeilspitze«, rief Az Thompson, obwohl Eli gedacht hatte, der alte Mann wäre zu weit entfernt, um sie zu verstehen. »Vergesst die Pfeilspitze nicht.« Der Bauunternehmer verdrehte die Augen. »Was rein gar nichts beweist, nur dass ein paar Kinder hier mal Cowboy und Indianer gespielt haben.« Az Thompson kam zu ihnen. »Pfeilspitzen interessieren uns nicht. Aber unsere Ahnen. Haben Sie Eli fragte sich, wieso der alte Mann an diesem Grundstück hing. Soweit er wusste, hatte Az früher irgendwo im Westen gelebt. Zugegeben, er lebte schon fast so lange hier wie Eli, aber Az hatte bestimmt keine besondere Verbindung zu diesem Fleckchen Land. Vermutlich wehrte er sich nur aus Prinzip gegen die Baumaßnahmen. »Das ist eine Drohung«, sagte Rod zu Eli. »Sie haben’s gehört.« Az lachte. »Womit hab ich Ihnen denn gedroht?« »Mit einem Fluch. Irgendeiner … Hexerei.« Der alte Indianer schloss eine Hand um seine Pfeife und zündete mit der anderen die Blätter darin an. »An so was muss man glauben, damit es funktioniert.« Er inhalierte. »Glauben Sie an so was, Mr. van Vleet?« »Hören Sie«, sagte Eli mit einem Seufzer. »Ich weiß, was ihr alle von der Baufirma haltet, Az. Aber wenn ihr euch beschweren wollt, dann macht das am besten auf dem Rechtsweg.« »Als das Rechtssystem beim letzten Mal behauptet hat, es wüsste, was gut für die Abenaki ist, wäre es ihm fast geglückt, uns auszurotten«, entgegnete Az. »Nein, Detective Rochert, ich glaube nicht, dass wir Ihren Rechtsweg einschlagen werden.« » Eli packte Winks am Hemdkragen und stieß ihn seitlich gegen den Bulldozer. Sofort war Watson hinter ihm, fletschte die Zähne. Eli hörte das wohltuende Geräusch, als Winks’ Kopf auf Metall prallte, dann kam er wieder zur Vernunft. Er spürte, dass Az Thompson ihn beobachtete. Als er sich abwandte und seinen Hund zurückrief, erinnerte Eli sich, wie er mit den Verwandten seiner Mutter am Ufer des Sees geangelt hatte, einen Sommer lang. Die Kinder, braun und barfuß, spielten so oft Fangen, dass das hohe Gras auf einer großen Fläche platt getreten war. Eli war zehn, als ihm klar wurde, dass der See, den er als Mit einem Nicken gab er dem Fahrer des Bulldozers das Signal, dass er mit der Arbeit beginnen konnte, und drehte sich bewusst von den Indianern weg, entschlossen, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Eine Woche nach seiner Ankunft in Comtosook spazierte Ross am Ufer des Sees entlang, ohne auf die spitzen Kieselsteine unter seinen nackten Füßen zu achten. Das Wasser war kalt – zu kalt für August –, aber das störte ihn nicht. Etwas zu empfinden tat gut, selbst wenn es Unbehagen war. Lake Champlain war so groß, dass man das gegenüberliegende Ufer nicht sehen konnte, obwohl dort in der Ferne die Adirondacks wie Soldaten aufragten. Aimee war auf der anderen Seite geboren worden, im Norden des Staates New York. An dem Tag, als die Welt unterging, waren sie unterwegs zu ihren Eltern. Als Ross noch in dem Buchladen in Manhattan gearbeitet hatte, fand dort einmal eine Autorenlesung zum Thema Bestattungsrituale statt. In Tibet zog ein Mönch dem Verstorbenen das Fleisch von den Knochen und schnitt alles in Stücke, damit Geier die Überreste verschlingen konnten. Auf Bali wurden die Toten bis zu ihrer feierlichen Verbrennung beerdigt, weil die Vorbereitung der spektakulären Zeremonien mitunter Jahre dauerte. Während der Lesung hatte Ross im Hintergrund gestanden und nur gestaunt. Irgendwann war Aimee hereingeplatzt und wäre fast an ihm vorbei ins Lager gestolpert, wenn er sie nicht festgehalten hätte. Sie warf sich in seine Arme und fing an zu schluchzen. Das Publikum reckte schon die Köpfe, und auch der Autor blickte irritiert auf. Ross zog Aimee an der Hand in die Abteilung für Gartenbücher. Mit klopfendem Herzen nahm er ihr Gesicht in beide Hände: Sie hatte Krebs, sie war schwanger, sie liebte ihn nicht mehr. »Martin ist tot«, brachte sie schließlich mit erstickter Stimme heraus. Martin Birenbaum war bei einer Explosion in einer Chemiefabrik schwer verletzt worden. Er hatte an 85 Prozent seines Körpers Verbrennungen dritten Grades erlitten. Aimee, die als Assistenzärztin in der Notaufnahme arbeitete, war für ihn zuständig gewesen. Sie hatte alles getan, um seine Schmerzen weitestgehend zu lindern. Als er sie fragte, ob er sterben würde, hatte sie ihm in die Augen geblickt und Ja gesagt. Er war der erste Patient, den sie verlor, und deshalb hatte sich sein Gesicht unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingeprägt. »Ich bin bei ihm geblieben, weil ich wusste, dass ich ihm nicht helfen kann«, gestand Aimee. »Vielleicht wird es ja mit jedem Mal leichter. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht hätte ich nie Medizin studieren sollen.« Plötzlich starrte sie ihn an. »Wenn ich sterbe, musst du bei mir sein. So wie ich heute bei Martin war.« »Du stirbst nicht …« »Ross, bitte! Versprich es mir!« »Nein«, sagte er kategorisch. »Weil ich zuerst dran bin.« Sie schwieg einen Moment, lachte dann leise auf. »Hast du schon einen Termin?« » Ross warf einen Stein in den See, der über das Wasser hüpfte und unterging. Aimee war eingeäschert worden. Ihre Asche war irgendwo auf der anderen Seite des Sees, bei ihren Eltern. Er wusste nicht, was sie damit gemacht hatten; nach drei Jahren hatte er nicht mehr auf ihre Anrufe und Briefe reagiert, weil es einfach zu schmerzlich war. Aber er war nicht bei ihr gewesen. Meredith Olivers Büro im Generra Institute hatte eine Postleitzahl von Washington, D.C., und wenn man aus dem Fenster sah, konnte man in der Ferne das Jefferson Memorial erahnen. Sie fand das ziemlich absurd, da die meisten Wissenschaftler im Institut nichts von der Idee hielten, dass alle Menschen gleich geschaffen sind – ihrer Meinung nach überlebten nur die Stärksten. Ihr gegenüber saßen Mr. und Mrs. De la Corria und hielten sich nervös an der Hand. »Gute Neuigkeiten«, sagte Meredith mit einem Lächeln. Sie war seit zehn Jahren in der genetischen Präimplantationsdiagnostik tätig und hatte festgestellt, dass für ein Paar nur eines noch nervenaufreibender war als die In-vitro-Befruchtung, nämlich das Warten auf die Ergebnisse der vorausgehenden Tests. »Es gibt drei lebensfähige Embryos.« Carlos De la Corria war Bluter. Aus Angst, die Krankheit an seine Kinder zu vererben, hatten er und seine Frau sich für eine künstliche Befruchtung entschieden, wobei die aus seinem Sperma und ihren Eiern entstandenen Embryos von Meredith genetisch untersucht wurden. In den Uterus der Mutter eingepflanzt wurde dann der Embryo, der nicht die Gene für Hämophilie, die Bluterkrankheit, in sich trug. »Wie viele davon sind Jungs?«, fragte Carlos. »Zwei.« Meredith blickte ihm in die Augen. Die Gene für Hämophilie wurden über das X-Chromosom übertragen. Ein männliches Kind der De la Corrias konnte somit die Krankheit des Vaters nicht weitervererben. Carlos hob seine Frau aus dem Sessel und wirbelte sie durch Meredith’ kleines Büro. All die Moralapostel, die ständig vor den möglichen Folgen genetischer Modifikation warnten, müssten nur einmal einen solchen Augenblick erleben. Mrs. De la Corria sank atemlos wieder in ihren Sessel. »Das Mädchen?«, fragte sie leise. »Der dritte Embryo ist leider ein Träger«, erwiderte Meredith. Carlos drückte die Hand seiner Frau. »Na dann«, sagte er optimistisch, »bekommen wir eben zwei Jungs, Zwillinge.« Es gab noch immer genügend Hindernisse zu überwinden, aber Meredith hatte ihren Teil der Arbeit getan. Die Implantation würden Kollegen von ihr vornehmen. Meredith nahm den Dank der De la Corrias entgegen und schaute dann in ihren Terminkalender. Noch zwei Beratungsgespräche, und dann konnte sie den Nachmittag über im Labor arbeiten. Sie setzte ihre Lesebrille auf und zog den Stift aus dem Haar, den sie als behelfsmäßige Spange benutzte. Ihre honiggelben Locken fielen ihr wirr auf die Schultern, so chaotisch, als hätte Gott sich einen Scherz erlaubt, indem er der Ordnungsfanatikerin Meredith Oliver eine Haarpracht bescherte, die sich einfach nicht bändigen ließ. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Gesicht, rieb ihre geröteten Augen. »Heute Abend«, so sagte sie laut zu sich selbst, »werde ich nicht arbeiten.« »Dr. Oliver?« Ihre Sekretärin kam herein. »Die Albertsons sind da«, sagte die Sekretärin. »Einen Moment noch.« Sobald die Tür sich schloss, griff Meredith zum Telefon und rief zu Hause an. Sie stellte sich ihre Tochter vor, wie sie am Küchentisch saß, die Zöpfe über den Rücken warf und Schönschreibübungen machte. Lucy meldete sich. »Hallo?« »Hey, Schätzchen.« »Mom! Wann kommst du nach Hause?« »Bald.« Kurzes Schweigen. Dann: »Bevor es dunkel wird?« Meredith schloss die Augen. »Ich bin zum Essen da«, versprach sie. »Sag das auch Granny. Und keine Kekse mehr, bis ich nach Hause komme.« Lucy stockte der Atem. »Woher weißt du, dass ich …« »Weil ich deine Mom bin. Ich hab dich lieb.« Meredith legte auf, schlang dann ihr Haar oben auf dem Kopf zusammen. Sie kramte in ihrer Schublade nach einem Gummiband, fand aber nur ein paar Büroklammern, die als Haarnadeln herhalten mussten. Ihr Blick fiel auf die von den De la Corrias unterschriebene Einwilligungserklärung zur Beseitigung des dritten, des weiblichen Embryos. Spontan schob Meredith das Formular in die unterste Schreibtischschublade. Sie würde es verlieren, vorübergehend. Nur für alle Fälle. Sie drückte den Knopf der Sprechanlage, und gleich darauf traten die Albertsons ein. Sie wirkten niedergeschlagen und müde, wie die meisten Paare, die zum ersten Mal in ihr Büro kamen. Meredith erhob sich. »Ich bin Dr. Oliver. Ich habe mir Ihren Fall angesehen. Und«, sagte sie energisch, »ich kann Ihnen helfen.« Az wusste genau, im Ernstfall könnte er nicht mal ein Eichhörnchen aus dem Steinbruch vertreiben, geschweige denn einen bewaffneten Eindringling. Dass die Geschäftsleitung ihn als Wachmann behielt, geschah aus reiner Menschenfreundlichkeit oder Mitleid, vielleicht aber auch, weil er sich nur selten die Mühe machte, seinen Gehaltsscheck abzuholen, schließlich konnte er auf lange Sicht ohnehin nicht viel mit dem Geld anfangen. Zum Glück gab es nur eine Zufahrtsstraße zum Steinbruch, und nicht mal der schenkte Az große Aufmerksamkeit. Er saß in dem kleinen, beleuchteten Wachhäuschen, in das drei Sicherheitskameras ihre Bilder übertrugen, und starrte stattdessen auf den vierten Monitor, der ein Spiel der Red Sox zeigte. »Ha«, fauchte Az gerade einen Spieler an. »Und Im Steinbruch wurde, wie vielerorts in Vermont, Granit abgebaut. Vor langer Zeit hatte man die Sprenglöcher noch mit der Hand gebohrt und den Stein dann für den Transport zurechtgefräst. Heutzutage war fast alles computergesteuert. Az bekam kaum je eine Menschenseele zu Gesicht. Manchmal fragte Az sich, ob er vielleicht der einzige Mensch war, der hier noch angestellt war. In den dreißig Jahren, die er nun im Steinbruch arbeitete, hatte er nur zwei Vorfälle melden müssen. Beim ersten hatte ein Gewitter eine Explosion ausgelöst, die für den nächsten Tag geplant war. Beim zweiten war ein Mann in selbstmörderischer Absicht über die Schutzmauer geklettert und von einer Klippe in die Tiefe gesprungen. Der Idiot hatte sich beide Beine gebrochen und nach seiner Genesung eine Dotcom-Firma eröffnet. Az arbeitete gerne nachts und allein. Wenn er auf seinen Rundgängen leise war, konnte er förmlich hören, wie Blüten aufplatzten, er konnte den Wechsel der Jahreszeiten riechen. Er hätte gern gewusst, was am Otter Creek Pass vor sich ging. In der Woche, seit Rod van Vleet da gewesen war, hatte der Protest der Abenaki zugenommen und war von der Öffentlichkeit registriert worden. Die Tatsache, dass der Trunkenbold des Ortes, Abbott Thule, eines Morgens feststellen musste, dass sein bis dato glattes Haar über Nacht ganz kraus geworden war, tat ihr Übriges. Wenn Rod van Vleet halbwegs auf Draht wäre, würde er seine Baumaschinen nachts anrollen lassen, wenn die meisten Indianer zu Hause in ihren Zelten schnarchten. Zum Glück war der verantwortliche Vertreter der Firma Redhook ein Trottel. In Anbetracht der üblichen Desorganisation des Abenaki-Protestes sorgte das für eine gewisse Chancengleichheit. Ein Glühwürmchen schwebte an Az’ linkem Auge vorbei. Dann merkte er, dass es gar kein Glühwürmchen war, sondern ein schwacher Lichtstrahl auf dem pechschwarzen Überwachungsmonitor, der auf die Nordwand des Steinbruchs eingestellt war. Plötzlich lief es Az heiß zwischen den Schulterblättern herunter. Er setzte sich seinen Hut auf und marschierte los. Mit jedem Schritt fielen die Jahre von ihm ab, bis er aufrecht und stark war, weil er wieder gebraucht wurde. Ross wusste nicht, wem er mehr die Schuld gab: Ethan, weil er ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte, oder sich selbst, weil er auf ihn gehört hatte. »Im Angel-Steinbruch spukt’s«, hatte sein Neffe behauptet, »das sagen alle.« Er ging behutsam den schmalen Pfad entlang, bis er spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. Hier würde er also seine Ausrüstung aufbauen. Die Erinnerung an Aimee heute Nachmittag hatte ihm den Anstoß gegeben, noch einen letzten Versuch zu starten, auch wenn er Shelby erzählt hatte, dass er seine Arbeit als Geisterjäger aufgegeben hatte. Daher war er vom Lake Champlain direkt nach Burlington gefahren, wo er sich bei einem Elektronikdiscounter eine neue Infrarotkamera gekauft hatte. Als Shelby das Abendessen auf den Tisch stellte, erzählte er ihr, er hätte später noch eine Verabredung. »Im Ernst?« Sie hatte ihn so glücklich angestrahlt, dass es Ross einen Stich versetzte. »Wer ist sie?« »Geht dich nichts an.« »Ross«, antwortete Shelby, »das ist genau das Richtige für dich.« Er schämte sich, weil er seine Schwester angelogen hatte.Und jetzt, während seine Schwester sich den Kopf zerbrach, mit welcher Frau er sich wohl traf, legte Ross seine Taschenlampe auf einen Felsvorsprung, damit er das Stativ für die Kamera sehen konnte. »Ich werde nichts sehen«, murmelte Ross, als er durch den Sucher spähte. Dann stieß er einen Fluch aus. Er hatte die Sache an den Nagel gehängt. Er glaubte nicht an Geister, nicht mehr. Aber was, wenn sich dieses Mal doch irgendwas materialisierte? Falls Ethan recht hatte – falls im Steinbruch jemand ermordet worden war –, bestand die Chance, dass sich hier ein ruheloser Geist herumtrieb. Einer, der Unerledigtes zurückgelassen hatte – oder einfach einen geliebten Menschen nicht verlassen wollte. Ross vertraute seinem Instinkt und richtete die Kamera auf eine Stelle, die seinen Blick immer wieder anzog, obwohl er nicht wusste, ob dort tatsächlich ein Mord geschehen war. Er legte eine Kassette ein, lehnte sich zurück und wartete. Plötzlich blendete ihn ein greller Lichtstrahl. »Ich kann das erklären«, setzte er an. Doch dann versagte ihm die Stimme, denn vor ihm stand ein greisenhafter Mann in einer alten Nachtwächteruniform; ein Mann, in dessen Augen so viel Weltklugheit lag, dass Ross sicher war, einem Geist gegenüberzustehen. »Wer »Sie haben widerrechtlich Privatgelände betreten«, sagte Az. »War das früher Ihr Land?« Az hatte auf einmal Mitleid mit dem Mann. »Hör mal, du packst jetzt dein Zeug hier ein und verschwindest, und ich sag keinem, dass ich dich gesehen habe.« Der Mann nickte, und dann machte er plötzlich einen Schritt nach vorn und versuchte, ihn zu berühren. Verblüfft wich Az zurück und hob seinen Gummiknüppel. »Bitte! Ich … ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.« »Wohnen Sie hier?« »Nein, und ich habe auch kein Tipi, falls du das meinst.« Az packte ihn am Arm. »Und jetzt stell das Ding da ab, sonst …« »Sie können mich anfassen …?« »Ich kann dir auch eine Tracht Prügel verpassen«, sagte Az. »Die Red Sox spielen gegen die Yankees, also mach schnell.« Der Eindringling erlosch förmlich. Az hatte das schon öfter beobachtet, am Sterbebett von Freunden, wenn das innere Licht plötzlich ausging, das einen Menschen zu dem machte, der er war. »Die Red Sox«, murmelte der Mann. »Dann sind Sie kein Geist.« »Ich mag ja alt sein, aber den Löffel hab ich noch nicht abgegeben.« »Ich dachte, Sie wären …« Er schüttelte den Kopf, streckte ihm dann die Hand hin. »Ich bin Ross Wakeman.« »Sie sind verrückt, mehr nicht.« »Das wohl auch.« Ross strich sich durchs Haar. »Ich erforsche das Übersinnliche. Jedenfalls hab ich das, bis vor Kurzem.« Az zuckte die Achseln. »Schon mal was gefunden?« Ross merkte auf. »Gibt’s denn hier was zu finden?« »Hab noch nie was gesehen. Jedenfalls hier nicht.« »Aber anderswo schon?« Az ließ die Frage unbeantwortet. »Sie können hier nicht bleiben. Privatgelände.« Ross fing an, seine Ausrüstung einzupacken, wobei er sich reichlich Zeit ließ. »Ich hab gehört, hier ist vor Jahren ein Mord geschehen.« »Das sagen die Leute.« »Wissen Sie irgendwas darüber?« Az blickte in die Grube vom Steinbruch. »Das war vor meiner Zeit hier als Wachmann.« »Alles klar.« Ross schulterte die Tasche mit der Kamera. »Entschuldigen Sie … wegen der Verwechslung.« »Schon gut.« Az begleitete den jungen Mann nach draußen. Als Ross schon an seinem Wagen war, legte Az die Hände um die gusseisernen Stangen des Eingangstors. »Mr. Wakeman«, rief er. »Die Geister, die Sie suchen – Sie sind schon ganz nah dran.« Er ging zurück in sein Wachhäuschen und ließ Ross mit der Frage allein, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war. Im Laufe der folgenden Wochen lernten die Einwohner von Comtosook, an das Unerwartete zu glauben. Mütter erwachten nachts, die Stimme tränenerstickt, sodass sie nicht einmal mehr nach ihren Kindern rufen konnten. Geschäftsleute, die zufällig ihr Spiegelbild in einer Glasscheibe sahen, erkannten ihre eigenen Gesichter nicht wieder. Liebespärchen, die an einem einsamen Platz im Auto leidenschaftliche Schwüre tauschten, merkten, dass ihre Worte wie Luftblasen herauskamen und sogleich wieder platzten. Shelby Wakeman stellte fest, dass es an allen nach Norden gehenden Fenstern ihres Hauses von Marienkäfern nur so wimmelte. Rod van Vleet konnte höchstens eine Viertelmeile in seinem Firmenwagen fahren, dann drang aus den Lüftungsschlitzen ein so penetranter Beerengeruch, dass er das Gefühl hatte, in einem Marmeladenglas zu sitzen. Spencer Pike schob die Hand unter sein Kissen und entdeckte drei himmelblaue Rotkehlcheneier. Obwohl er wusste, dass es für ihn nicht gut war, riskierte Ethan immer wieder einen heimlichen Blick auf die Sonne. Katzen entwischten von zu Hause und spazierten zum Fluss, um dort zu baden. Der Wasserpegel des Lake Champlain hob und senkte sich zweimal täglich, als gäbe es dort Ebbe und Flut. Und trotz des milden Augustklimas gefror der Boden des umstrittenen Grundstücks am Otter Creek Pass, sodass die Ausschachtungsarbeiten eingestellt werden mussten. »Was haltet ihr davon?«, fragte Winks Smiling Fox und schob die Trommel ächzend ein Stück nach links. Wo sie gesessen hatten, war die Erde vereist. Ein wenig weiter wuchs der Löwenzahn. »Erinnert ihr euch noch an die alten Geschichten von Azeban?«, fragte Winks. »Azeban?«, echote Fat Charlie. »Der Waschbär?« »Genau.« Winks nickte. »Wie er aus Spaß für irgendjemanden eine Falle gebaut hat und dann selbst hineingeraten ist? Oder wie er das Feuer austrampeln wollte, neben dem der Fuchs schlief, und sich dabei den Schwanz verbrannte?« »Ein kleines Feuerchen wäre hier auch nicht schlecht, ehrlich gesagt …« »Nein, Charlie«, sagte Az, der unbemerkt näher gekommen war. »Winks meint, wenn man anderen Böses tut, widerfährt einem selbst auch Böses.« Er sah zu, wie seine Freunde sich wieder hinsetzten und nach den Trommelstöcken griffen. Abgesehen von dem Gesang in ihrer schon fast vergessenen Stammessprache verriet nichts, dass diese Männer Abenaki waren. Ihre Ahnen hatten Weiße geheiratet, in der Hoffnung, sich hinter weißen Familiennamen und europäischen Gesichtszügen verstecken zu können. Winks hatte blondes Haar. Fat Charlies Haut war so blass wie die eines Iren. »Meinst du, es steckt vielleicht noch mehr dahinter?«, fragte Winks. »Ich meine, da passieren wirklich seltsame Dinge.« »In der Stadt sagen sie, wenn die Indianer Redhook nicht von dem Land vertreiben, dann erledigen die Geister das«, fügte Charlie hinzu. »Wenn mein Grab von einem Bulldozer umgepflügt würde, wäre ich auch ziemlich sauer.« Winks schnaubte. »Habt ihr den Archäologen gesehen? Immer wenn er meint, keiner hört ihn, flüstert er ein Vaterunser. Die haben ordentlich Schiss.« »Mir ist letztes Jahr der Geist von meinem Urgroßonkel bei einer Schwitzzeremonie erschienen«, sagte Fat Charlie. »Du hast doch auch schon welche gesehen, Az?« »Es gibt einen Unterschied zwischen einem Geist, der weitergezogen ist, und einem, der nicht wegkann«, sagte Az. Er hob ein Messer auf und begann, einen Ast anzuspitzen. »Wo ich herkomme, gab es mal eine junge Frau, die nicht den Mann heiraten durfte, den sie liebte, weil ihre Eltern dagegen waren. Deshalb erhängte sie sich an einer Buche oben auf dem Berg. Am Tag nach ihrer Beerdigung ging ihr Freund zu demselben Baum und erhängte sich ebenfalls. Und wenn ein Indianer durch Erhängen stirbt, kann sein Geist nicht auffahren – er bleibt im Körper gefangen.« Er prüfte die Speerspitze mit dem Daumen. »Nach ihrem Tod tauchten nachts immer wieder zwei blaue Lichter über dem Berg auf.« Winks beugte sich vor, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Ist mal jemand nachsehen gegangen?« Der Alte führte das Messer erneut an dem Ast entlang. Er spürte Rod van Vleet hinter sich, der so tat, als würde er nicht zuhören. »So dumm«, sagt Az, »war keiner.« »Ethan?« Ethan erstarrte unter dem Verdunkelungsrollo, als er die Stimme seiner Mutter hörte. Er schnellte von der warmen Fensterscheibe zurück und schob die Sonnenbrille in den Spalt zwischen Bett und Wand. »Hi«, sagte er, als sie in sein Zimmer trat. Ihr scharfer Blick registrierte die zerknitterte Tagesdecke, die Mütze auf Ethans Kopf, die geschlossenen Vorhänge. Sie kam auf ihn zu, musterte ihn und zog dann den Ärmel seines Sweatshirts tiefer, weil ein Zentimeter Haut am Handgelenk noch frei war. »Ich muss zur Arbeit«, sagte seine Mutter. »Du solltest längst schlafen.« »Ich bin nicht müde«, maulte Ethan. Aber ihm kam der Gedanke, dass seine Mutter erschöpft sein musste. Schließlich blieb sie die ganze Nacht mit ihm auf und arbeitete dann halbtags in der Bücherei. »Mom«, erkundigte er sich, »bist »Ständig«, antwortete sie und gab ihm dann einen Abschiedskuss. Er wartete, bis er ihre Schritte auf dem Fliesenboden in der Küche hörte. Ethan tastete sich an der Bettkante entlang, bis er seine silberne Wraparound-Sonnenbrille wiederfand. Er zog sich die Mütze tiefer in die Stirn. Dann hob er das Rollo an und kauerte sich auf die Fensterbank. Nach wenigen Minuten zeichneten sich rote Flecken auf seiner kreideweißen Haut ab, aber Ethan war das egal. Er würde die Narben in Kauf nehmen, wenn er nur so beweisen konnte, dass er tatsächlich Teil dieser Welt gewesen war. Die Stadtbücherei von Comtosook zog nicht viele Besucher an. Kleine Räume reihten sich aneinander wie Perlen und hätten sich viel besser für einen Gasthof auf dem Lande geeignet denn als Aufbewahrungsort für Literatur. Die Regale standen kreuz und quer, manche mitten im Raum. Die Bibliothekarin – und das war vormittags Shelby – musste nicht nur verschiedene Suchmaschinen beherrschen, sondern auch den Bestand der Bücherei genau kennen. Die meiste Zeit jedoch konnte Shelby tun und lassen, was sie wollte, und ihre große Leidenschaft waren ausgefallene Wörter. Manchmal saß sie mit aufgeschlagenem Wörterbuch da und studierte es mit der gleichen atemlosen Faszination, wie andere einen Thriller lasen. Nach vier Jahren College und abgeschlossenem Studium durchschaute sie sehr wohl, dass sie die Sprache als Pufferzone zwischen sich und dem Rest der Welt benutzte. Sie war sich auch darüber im Klaren, dass sie, selbst wenn sie jeden Eintrag im Wörterbuch auswendig lernen würde, noch immer keine Erklärung dafür hätte, was aus ihrem Leben geworden war. Sie machte sich Sorgen um Ethan. Sie machte sich Sorgen um Ross. Sie war so damit beschäftigt, den Alltag zu meistern, dass sie nie darüber nachdachte, wieso sich eigentlich niemand Sorgen um sie machte. Die Bücherei war menschenleer, denn die Menschen wagten sich in einer Stadt, die sich vor ihren Augen veränderte, kaum noch vor die Tür. Für Shelby, die tagtäglich mit dem Abnormen lebte, waren die jüngsten Ereignisse kein Grund zur Unruhe. Als die Tür sich quietschend öffnete, blickte Shelby auf. Ein Fremder kam herein. Er trug einen teuren Anzug, der aus keinem der Geschäfte im Umkreis von fünfzig Meilen stammen konnte. Aber irgendetwas an ihm stimmte nicht. Seine Haut war fast so weiß wie Ethans. Er sah von dem schiefen Boden über die schrägen Wände mit den bis zur Decke reichenden Enzyklopädien und fragte: »Können Sie mir helfen?« »Dafür bin ich da.« Sein Blick kreiste durch den Raum wie ein Vogel und blieb dann auf Shelby haften. »Kann man denn hier irgendwas finden?« »Indianerfriedhöfe. Was mit ihnen passiert ist, in der Vergangenheit, wenn darauf gebaut wurde. Präzedenzfälle. So was in der Art.« »Sie sind bestimmt von der Baufirma«, sagte Shelby. Sie führte ihn in einen entlegenen Winkel der Bibliothek, wo ein Mikrofiche-Lesegerät hinter einem Regal mit Kochbüchern stand. »Vor etwa einem Jahr hat es in Swanton einen ähnlichen Streitfall gegeben. Vielleicht schauen Sie zuerst mal hier nach.« »Sie wissen nicht zufällig, wie die Sache ausgegangen ist?« »Der Staat hat das Land gekauft.« »Oh, prima. Toll.« Er ließ sich in den Sessel sinken. »Lag auf dem Grundstück in Swanton auch ein Fluch?« »Wie bitte?« Einen Moment lang schien er völlig am Ende. »Was machen diese Indianer … beschwören die ihre ganzen toten Ahnen, wenn sie sie brauchen, nur damit wir wieder verschwinden?« Shelby kaute auf einem Fingernagel. »Herrje, wir wollen doch bloß ein kleines Einkaufszentrum bauen. Ich hab die Unterschrift des Besitzers, alles ganz legal. Ich hab bereits fünfzigtausend Dollar hingeblättert. Ich hab mir nichts zuschulden kommen lassen, und was krieg ich dafür? Die Temperatur sackt auf einmal ohne ersichtlichen Grund in den Keller, ich höre mitten in der Nacht kreischende Stimmen, die halbe Belegschaft kündigt mir. Und … heute Morgen bin ich geschubst worden, und dabei war gar niemand hinter mir!« Er sah Shelby direkt an. »Ich bin nicht verrückt.« »Natürlich nicht«, murmelte sie. Der Mann strich sich mit der Hand übers Gesicht. »Ich weiß nicht, wieso ich hergekommen bin. Sie können mir nicht helfen.« »Nein, kann ich nicht«, sagte Shelby. »Aber ich denke, ich kenne jemanden, der das kann.« Ross saß in Shelbys Wohnzimmer vor dem Fernseher. Kabel verbanden die Videokamera mit dem Bildschirm, und er ließ das kurze Band laufen, das er im Steinbruch aufgenommen hatte. Eine Sequenz sah er sich genauer an. Aber nein, das Flackern in einer Ecke war bloß eine Spiegelung – nichts Paranormales. Er schaltete den Fernseher ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück. »Reine Zeitverschwendung.« »War es so schlimm?« Shelby kam herein. »Mit Ethan gab’s keine Probleme.« »Ich meinte deine Verabredung. Verrätst du mir jetzt, wer die Glückliche ist, oder ist das ein Staatsgeheimnis?« »Kennst du nicht.« »Woher willst du das wissen?« Shelby setzte sich. »Was machst du mit der Videokamera?« Ross wechselte rasch das Thema. »Wie war die Arbeit?« »Ich glaube, ich hab dir heute einen Job verschafft.« »Danke, aber Bibliotheksarbeit ist nichts für mich.« Shelby setzte sich und zog die Beine hoch. »Heute ist ein gewisser Rod van Vleet in die Bücherei gekommen. Er arbeitet für die Baufirma, die drüben am Otter Creek Pass ein Stück Land gekauft hat …« »Wo?« »Ist egal. Wichtig ist aber, dass er mit den Nerven am Ende ist, weil er denkt, da spukt’s.« Shelby lächelte triumphierend. »Jetzt rate mal, wo du ins Spiel kommst.« Seine Kiefermuskulatur verkrampfte sich. »Geht’s dir ums Geld? Wenn du willst, dass ich Miete zahle …« »Ross, bitte nicht. Ich hab dich erwähnt, weil ich dachte, du würdest dich freuen. Seit du hier bist, bläst du Trübsal.« Ross stand auf, riss das Verbindungskabel aus dem Fernseher und packte die Videokamera ein. »Mir war nicht klar, dass du solche Erwartungen an mich stellst«, sagte er verbittert. Shelbys Hände umschlossen Ross’ Handgelenke. Mit dem Daumen schob sie die Ärmel seines Pullovers hoch, glitt über seine vernarbte Haut. »Ich wollte dich fragen, ob du zum Abendessen Suppe haben willst, Suppe, Ross, und du lagst da in deinem Blut.« »Du hättest mich einfach liegen lassen sollen«, sagte Ross und löste sich sanft von ihr. »Ach, Scheiße.« Tränen glitzerten in Shelbys Augen. »Wenn du gleich ins Bad gehst, frage ich mich, ob du Pillen schluckst. Wenn du mit dem Wagen unterwegs bist, frage ich mich, ob du gegen einen Baum fährst. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du nicht der Einzige bist, der einen geliebten Menschen verloren hat? Aimee ist gestorben. Menschen sterben. Du Sein Blick war eisig. »Ob du das in ein paar Jahren auch so siehst, wenn es um Ethan geht?« Ein leises Geräusch drang von der Tür, aber als sie sich umwandten, war der Junge, der jedes Wort mitgehört hatte, bereits weggelaufen. Er trug ein Sweatshirt und eine lange Hose und natürlich seine Baseballmütze, aber Gesicht und Hände waren unbedeckt. Als Ethan den Steinbruch erreichte – die höchste Stelle der Stadt, mit schroffen Felsen, die in den Himmel ragten –, waren seine Finger angeschwollen und rot und pochten bei jedem Herzschlag. Vielleicht würde ihn unterwegs ein Laster überfahren. Vielleicht würde er verbrennen, einfach in Flammen aufgehen. Wenn er jetzt starb, was machte das schon aus? Was er über Comtosook wusste, hatte er aus Landkarten und aus dem Internet erfahren. Natürlich war er auch früher schon mal draußen gewesen – aber bei Tageslicht sah alles anders aus. Er konnte die Augen nicht von den Straßen losreißen, die voller Autos waren, von den Bürgersteigen voller Menschen. Er wusste ja nicht, dass der Ort normalerweise noch viel belebter war – für Ethan wirkte diese sonnige Welt so geschäftig, dass es ihm den Atem verschlug. Ethan wusste, dass er sterben würde. Psychologen und Ärzte und Sozialarbeiter hatten mit ihm geredet und versucht, ihm dabei zu helfen, die Prognose für einen XP-Patienten zu akzeptieren. Vielleicht würde er fünfzig, höchstwahrscheinlich jedoch nicht älter als fünfzehn. Das hing davon ab, wie stark seine Zellen bereits vor der Diagnose geschädigt waren. Die Felsen des Steinbruchs ragten vor ihm auf. Er wusste nicht, was er hier eigentlich tun sollte. Vielleicht sein Sweatshirt ausziehen, bis die Schmerzen unerträglich wurden und er das Bewusstsein verlor. Er lief die Einfahrt hinauf und blieb abrupt stehen. Sein Onkel Ross stand da gegen die Motorhaube seines verbeulten Autos gelehnt, die Arme verschränkt. »Wie hast du mich gefunden?« »Gefunden? Ich war zuerst hier.« Ross sah, dass Ethans Hände und sein Gesicht von der Sonne verbrannt waren, sagte aber nichts. Er reichte Ethan nur eines von seinen eigenen Sweatshirts, dessen Ärmel ihm bis über die Hände fielen. Dann blinzelte er in den Himmel. »Ich hab mir gedacht, ein Junge, der mit der Sonne noch eine Rechnung offen hat, würde versuchen, ihr möglichst nah zu kommen. Und das hier ist die höchste Stelle in der Stadt.« Er sah Ethan an. »Deine Mutter ist verrückt vor Angst.« »Wo ist sie?« »Zu Hause. Für den Fall, dass du dort zuerst auftauchst.« Er öffnete die Beifahrertür. »Können wir diese Unterhaltung im Haus weiterführen?« Nach einem Moment nickte Ethan. Er stieg ins Auto, nahm seine Baseballmütze ab und rieb sich den Kopf. »Stimmt das, dass du versucht hast, dich umzubringen?« »Ja.« Ethan spürte, wie sich ihm der Hals zuschnürte. Sein Onkel war einer der wenigen Männer, zu denen Ethan überhaupt Kontakt hatte, und er war ganz sicher der Coolste von allen. Er hatte total irre Sachen gemacht, Fallschirmspringen und Eisklettern. Ethan wollte so sein wie er, falls er das Glück hatte, je so alt zu werden. Aber er konnte einfach nicht begreifen, wieso der Mann, den er auf der Welt am meisten bewunderte, nicht bloß die Gefahr suchte, sondern darin umkommen wollte. »Warum?« »Um auf die andere Seite zu kommen«, erklärte sein Onkel. »Gott sei Dank«, schrie Shelby. Sie rannte zum Auto und zerrte Ethan hinaus. Shelby hielt ihren Sohn fest, als wäre er eine Verlängerung ihres eigenen Körpers. Ross lehnte sich gegen die Motorhaube und dankte Gott, dass er Ethan am richtigen Ort gesucht hatte. Er wollte zur Haustür gehen und merkte erst jetzt, dass ein Fremder neben seiner Schwester auf der Veranda stand. »Das ist Rod van Vleet«, sagte sie in einem Tonfall, der Ross verriet, dass ihr Streit noch längst nicht beendet war. »Er wollte dich sprechen.« Ross warf seiner Schwester den düstersten Blick zu, den er unter den gegebenen Umständen zustande brachte. Der Mann war kleiner als Ross, und sein Kopf mit dem schütteren Haar hatte die unvorteilhafte Form einer Erdnuss. Er trug einen eleganten Anzug, gestärktes Hemd, Krawatte. »Mr. Wakeman«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. »Wie ich höre, jagen Sie Geister.« Endlich einmal gefiel es ihm, dass alle ihn anstarrten. Ethan trug die Videokamera, obwohl sie schwer war, aber er würde seinem Onkel gegenüber ganz bestimmt nicht jammern. Außerdem schleppte Ross alles andere – von den Schlafsäcken bis zum Proviant (eine Überwachung, so hatte sein Onkel gemeint, war nun mal eine Überwachung, auch wenn die Leute, die man erwischen wollte, schon tot waren). Sie gingen an den Trommlern und dem Bulldozer und den Bauarbeitern vorbei, und Ethan merkte, dass so ziemlich jeder bei dem, was er gerade tat, innehielt. Ein alter Indianer starrte Ethan besonders eindringlich an, aber nicht, weil er seltsam aussah – sondern weil ihn der Mann und der Junge interessierten, die da so selbstverständlich über das Grundstück marschierten. Ethan blieb einen Moment stehen und beobachtete einen Studenten beim Sandsieben. Der junge Mann trug nur eine kurze Hose, und seine Schultern und der Rücken waren nussbraun. Ethan schaute an sich selbst hinunter, auf die langen Ärmel und die dicke Hose. Er sog die Luft durch das Gitter der Schutzmaske ein, die er tragen musste, wenn er bei Tageslicht das Haus verließ. »He, komm schon«, rief Ross über die Schulter, und Ethan hastete ihm nach. Der Bauunternehmer, Mr. van Vleet, kam auf sie zu. Er trug schicke Lederschuhe und rutschte immer wieder auf dem Eis aus, das die Erde wie Zuckerguss überzog. »Mr. Wakeman«, sagte er leise zur Begrüßung. »Wir verstehen uns doch hoffentlich, dass Sie die Sache … mit äußerster Diskretion behandeln.« »Und wir verstehen uns hoffentlich auch, dass ich meine Arbeit mache, wie ich es für richtig halte«, entgegnete Ross und kehrte dem Mann den Rücken zu. Er stieg die Stufen zu dem alten Haus hinauf. Eine brach in der Mitte durch, als er den Fuß daraufstellte. Das Haus mit den schwarzen Fensterläden, die schief in den Angeln hingen, sah aus, als hätte es geweint. Ethan trat zurück und reckte den Hals, um bis ganz nach oben zu schauen. Es war irgendwann einmal weiß gewesen. Die meisten Fenster waren längst zerbrochen. Efeu überwucherte den Türrahmen. In der Diele rieselte Putz von der Decke, und die Bodenbretter waren dick mit weißem Staub bedeckt. Die Wände waren schmierig und voller Kritzeleien: SARI BLÄST DIR EINEN. Unter der Treppe waren die Reste eines Lagerfeuers und mindestens dreißig leere Bierflaschen. Ethan blickte von dem zerbrochenen Geländer zu der düsteren Öffnung eines Nebenzimmers und dann zur Decke. Okay, es war gruselig, dachte er. Na und? Er war schließlich mutiger als die anderen Kinder, die er kannte … obwohl er, zugegeben, nicht viele kannte. Das redete Ethan sich zumindest ein, bis ihn eine Berührung im Nacken heftig zusammenfahren ließ. Kerrigan Klieg war der Reporter bei der Und was sich ihm hier bot, war der Stoff, von dem er nur träumen konnte: ein hundertjähriger Indianer, eine verstörte Provinzstadt, ein Baulöwe und Gerüchte von einem bösen Geist. Kerrigan ging neben Az Thompson her, dem Burschen, der ihn angerufen hatte, und fragte sich, wie der Alte es wohl geschafft hatte, so alt zu werden. »Seit Urzeiten ist uns unser Land weggenommen worden«, sagte Thompson. »Aber dass das auch nach unserem Tod noch so weitergehen soll, ist einfach deprimierend.« Kerrigan stieg über einen Hund hinweg, der auf einem alten Schuh herumkaute. »Soweit ich weiß, wohnt der Besitzer des Hauses, Spencer Pike, schon eine ganze Weile nicht mehr hier.« »Seit zwanzig Jahren nicht mehr.« »Glauben Sie, er wusste, dass das Land hier angeblich ein Indianerfriedhof war?« Der alte Mann blieb abrupt stehen. »Ich glaube, Spencer Pike weiß viel mehr, als er zugibt.« Kerrigan öffnete den Mund, um noch eine Frage zu stellen, als er einen Mann und einen Jungen ins Haus gehen sah. »Wer sind die beiden?« »Man munkelt, van Vleet hätte jemanden engagiert«, sagte Thompson. »Um sicherzugehen, dass es keine Geister gibt.« Er wandte sich dem Reporter zu. »Was meinen »Dass das eine prima Story abgibt«, antwortete Kerrigan vorsichtig. »Mr. Klieg, haben Sie sich schon mal die Schuhe angezogen, und die waren voller Schnee, mitten im August? Oder haben Sie gesehen, wie sich über Nacht Kürbisblüten aus einem Abfluss hochranken?« »Äh, nein, ehrlich gesagt.« Thompson nickte. »Dann sind Sie hier genau richtig«, sagte er. Als Ross Ethan im Nacken berührte, machte der Junge vor Schreck einen Satz. »Alles in Ordnung?«, fragte Ross. Ethan zitterten die Knie. »Klar. Ehrlich, alles cool.« »Ich kann dich auch nach Hause bringen, wenn du willst. Kein Problem.« Ross blickte Ethan ernst an. Statt einer Antwort legte Ethan die Hand auf das kaputte Treppengeländer und stieg nach oben. Mit einem Seufzer folgte Ross ihm. Für Ethan mochte die Sache ja spannend sein, aber Er hatte vier Bedingungen gestellt. Erstens, Ross leitete die Untersuchung und würde sich von niemandem etwas sagen lassen müssen, nicht einmal vom Chef der gesamten Redhook-Gruppe. Zweitens, die Einzigen, die sich während der Untersuchung im Haus und in der Nähe aufhalten durften, würden Ross und sein Assistent sein – Ethan, was den Jungen gleichermaßen erstaunte und begeisterte. Drittens, Ross wollte keinerlei Informationen darüber, was sich in der Vergangenheit in dem Haus und auf dem Grundstück zugetragen hatte, bis er selbst darum bat – das könnte sonst seine Eindrücke verfälschen. Viertens, er würde kein Geld nehmen – anders als die Warburtons, die jedem x-beliebigen Kunden einen Geist lieferten, wenn nur das Geld stimmte. Im Gegenzug versprach Ross, die Untersuchung diskret durchzuführen, ganz wie es die Geschäftsleitung von Redhook wünschte. Denn es sollte auf keinen Fall durchsickern, dass sie tatsächlich die Existenz übernatürlicher Phänomene in Betracht zog. Also war er jetzt hier und bereitete eine nächtliche Überwachung vor, ganz wie in alten Zeiten. »Leg die Kamera hin«, wies Ross Ethan an. »Wir gehen jetzt erst mal durchs Haus und sehen, ob wir was empfangen.« »Was Ross musste einen Moment nachdenken. Wie erklärte man einem Kind das Gefühl, sich selbst so zu öffnen, dass jeder Geruch und jedes Bild eine unauslöschliche Spur hinterließen? Wie erklärte man die Empfindung, wenn die Luft so schwer wie eine Decke wurde, die sich einem über den Brustkorb legte? »Schließ die Augen«, sagte Ross, »und sag mir, was du siehst.« »Aber …« »Mach schon.« Zuerst schwieg Ethan. »Licht … das aus den Ecken kommt.« »Okay.« Ross drehte ihn sanft im Kreis und hielt ihn dann an den Schultern fest. »Und jetzt … ohne zu schummeln … wo ist die Treppe?« »Hinter mir«, sagte Ethan, und das Staunen über seinen eigenen sechsten Sinn vibrierte in seiner Stimme. »Woher weißt du das?« »Einfach weil … na ja, es fühlt sich an wie ein Loch in der Luft.« »Gut gemacht, Wunderknabe. Das war Lektion Nummer eins.« »Und was ist Lektion Nummer zwei?« »Keine Fragen stellen.« Ross sah sich um. Sämtliche Möbel oder sonstigen Einrichtungsgegenstände, die es in diesem Haus gegeben hatte, waren längst verschwunden, und nur an den hellen Flecken an der Wand und den Abnutzungsspuren auf dem verdreckten Boden war zu erkennen, wo sie sich einst befunden hatten. Im ersten Stock waren drei kleine Schlafzimmer und ein Bad. Eine Treppe führte weiter nach oben zu einer winzigen Dienstbotenstube. »Onkel Ross? Wann kommen sie?« »Falls es hier Geister gibt, sind sie längst da.« Ross spähte in das Badezimmer. Er sah eine Wanne mit Löwentatzen, die in der Mitte einen Sprung hatte, und ein altes Klosett mit Spülkasten darüber. »Wahrscheinlich beobachten sie uns. Und wenn wir ihnen gefallen, werden sie versuchen, unsere Aufmerksamkeit zu erregen.« Ethan drehte den Wasserhahn auf, und eine braune Flüssigkeit tropfte heraus. »Macht es ihnen was aus, dass wir hier sind?« »Kann sein.« Ross tastete das Fenster ab. »Manche Geister wollen unbedingt zur Kenntnis genommen werden. Aber manche Geister wissen nicht mal, dass sie tot sind. Die sehen uns und fragen sich, wieso wir in ihrem Haus sind. Das heißt«, sagte er laut und herausfordernd, »falls es überhaupt welche gibt.« Er ging wieder die Treppe hinunter, inspizierte die Küche, die Vorratskammer, den Keller und das Wohnzimmer. In einem kleinen Arbeitszimmer mit Flügeltür stand noch ein alter Sessel, in dessen zerfetztem Polster sich eine Mäusefamilie eingenistet hatte. Der Boden war mit alten Zeitungen übersät, und an den Wänden klebte etwas, das aussah wie Schmierfett. »Onkel Ross? Ist Aimee ein Geist?« Ross spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten. »Das weiß ich nicht, Ethan.« Die Erinnerung an Aimee stieg in ihm auf wie eine Meerjungfrau aus dem Ozean. »Sterben … weißt du, ich stelle mir vor, das ist wie in einen Bus einsteigen. Viele sitzen drin bis zur Endstation. Aber manche steigen schon vorher aus.« »Vielleicht ist sie ausgestiegen, um dich zu sehen.« »Vielleicht«, sagte Ross. »Was ist, wenn …« »Ethan«, unterbrach Ross ihn. »Psst.« Er drehte sich im Kreis, versuchte, den flüchtigen Gedanken festzuhalten, der ihm gerade gekommen war. Er blickte über das Geländer nach unten auf den Unrat am Fuße der Treppe, auf die huschenden Mäuse. In der Ecke entdeckte er ein Hornissennest. Überall auf dem Flur sah er Spinnweben und Staub, Moos und Schimmel – die Spuren von Verwahrlosung und Feuchtigkeit. Ross ging in das Schlafzimmer, das nach hinten lag. Dort waren die Holzdielen schwarz von Schmutz und mit zerbrochenem Geschirr und leeren Süßigkeitenverpackungen übersät. Aber die Decke war so sauber, als wäre sie eben erst gestrichen worden. Kein einziges Spinnennetz, kein Schimmel, keine Insekten. Anders als im übrigen Haus hatten sich in diesem Zimmer keinerlei Tiere eingenistet. Ross drehte sich zu seinem Neffen um. »Hier«, sagte er, »bauen wir unsere Geräte auf.« »Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagte Lucys blutjunge Betreuerin im Freizeitlager. Sie hastete vor Meredith her über einen Pfad zum Geräteschuppen, in den sich Lucy vor fünfundvierzig Minuten eingeschlossen hatte. »Sie hat mit den anderen Völkerball gespielt, und auf einmal ist sie schreiend weggerannt.« Meredith stolperte ständig wegen ihrer hohen Absätze. Hatte sie Lucys Medikamente dabei? Wenn sie sich vor lauter Angst allein im »Meine Großmutter«, verbesserte Meredith sie automatisch. Ruby war mit ihren fast achtzig Jahren zwar geistig noch hellwach, fühlte sich aber hinter dem Steuer nicht mehr wohl. Sie hatte Meredith im Labor angerufen. Ein Notfall, hatte sie gesagt. Sie erreichten die kleine Holzhütte am Waldrand. »Lucy?« Meredith rüttelte am Türgriff. »Lucy, du machst jetzt sofort die Tür auf!« Sie schlug zweimal mit der Faust gegen die Tür. Beim dritten Schlag schwang sie auf, und Meredith trat gebückt ein. Die stickige Hitze sprang sie förmlich an. Lucy kauerte hinter einem Netz voller Fußbälle. Sie hielt eine lila Seidenschleppe an die Brust gepresst, Teil eines Kostüms für eine längst vergessene Musicalaufführung. Sie weinte. »Hier«, sagte Meredith und reichte ihr das Albuterol, das Lucy gehorsam in den Mund steckte und inhalierte. Dann nahm Meredith ihre Tochter in den Arm. »Wieso heißt das Spiel eigentlich Völkerball?«, sinnierte sie, als gäbe es nichts Normaleres, als hier und jetzt diese Frage zu stellen. Lucys Brust hob und senkte sich noch immer wie ein Blasebalg. »Es war nicht das Spiel«, gestand sie. »Ich hab was gesehen?« »Was denn?« »Da hing was. Im Baum. An einem Seil.« »Eine Schaukel?« Lucy schüttelte den Kopf. »Eine Frau.« Meredith zwang sich, Ruhe zu bewahren. »Zeigst du mir, wo?« Sie liefen nach draußen, vorbei an Lucys Betreuerin, vorbei an den kleinen Pavillons, in denen die Bastelstunden stattfanden, über eine schmale Brücke, die zu den Sportanlagen führte. Eine Gruppe von Kindern, allesamt älter als Lucy, spielte dort Völkerball. »Wo?«, fragte Meredith. Lucy deutete nach links auf einen Baum. Meredith nahm die Hand ihrer Tochter und blickte nach oben. »Kein Seil«, sagte sie leise. »Nichts.« »Es war aber da.« Lucys Stimme klang rau vor Hilflosigkeit. »Ehrlich.« »Lucy. Ich glaube dir, dass du etwas gesehen hast. Es gibt bestimmt eine vernünftige Erklärung. Vielleicht hat dich die Sonne geblendet.« »Vielleicht«, wiederholte Lucy leise. »Vielleicht war es ein Ast, der sich im Wind bewegt hat.« Lucy zuckte die Achseln. Plötzlich streifte Meredith ihre Pumps ab und gab Lucy ihren Laborkittel. »Halt mal«, sagte sie und begann, den Baum hochzuklettern. Sie kam bis zu einem ausladenden Ast. Mittlerweile schauten alle Kinder zu, und selbst Lucy musste lächeln. »Nichts«, stellte Meredith fest und stieg wieder hinunter. Ihre Nylonstrümfe hatten Löcher, und ihre Frisur war ruiniert. Lucy nahm das Gesicht ihrer Mutter in beide Hände. »Vielleicht hat mich ja die Sonne geblendet«, flüsterte sie. Meredith zog ihre Tochter fest an sich. »Tapferes Mädchen«, sagte sie und wusste genau, dass sie sich beide selbst nicht glaubten. Von den Warburtons hatte Ross gelernt, dass die Geisterstunde zwischen zehn Uhr abends und drei Uhr morgens war. Um halb elf war Ross mit den Vorbereitungen im Schlafzimmer des verlassenen Hauses fertig. »Wo bleiben denn die ganzen coolen Geräte?«, fragte Ethan enttäuscht. »Du weißt schon, die aus dem Fernsehen.« Er beäugte die Videokamera mit unverhohlener Skepsis. »Curtis sagt immer, beim ersten Mal sollte man nicht zu viel technischen Kram aufbauen«, erklärte Ross. »Am Ende ist man dann zu sehr mit den Geräten beschäftigt. Außerdem stören Geister das Magnetfeld und lösen oft Kurzschlüsse aus.« »Trotzdem«, quengelte Ethan. »Ohne vernünftige Ausrüstung sind wir doch lahme Enten.« Ross lachte, doch dann sah er das bekümmerte Gesicht seines Neffen. »Hör mal. Wenn hier irgendwas ist, kommen wir mit den richtig coolen Geräten zurück, okay?« Sie hatten die Kamera auf eine Zimmerwand ausgerichtet, die Schlafsäcke waren auf dem dreckigen Boden ausgerollt. Das einzige Licht im Raum kam von einer kleinen Taschenlampe, die einen hellen Kreis zwischen Ross und Ethan warf. Ross holte ein Kartenspiel heraus und fing an zu mischen. Ethan nahm es ihm aus der Hand. »Onkel Ross? Meinst du, der Geist hier ist irgendwie auf schreckliche Weise gestorben?« »Ich weiß doch noch gar nicht, ob hier ein Geist ist.« Der Junge fing an, die Karten zu verteilen. »Ich würde gern wissen, ob er wütend auf uns ist.« Ross neigte den Kopf in den Lichtkegel der Taschenlampe. »Um was spielen wir eigentlich?« »Gummibärchen.« »Ich setze zwei Gummibärchen.« Im Grunde glaubte Ross nicht, dass auf dem Pike-Grundstück ein Geist umging. Aber zumindest würde Ethan diese Nacht guttun. Ross stützte sich auf den Ellbogen und beobachtete seinen Neffen, der gerade sein Blatt hinlegte. »Ich hab einen Straight.« »Drei Buben.« »Vielleicht müsstest du mit Handicap spielen«, schlug Ethan vor. Er mischte die Karten neu. »Ich denke, ich komme wieder.« »Hierher?« »Nein, nicht Ross war mit den Warburtons in Häusern gewesen, in denen Kinder gestorben waren. Die Mütter hofften darauf, dass Curtis ihnen zurückgeben würde, was sie verloren hatten. In all den Fällen waren die Warburtons nicht deshalb gerufen worden, weil es seltsame Geräusche und unerklärliche Vorkommnisse gab, sondern gerade weil es sie nicht gab. Er dachte an seine Schwester und schob die Karten zusammen. »Ich hab Hunger«, sagte Ethan. Er verschwand in der Dunkelheit und hantierte herum, bis es plötzlich laut krachte. »Alles in Ordnung?« Ross leuchtete mit der Taschenlampe auf den Proviant, den sie mitgebracht hatten, aber die Ecke des Zimmers war leer. Ethan meldete sich hinter ihm. »Ich bin hier«, sagte er mit zitternder Stimme. »Das, äh, das war ich nicht.« Er drängte sich an den Rücken seines Onkels. »Sehen wir uns mal ein bisschen um«, flüsterte Ross. Es herrschte wieder Stille. Ross legte den Arm um Ethans Schultern. »Es kann alles Mögliche gewesen sein, Ethan.« »Genau.« »Komm, wir spielen weiter. Diesmal schlag ich dich.« Ethan entspannte sich ein wenig. Ross verteilte die Karten, aber seine Augen suchten die Dunkelheit ab. Nichts Ungewöhnliches, nichts, das seine Aufmerksamkeit erregte, bis auf die Verschlusskappe der Videokamera, die an einem schwarzen Band herunterhing und hin und her pendelte. Obwohl im Zimmer kein Lüftchen wehte. Von draußen kam ein Geräusch wie ein dumpfer Aufprall – ein fallender Ast oder ein Mensch, der auf allen Vieren landete. »Hast du das gehört?«, raunte Ethan zittrig. »Ja.« Ross ging zu dem zerbrochenen Fenster und spähte hinaus, sah den Wald, der bis an das Grundstück heranreichte. Etwas Weißes blitzte dort auf – das Hinterteil eines Rehs, eine Sternschnuppe, die Augen einer Eule. Er hörte Blätter rascheln und deutliche Schritte. Ein kurzer klagender Ruf, wie das Weinen eines Babys. »Vielleicht sollten wir mal nachsehen«, murmelte Ross. Ethan schüttelte heftig den Kopf. »Auf keinen Fall. Ich bleib hier.« »Ist wahrscheinlich bloß ein Waschbär.« »Und wenn nicht?« Shelby hoffte, dass es ihrem Sohn guttat, Ross bei der Arbeit zu helfen – vielleicht tat das ja beiden gut. Sie ging in Ethans Zimmer, hob seinen Gameboy vom Boden auf und ein paar Kassetten, die unter dem Bett lagen. Der Spielplan der Bostoner Baseballmannschaft hing an der Wand, und auf dem Schreibtisch lagen die Schulbücher, mit denen Shelby ihn unterrichtete. Sie ließ sich auf sein Bett sinken. Ob Ethan sie wohl vermisste, nur ein bisschen? Beklommen starrte sie den Computer an. Vor einiger Zeit hatte sie heimlich seine E-Mails gelesen und herausgefunden, dass er sechs Brieffreunde hatte – Kinder aus der ganzen Welt, alle in seinem Alter. Zuerst hatte Shelby sich gefreut. Dass Ethan einen Weg gefunden hatte, mit anderen Kindern Kontakt zu pflegen, machte ihr Mut. Doch dann musste sie feststellen, dass Ethan sich in seinen E-Mails als ein anderer ausgab. Für Sonya in Dänemark war er ein Sechstklässler mit Mathe als Lieblingsfach. Für Tony in Indianapolis war er der Star seiner Baseball-Schulmannschaft. Für Marco in Colorado war er ein begeisterter Bergwanderer, der jedes Wochenende mit seinem Dad eine Tour machte. In keiner einzigen Mail erwähnte er seine Krankheit. Er war ausnahmslos ein ganz normaler, sportlicher Durchschnittsjunge mit glücklich verheirateten Eltern. Ethan hatte sich zu all dem gemacht, was er nicht war. Mit einem Seufzer ging Shelby aus dem Zimmer Richtung Treppe. Als sie an Ross’ Tür vorbeikam, zögerte sie. Sie war acht Jahre älter als Ross, und es kam ihr so vor, als hätte sie schon ihr ganzes Leben lang auf ihn aufgepasst. Sie öffnete die Tür und begann aufzuräumen. Sie machte sein Bett und packte Shampoo und Zahncreme zurück in seinen Kulturbeutel. Auf dem Stuhl lagen die Kleidungsstücke ihres Bruders in einem unordentlichen Haufen. Kopfschüttelnd strich sie ein Hemd glatt und legte es aufs Bett. Als sie seine Jeans zusammenlegen wollte, fiel etwas aus der Tasche. Shelby bückte sich und hob es auf. Es waren drei Pennys aus dem Jahr 1932. Ross drehte sich um und winkte Ethan zu, der oben am Fenster stand, dann näherte er sich behutsam der Stelle im Wald, wo er zuletzt etwas Weißes hatte aufblitzen sehen. Er hatte Ethan die Taschenlampe dagelassen, daher konnte er kaum einen Meter weit sehen, aber er hörte deutlich, dass irgendjemand – oder irgendetwas – sich ganz in der Nähe bewegte. Ross fröstelte. Hier draußen war es kälter, als er gedacht hatte. Auf einmal roch er den Duft von Wildrosen. Z Doch stattdessen sah er plötzlich eine junge Frau vor sich, die auf dem Boden kauerte und versuchte, mit bloßen Händen in der gefrorenen Erde zu graben. Sie trug ein geblümtes Kleid, und ihr helles Haar flatterte ihr ins Gesicht. Das Weiß, das Ross gesehen hatte, war ein Spitzenkragen. Sie bewegte sich fieberhaft, ganz auf das Graben konzentriert. Sie war jung und hübsch und hatte hier nichts zu suchen. Und sie war ebenso real wie der Boden unter seinen Füßen. Offensichtlich hatte sie ihn noch nicht bemerkt. »Was machen Sie hier?«, fragte er. Sie drehte sich langsam um und blinzelte dann, als wäre sie überrascht, sich mitten im Wald wiederzufinden. »Ich … ich weiß nicht.« Als sie ihre Hände ansah und den Schmutz unter den Fingernägeln bemerkte, zog sie die Stirn kraus. »Hat van Vleet Sie geschickt?« »Ich kenne keinen van Vleet …« Ross überlegte. Vielleicht war es ja nur ein unwahrscheinlicher Zufall, dass es eine Schlafwandlerin ausgerechnet in der ersten Nacht seiner Geisterjagd auf das Grundstück verschlug? Auf einmal bedauerte er, dass er sie so barsch angesprochen hatte. »Wonach suchen Sie denn?« Die Frau wurde rot, und es sah so aus, als würde sie von innen leuchten. Als sie den Kopf schüttelte, roch er wieder ihr blumiges Parfüm. »Ich habe keine Ahnung. Letztes Mal bin ich im Schlaf auf den Heuboden eines Nachbarn gestiegen.« Ross stopfte die Hände in die Hosentaschen. »Ich bin Ross Wakeman«, sagte er. Sie sah zu ihm hoch, noch immer fassungslos. »Ich muss gehen.« »Nein, wissen Sie, da, wo ich herkomme, antwortet man auf so etwas mit: ›Hallo, ich bin Susan.‹ Oder: ›Hi, ich bin Hannah.‹« Ein zartes Lächeln umspielte ihren Mund. »Ich bin Lia«, sagte sie. »Und weiter?« Sie zögerte. »Beaumont. Lia Beaumont.« Jede Faser ihres Körpers war auf Flucht eingestellt. Sie nickte unsicher und wollte sich entfernen. Ross empfand das unerklärliche Verlangen, sie daran zu hindern, und überlegte krampfhaft, was er sagen könnte, um sie zum Bleiben zu bewegen. Plötzlich drehte sie sich zu ihm um. »Was tun Sie hier um diese Uhrzeit?« »Ich erforsche paranormale Phänomene.« Sie blickte ihn verwirrt an. »Geister«, erläuterte er. »Ich suche nach Geistern. Ehrlich gesagt, ich bin hergekommen, weil ich dachte, Ihr Kragen wäre … na, egal. Sie habe ich jedenfalls nicht erwartet.« »Tut mir leid.« »Aber nein.« Sie neigte den Kopf und musterte ihn eindringlich. »Glauben Sie wirklich, Tote können zurückkommen?« »Glaubt das nicht jeder?« Sie sah traurig aus. »Vielleicht sind wir auch jetzt nicht allein.« Prompt schaute Lia sich ängstlich um. »Wenn er mich findet …« Ross sah zu dem Fenster hoch, in dem kein Licht mehr zu sehen war, weder von der Taschenlampe noch von der Videokamera. Das Blut wich aus seinem Gesicht. »Ich muss gehen«, sagte er zu Lia und rannte los. Ethan wusste jetzt, wie Furcht sich anfühlte: wenn einem etwas von allen Seiten die Stirn zusammenpresste und die Beine so heftig zitterten, dass man sich hinsetzen musste, um nicht zu fallen. »Ich hatte keine Angst, ehrlich«, beteuerte Ethan. »Ich meine, es war bloß komisch, verstehst du? Weil auf einmal alles dunkel war.« Ross saß neben ihm im Wohnzimmer, und das Infrarotvideogerät war an den Fernseher angeschlossen. Der Bildschirm zeigte ein körniges, dunkles Bild mit zuckenden Rändern. Ethan begriff einfach nicht, was daran interessant sein sollte, sich ein Dreistundenband anzusehen, das nur eine Wand zeigte. Und obwohl das anscheinend ein unerlässlicher Bestandteil der Arbeit eines Geistersuchers war, musste er gähnen. Ethan war, ehrlich gesagt, völlig ausgeflippt, als die Taschenlampe und die Kamera von allein ausgingen. Wie sich herausstellte, war bei der Kamera einfach das Band zu Ende gewesen, und bei der Taschenlampe waren die Batterien leer. Jetzt blickte seine Mom stirnrunzelnd auf den Bildschirm. »Entgeht mir da was?« »Noch nicht.« Ross sah Ethan an. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, es war mit dir im Raum.« Ethan lief es kalt den Rücken herunter. »Ich … ich dachte, du bist nach draußen gegangen, weil du da was gesehen hattest.« »Nein, da war jemand.« Plötzlich drückte Ross die Pausentaste an der Fernbedienung. »Seht ihr das?« »Glühwürmchen?«, sagte Shelby. »Wann hast du denn das letzte Mal so viele Glühwürmchen gesehen, dass es aussieht wie Schneegestöber?« Er ließ das Band ein Stück zurücklaufen und drehte die Lautstärke höher, sodass seine und Ethans Stimme zu hören waren. »An der Stelle gehe ich«, erläuterte Ross. Seine Schritte auf der Treppe verklangen. »Seht ihr? Die Lichter tauchen auf, nachdem ich weg bin.« Dann wurde das Bild schwarz. Ross richtete sich auf. »Ich denke, dass dieses Etwas ins Zimmer kam, als ich draußen war. Die Sternchen auf dem Band – das war Energie, die ihre Gestalt verändert. Und das würde auch erklären, warum die Taschenlampe ausgegangen ist. Geister brauchen Energie, um sich zu materialisieren und zu bewegen. Der hier hat die Batterien in der Taschenlampe dafür benutzt.« Doch Ethan war allein im Zimmer gewesen, und er hatte nichts gesehen. Oder doch? Das Bild tauchte unvermittelt vor seinen Augen auf, verschwand aber wieder, bevor er es festhalten konnte. Ethan war inzwischen todmüde. Er hörte die Stimme seiner Mutter wie durch Wasser. »Und was erzählst du jetzt dem Baufritzen?« Die Antwort seines Onkels bekam Ethan schon nicht mehr mit. Er träumte von einem Strand mit Sand, der so heiß war, dass er ihm unter den Füßen brannte. »Kommen Sie zurecht?« Shelby schob ihre Lesebrille höher und sah von dem Mikrofiche-Lesegerät zu dem pockennarbigen Mitarbeiter des Nachlassgerichtes hoch. »Ja, danke.« Zum Beweis zog sie den Leseschlitten heraus und wechselte geschickt die Vorlage, um die nächste Seite des Testaments zu studieren. Ross hatte sie darum gebeten – und weil er sie so selten um Hilfe bat, hatte sie Ja gesagt. Sie sollte für ihn herausfinden, wie lange das Land schon im Besitz der Familie Pike war und ob es irgendwann von amerikanischen Ureinwohnern besiedelt gewesen war. Für Letzteres gab es keinerlei Hinweis, und sie stellte fest, dass das Grundstück erst seit den Dreißigerjahren Spencer Pike gehörte. Er hatte den Besitz allerdings nicht etwa durch Kauf erworben, sondern geerbt. Von seiner verstorbenen Frau. Testament von Mrs. Spencer T. Pike aus Comtosook, Vermont. Shelby runzelte die Stirn, als sie das Datum sah – 1931. Die Unterschrift war zart und krakelig: In dem Testament stand nichts darüber, wie ausgerechnet diese Frau mit so wenig Selbstbewusstsein in den Besitz des Grundstücks und des Hauses gekommen war. Ebenso wenig ging daraus hervor, wie ihr Mann ihren frühzeitigen Tod verkraftet hatte, ob er jeden Quadratzentimeter des Grundstücks, das jetzt ihm gehörte, liebend gern verschenkt hätte, wenn er sie dadurch hätte zurückbekommen können. Shelby verließ das Nachlassgericht. Kaum hatte sie einen Fuß auf die Straße gesetzt, kam ein Streifenwagen der Polizei mit quietschenden Reifen angebraust und hielt knapp vor ihr. Der Fahrer stieg aus, nuschelte eine Entschuldigung und rannte, gefolgt von einem monströs aussehenden Hund, ins Polizeirevier, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Shelby brauchte eine ganze Weile, um sich von dem Schreck zu erholen. Und nahm sich fest vor, noch im Laufe dieser Woche ihr Testament zu machen. Diesmal war Ross besser ausgerüstet, mit einer Digitalkamera und einem Thermoscanner – alles per Internet auf Shelbys Kreditkarte bestellt, was er seiner Schwester bislang verschwiegen hatte. Ethan wäre begeistert gewesen, aber er war diesmal nicht dabei – Shelbys Nachsicht war offenbar an ihre Grenzen gestoßen. Es war kurz nach elf, etwa eine halbe Stunde bevor der Geist Ethan beim letzten Mal erschienen war. Ross hockte sich hin und wartete. Er hoffte nichts weiter, als dass ihm das Glück genauso hold sein würde wie seinem Neffen. Er hatte die Geräte auf einer Lichtung ein Stück hinter dem Haus aufgebaut. Rod van Vleet hatte das Gebäude mittlerweile schon zur Hälfte abreißen lassen. Daher würde ein Geist sich einen anderen Aufenthaltsort suchen – und das Grundstück war weitläufig. Die Tatsache, dass Ross just an der Stelle anfing, wo er Lia Beaumont vor einigen Nächten getroffen hatte, war, so redete er sich ein, purer Zufall. Eine Zeit lang lauschte Ross dem Gezirpe der Grillen und dem Quaken der Frösche. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war, als er Schritte in der Nähe des Hauses hörte. Er blickte auf seinen Thermoscanner. Wenn ein Geist nahen würde, hätte die Temperatur stärker sinken müssen. Dennoch begann sein Herz zu rasen, als er gleich darauf eine Gestalt auftauchen sah. Der Wachmann vom Steinbruch trug diesmal nicht seine Uniform, doch Ross erkannte ihn sofort. Es gab in Comtosook nicht viele hundertjährige Indianer. Er hielt etwas in der Hand, das aussah wie eine weiße Rose. »Sie?«, sagte Az stirnrunzelnd. Ross zuckte die Achseln. »Ich bin meistens dort, wo der Geist mich hinführt.« Der Indianer schnaubte. »Und diesmal hat er Sie zum Handlanger dieser Blutsauger gemacht.« »Ich arbeite auf eigene Rechnung«, stellte Ross klar. »Die bezahlen mir keinen Penny.« Das schien den Alten ein wenig zu besänftigen. »Suchen Sie schon wieder nach Geistern?« »Ja.« »Was würden Sie denn tun, wenn Ihnen einer über den Weg liefe?« »Ein Geist? Keine Ahnung. Hab noch nie einen entdeckt.« »Meinen Sie, diese Baulöwen wissen, was sie im Fall eines Falles tun würden?« Ross dachte an van Vleet. »Ich denke, sie würden versuchen, ihn loszuwerden.« Az’ Mund wurde schmal. »Oh ja, treibt sie schön alle zusammen, und dann ab mit ihnen ins Reservat. Wenn man sie nur weit genug wegschafft, kann man sich einbilden, es hätte sie nie gegeben.« »Wohnen Sie hier in der Nähe?«, fragte Ross, um das Thema zu wechseln. Az deutete auf ein paar Zelte, die jenseits der Straße schwach zu erkennen waren. »Ich komme manchmal nachts hierher. Alte Menschen brauchen nicht viel Schlaf«, sagte er trocken. »Warum soll ich meine Zeit mit etwas vertun, was ich sowieso demnächst bis in alle Ewigkeit tun werde?« Az wandte sich ab und ging, aber am Rande der Lichtung drehte er sich um. »Wissen Sie, wenn Sie einen Geist finden, werden Sie ihn nicht loswerden. Ob das van Vleet nun passt oder nicht.« Az verschwand um eine Ecke des Hauses. Der Wind frischte auf. Ross zog sich seine Jacke über. Er war enttäuscht. Es lag sicher daran, redete er sich ein, dass der Alte gekommen war, wo Ross doch auf einen Geist gehofft hatte, und hatte nichts damit zu tun, dass Az gekommen war, wo Ross doch auf Lia gehofft hatte. Meredith fühlte sich in Dr. Calloways Büro äußerst unwohl. Ganz im Gegensatz zu Lucy, die außer Hörweite am anderen Ende des Raumes mit dem Bauch auf einem kolossalen Plüschfrosch lag und eine Barbie anzog. »Eine isolierte optische Halluzination ist selten«, sagte die Psychiaterin. »Psychotische Symptome treten häufiger in Gestalt von akustischen Halluzinationen oder als Erregungszustände auf.« Dr. Calloway sah kurz zu Lucy hinüber, die seelenruhig spielte. »Hat sich ihr Verhalten drastisch verändert?« »Nein.« »Neigt sie zu Aggressionen? Zu Jähzorn?« Meredith schüttelte den Kopf. »Wie sieht es mit ihrem Ess- oder Schlafverhalten aus?« Lucy aß sehr schlecht – Meredith witzelte manchmal, dass ihre Tochter per Fotosynthese lebte –, und was das Schlafen anging, nun ja, sie hatte schon seit einer Ewigkeit keine Nacht mehr durchgeschlafen. »Schlafen ist ein Problem«, gab sie zu. »Die Phantasie geht mit ihr durch. Meistens lässt sie das Licht an, und wenn sie einschläft, dann aus purer Erschöpfung.« »Möglicherweise leidet Lucy unter den gleichen Angstvorstellungen, die bei Achtjährigen ganz normal sind«, sagte Dr. Calloway. »Andererseits sieht sie vielleicht Meredith schluckte trocken. Ihr Kind konnte nicht psychotisch sein, ausgeschlossen. Und ganz weit hinten im Kopf blitzte ein Gedanke auf, heiß wie eine Flamme: »Was soll ich tun?«, fragte sie. »Vergessen Sie nicht, dass Achtjährige an den Weihnachtsmann glauben, imaginäre Freunde haben und in ihrer eigenen Phantasiewelt leben. In Lucys Alter fangen Kinder gerade erst an, Einbildung und Wirklichkeit zu unterscheiden – und es könnte durchaus sein, dass das, was sie zu sehen meint, Teil dieses Prozesses ist.« »Aber wenn es nicht aufhört?« »Dann würde ich empfehlen, Lucy auf eine niedrige Dosis Risperdal zu setzen. Aber warten wir erst mal ab.« »Okay.« Meredith sah zu, wie Lucy anfing, der Puppe Zöpfe zu flechten. »Okay.« Ross war gar nicht hungrig, daher wusste er auch nicht recht, wieso er in den einzigen Diner im Ort gegangen war – ein Lokal, das es schon so lange gab wie Comtosook selbst und das wie eine Erbkrankheit von einem übergewichtigen Besitzer an den nächsten weitergegeben wurde. Als Ross eintrat, waren jeder Tisch und jeder Platz an der Theke besetzt. Er beschloss zu warten, lehnte sich gegen eine verspiegelte Wand und holte seine Zigaretten heraus. »Tut mir leid«, sagte die Kellnerin. »Hier ist Rauchen verboten.« Es kam ihm lächerlich vor, dass ein Restaurant mit einer derart fettlastigen Speisekarte das Rauchen verbot, doch Ross steckte seine Zigaretten wieder ein. »Ich geh draußen eine rauchen«, sagte er zu der Frau. »Halten Sie mir einen Tisch frei?« Sie lächelte. »Nur wenn ich von Ihnen eine Zigarette kriege.« Jetzt, fünf Minuten später, lehnte er am Müllcontainer hinter dem Diner und ließ sich den Rauch durch die Kehle gleiten. Er kniff die Augen zusammen und betrachtete die glühende Zigarettenspitze. Er hätte eine Jacke anziehen sollen – hier hinten war es bestimmt zehn Grad kälter. Solche Temperaturschwankungen waren im Ort inzwischen an der Tagesordnung, und die Einheimischen hatten sich offenbar daran gewöhnt. Ross drückte die Schultern gegen die Metallwand des Containers, um etwas von der Wärme abzubekommen, die darin gespeichert war. Mit gebeugtem Kopf warf er die Kippe weg. »Die war aber noch gar nicht zu Ende geraucht.« Er sah auf. »Lia.« Selbst wenn sie nichts gesagt hätte, hätte Ross gewusst, dass sie in der Nähe war, denn ihr Blumenduft lag in der Luft. Sie trug wieder das geblümte Kleid, diesmal mit einer Strickjacke darüber. »Ich habe Sie gesucht«, sagte Lia. Ihre Worte passten nicht zu ihrer Körperhaltung. Sie sah aus, als wollte sie jeden Moment davonstürzen. Sie hatte etwas Hilfloses, Eingesperrtes an sich, das Ross vertraut vorkam. »Ich hab auch nach Ihnen gesucht.« Erst als er es aussprach, merkte er, dass es die Wahrheit war. »Haben Sie Ihren Geist schon gefunden?« »Nicht Lia sprach hastig. »Weil … weil ich neulich nicht dazu gekommen bin, Ihnen zu sagen, dass ich … ich suche nämlich auch nach Geistern.« »Ach ja?« Ross war völlig perplex. »Aber ich bin wohl Amateurin, im Vergleich zu Ihnen.« »Haben Sie schon mal was entdeckt?«, fragte Ross. Sie schüttelte den Kopf. »Hat das überhaupt schon mal jemand?« »Ja, sicher. Ich meine, mal abgesehen von Geisterfotografie und Medien ist sogar schon an den Universitäten von Princeton und Edinburgh auf dem Gebiet geforscht worden. Sogar die CIA hat Untersuchungen zu übersinnlicher Wahrnehmung und Telepathie in Auftrag gegeben.« »Die »Ja«, sagte Ross. »Offizielle Stellen sind sogar zu dem Schluss gekommen, dass Menschen an Informationen gelangen können, ohne ihre fünf Sinne zu benutzen.« »Das ist aber noch kein Beweis für das Leben nach dem Tod.« »Nein, aber es lässt vermuten, dass Bewusstsein mehr ist als nur etwas rein Physisches. Vielleicht ist es nur eine andere Form von Hellsichtigkeit, wenn man einen Geist sieht. Vielleicht sind Geister gar nicht richtig tot, sondern leben irgendwo in der Vergangenheit, und …« Ross’ Stimme erstarb. »Entschuldigen Sie. Ich weiß … die meisten Leute halten das, was ich mache, für Spinnerei.« »Das kriege ich auch oft zu hören.« Lia lächelte zaghaft. »Und bitte entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin noch nie einem Wissenschaftler begegnet, der nicht ins Schwärmen gerät, wenn es um seine Arbeit geht.« Ein Wieder brach für ihn eine Welt zusammen. »Er wird’s nicht erfahren«, sagte Ross und sah ihr in die Augen. Lia starrte ihn an. Dann zog sie eine Zigarette aus der Packung und ließ sich von Ross Feuer geben. Sie rauchte, als wollte sie ein Geheimnis verschlucken – einen Schatz, der behütet werden wollte. Sie schloss die Augen, hob das Kinn, und die geschwungene Linie ihres Halses wurde sichtbar. In diesem Moment spielte es keine Rolle, dass sie die Frau eines anderen war, dass die wenigen Minuten, die Ross mit ihr hatte, nur gestohlen waren. Es mochte der Beginn eines schweren Fehlers sein, aber Ross brachte es nicht fertig, sie gleich wieder gehen zu lassen. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.« »Es verrät Sie schon niemand.« »Die ganze Stadt kommt in den Diner. Wenn er erfährt, dass ich mit Ihnen da war …« »Na und? Dann sagen Sie ihm die Wahrheit. Wir sind zwei Freunde, die sich über Geister unterhalten haben.« »Nur eine Tasse«, flehte Ross. »Na schön«, gab sie schließlich nach. » »Neulich im Wald.« »Ich meine davor.« Ross schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er, aber er hatte das Gefühl, sie schon immer gekannt zu haben. Aber vielleicht wünschte er sich das ja nur. Er wollte sie fragen, warum sie vor ihrem Mann Angst hatte. Er wollte sie fragen, was sie ausgerechnet jetzt zu dem Diner geführt hatte, wo er da war. Aber er fürchtete, wenn er auch nur irgendetwas sagte, würde sie einfach verschwinden, wie die Rauchfäden, die zwischen ihnen schwebten. »Glauben Sie wirklich, dass es dort einen Geist gibt?«, fragte Lia. »Auf dem Pike-Grundstück? Vielleicht. Falls es tatsächlich ein alter Indianerfriedhof ist.« »Ein Indianerfriedhof?« Die Idee schien sie zu verblüffen. »Das glaube ich nicht.« »Kennen Sie sich in der Gegend aus?« »Ich bin hier aufgewachsen.« »Und Sie haben nie irgendwas gehört, dass da früher mal eine Indianersiedlung gewesen sein könnte?« »Da hat Ihnen jemand einen Bären aufgebunden.« Ross überlegte. Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen. »Aber dieser Indianer … das ist doch nicht Ihr erster Geist«, sagte Lia zögernd. »Doch, und auch nur, falls er sich mal zeigt.« »Nein, ich wollte sagen, das ist nicht der Geist, der Sie dazu gebracht hat, nach Geistern zu suchen.« Sie neigte den Kopf, und ihr Haar fiel nach vorne, verdeckte ihr Gesicht. »Meine Mutter ist am Tag meiner Geburt gestorben. Manchmal suche ich sie.« Plötzlich wurde ihm klar, dass der Grund für Lias Glaube an paranormale Phänomene nicht Aufgeschlossenheit war, sondern Verzweiflung – wie bei ihm. Dass er bei ihr denselben Schmerz erkannte wie bei sich selbst. Lia streckte den Arm aus, schob den Ärmel ihrer Strickjacke hoch und entblößte ein ganzes Netz von Narben. »Manchmal muss ich mich selbst schneiden«, gestand sie, »weil ich ganz sicher bin, dass ich nicht bluten werde.« Es war so lange her, dass irgendjemand ihn verstanden hatte. »Mein Geist«, sagte Ross mit belegter Stimme. »Ihr Name ist Aimee.« Und er erzählte, was er alles an Aimee geliebt hatte – ihr Lächeln zum Beispiel oder die rauhe Stelle an ihren Ellbogen. Er sprach von dem traumatischen Unfall und davon, was für ein Gefühl mit der Einsicht einherging, dass manche Fehler unauslöschlich sind. Er sprach, bis seine Kehle ganz heiser war und er seine ganze Trauer wie eine Gabe zu Lias Füßen ausgebreitet hatte. Als er fertig war, weinte sie. »Glauben Sie wirklich, dass man einen Menschen sehr lieben kann, sehr, Ross spürte, dass die Frage sich nicht nur auf seinen eigenen Schmerz bezog. »Wie kann ich denn Sie machte ein paar Schritte rückwärts. »Ich muss gehen.« Instinktiv griff Ross nach ihr – und ebenso rasch wich Lia zurück. »Lia, sagen Sie mir, was er Ihnen angetan hat.« »Er betet mich an«, flüsterte sie. »Er liebt eine Frau, die es eigentlich gar nicht gibt.« Damit hatte Ross nicht gerechnet. Konnte man einen anderen Menschen so sehr lieben, dass man ihn quälte, ohne es zu wollen? Lia berührte sacht seinen Ärmel, und die Tränen an ihren Fingerspitzen hinterließen einen kühlen Fleck. »Wenn Sie Aimee finden«, sagte sie leise, »sagen Sie ihr, wie glücklich sie sich schätzen kann.« Als Ross den Blick hob, entfernte sie sich bereits. In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen: Was konnte sie nur getan haben, dass sie meinte, der Zuneigung ihres Mannes nicht würdig zu sein? Und falls Lia Ross hatte sie nicht bekümmern wollen. Er hatte ihr nur begreiflich machen wollen, dass sie nicht allein war. »Lia«, rief er und eilte ihr nach, doch sie blickte nur kurz über die Schulter und beschleunigte dann ihre Schritte. »He.« Die Kellnerin öffnete die Eingangstür des Diners. »Jetzt ist ein Tisch frei!« Ross folgte ihr hinein. Sie führte ihn an einen Tisch, der noch nicht abgeräumt war. Er setzte sich und gab ihr eine Zigarette, wie versprochen. Sie lachte, schob sie sich in den Ärmel und wischte den Tisch ab. »Ganz allein unterwegs?« Er sah zum Fenster hinaus. »Ich fürchte, ja.« Als die Kellnerin verschwand, um ihm Besteck und eine Tasse Kaffee zu holen, bemerkte Ross den Penny, der auf dem Tisch lag. Er war 1932 geprägt worden. Zu Hause überlegte Ross, was er über Lia wusste: Sie hatte einen ungemein schüchternen Eindruck auf ihn gemacht. Das Übernatürliche faszinierte sie, aber sie fürchtete sich vor ihrem eigenen Schatten. Freiheit gab es für sie nur in der Nacht. Sie war mit einem Mann verheiratet, der sie regelrecht gefangen hielt. Und, ja, sie war innerlich gebrochen. Sie verbarg es gut, doch Ross wusste aus eigener Erfahrung, dass man, auch wenn die Einzelteile wieder zusammengefügt wurden, nach einem solchen Sturz nie wieder derselbe Mensch war. Er ließ das Band, das er einige Nächte zuvor aufgenommen hatte, vorlaufen, spielte sein Gespräch mit Az Thompson erneut ab. Das Problem war, dass er sich stärker für Lia Beaumont interessierte als für die Frage, ob auf dem Grundstück ein Geist umging oder nicht. Auf dem Band war absolut nichts Verwertbares. Was sollte er Rod van Vleet sagen? Das Telefon klingelte, riss ihn aus seiner Grübelei. Er griff hastig nach dem Hörer, damit Shelby und Ethan nicht wach wurden. »Hallo?« Es meldete sich niemand, aber Ross hörte ein sanftes Rauschen. Er klemmte sich den Hörer zwischen Schulter und Ohr. »Lia?«, murmelte er. Sie war es. Darauf hätte er alles verwettet. Sie konnte sich nicht mit ihm treffen, aber sie wusste, wo sie ihn finden konnte. Und das teilte sie ihm auf diese Weise mit. Ross legte nicht wieder auf. Er schlief mit dem Hörer am Ohr ein, sein erster richtiger Schlaf seit Tagen. Vor Tausenden von Jahren siedelten die Abenaki nicht nur vom Nordwesten Vermonts bis in den Südwesten, sondern auch im Westen von Massachusetts, in Teilen New Hampshires und sogar in Quebec. Sie nannten das Gebiet Sie lebten vom Ackerbau, und ihre Dörfer lagen meist in den Feuchtgebieten der Flüsse. Durch Jagd und Fischerei ergänzten sie ihren Speiseplan. Während der längsten Zeit des Jahres lebten sie zerstreut in großen Familienverbänden, doch im Sommer kamen sie alle zusammen. Sie hatten kein allgemeines Oberhaupt. Wenn sie Krieg führten, verließen die Abenaki ihre Dörfer, teilten sich in kleinere Gruppen und tauchten irgendwo weiter weg wieder auf, um zum Gegenangriff überzugehen. Häufig zogen sie sich dann auch nach Quebec zurück, weshalb viele Kolonialisten in Neuengland sie für kanadische Indianer hielten und ihnen unter diesem Vorwand einen Großteil ihres Landes in Maine, New Hampshire und Vermont wegnahmen, ohne sie je dafür zu entschädigen. Im Jahre 2001 lebten noch schätzungsweise 2500 Abenaki in Vermont. Aber ob davon einige jemals auf dem Pike-Grundstück gelebt hatten, war Ross noch immer ein Rätsel, obwohl er das Internet durchforstet und fast jedes historische Nachschlagewerk in der Stadtbücherei von Comtosook in der Hand gehabt hatte. Frustriert ließ er den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Shelby trat hinter ihn und massierte ihm die Schultern. »Glück gehabt?« »Und damit verdienst du dein Geld?«, ächzte Ross. »Ich schließe daraus, dass du nichts gefunden hast.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben ihn und vergewisserte sich mit einem kurzen Blick auf Ethan, dass er noch immer mit seinem Gameboy beschäftigt war. »Vermont ist nicht gerade berühmt für dokumentarische Genauigkeit«, sagte sie. »Die meisten alten Dokumente verschimmeln irgendwo im Keller des Stadtarchivs. Und in denen ist meist auch nur die Geschichte der Engländer verzeichnet, die sich hier niedergelassen haben. Ich glaube kaum, dass die Ureinwohner vor tausend Jahren schon wussten, wie wichtig Besitzurkunden sind.« Ross betrachtete den Monitor. »Ich will mal sehen, was ich über diese Briten rausfinden kann. Vielleicht werden in ihren Aufzeichnungen ja irgendwelche Indianersiedlungen erwähnt.« »Mach, was du willst. Ich bringe Ethan jetzt nach Hause.« »Eine Frage noch, Shel«, rief Ross, als seine Schwester schon an der Tür war. »Kommt dir der Name Beaumont bekannt vor?« »Ist das einer von den englischen Siedlern?« »Nein.« Ross rief das Adressverzeichnis von Comtosook im Computer auf. Shelbys Kollegin sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an. »An der Universität von Vermont gibt es eine Fachbibliothek für Biologie, die nach einem Beaumont benannt ist. Wir leihen uns manchmal dort Bücher aus.« »Tut mir leid, Ross«, sagte Shelby kopfschüttelnd. »Sagt mir gar nichts.« Sie schob Ethan zur Tür hinaus, während Ross den Namen in den Computer tippte. BEAUMONT, ABEL. 33 Castleton Rd. BEAUMONT, C. Postfach 358. BEAUMONT, W. 569 West Oren St. Er hatte auch nicht damit gerechnet, Lias Namen auf der Liste zu finden. Es würde nicht leicht sein, die Beaumonts mit der Postfachanschrift zu finden, doch die beiden anderen Adressen waren kein Problem. Er packte seine Sachen ein. »Erfolg gehabt?«, fragte die Bibliothekarin lächelnd. Ross pfiff vor sich hin. »Könnte man so sagen.« Meredith saß über ihr Mikroskop gebeugt und untersuchte eine einzige Zelle von einem Embryo, der kürzlich in einem Reagenzglas entstanden war. Wie es aussah, war der hier nicht dazu verdammt, Mukoviszidose zu erben – ein kleines Wunder, da die vorausgegangenen vier Versuche des Paares, ein gesundes Kind zu bekommen, gescheitert waren. Sie streckte den Rücken und lächelte: Der hier würde es schaffen. Und Meredith musste es wissen. Bei Lucy war es nämlich so ähnlich gewesen. Nicht weil genetisch irgendwelche Hindernisse bestanden hätten, sondern weil die Umstände dagegen sprachen. Acht Jahre zuvor hatte Meredith eine Beziehung zu einem Professor beendet, der zu beschäftigt gewesen war, um sie zur Beerdigung ihrer Mutter nach Maryland zu begleiten. Ihre Mutter war noch keine sechzig gewesen, als sie aus heiterem Himmel an einem Herzinfarkt starb. Meredith war am Boden zerstört, doch für ihre Großmutter war es noch schlimmer, und so musste Meredith, damals sechsundzwanzig, sich um alles kümmern. Sie konnte sich noch lebhaft an den surrealen Besuch bei dem Bestattungsunternehmen erinnern, wo sie nicht nur den Sarg, sondern auch die Farbe des Stoffes für die Sargauskleidung aussuchen musste. Sie erinnerte sich an die Beerdigung, als Granny Ruby sich mit ihrem zarten Gewicht gegen sie gelehnt hatte und Meredith gezwungen war, aufrecht und gerade zu stehen. Sie beschloss, nach Boston zu fahren, ihre Dissertation abzuschließen, und dann nach Silver Spring zurückzukehren und zu Granny Ruby ins Haus zu ziehen. Doch vier schlaflose Nächte forderten ihren Tribut: Nach einigen Stunden Fahrt verlor sie die Kontrolle über ihren Civic. Als Meredith im Krankenhaus erwachte, das linke Bein in Gips, Prellungen am ganzen Körper, stand an ihrem Bett eine Krankenschwester, die ihr versicherte, dass es ihrem Baby gut gehe. Sie wollte keine alleinerziehende Mutter sein. Sie wollte gar keine Mutter sein, basta. Sie wollte nur ihre eigene Mutter wiederhaben. Also vereinbarte sie einen Termin für eine Abtreibung. Den hielt sie nicht ein. Heute liebte sie ihre Tochter und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Aber wenn sie ehrlich mit sich war, hätte vor acht Jahren alles anders laufen können. Weder die Castleton Road noch die West Oren Street lagen in der Nähe des Pike-Hauses, trotzdem fuhr Ross zu den beiden Adressen. Aber Lia Beaumont wohnte weder in dem verschlafenen viktorianischen Häuschen noch in dem Blockhaus, das von einem Schäferhund namens Armageddon bewacht wurde. Möglicherweise war die Postfachanschrift die richtige. Er würde sie fragen, wenn er sie das nächste Mal sah. Ross hatte nur noch in dem Diner gegessen, und die letzten beiden Nächte hatte er auf dem Pike-Grundstück Wache gehalten, aber Lia Beaumont war nicht gekommen. Ross wollte sie fragen, ob sie glaubte, dass ihre Mutter gefunden werden wollte, auch wenn es Jahre dauerte. Er wollte sie fragen, ob sie ihren Mann genauso liebte, wie er Aimee geliebt hatte. Er wollte herausfinden, ob es tatsächlich eine unüberwindbare Mauer zwischen ihnen gab. Außerdem machte Ross sich Sorgen, ob der Ehemann vielleicht von ihrem Treffen am Diner erfahren und sie dafür bestraft hatte. Schließlich begann Ross sogar, die Todesanzeigen zu lesen, und war erleichtert, wenn er ihren Namen nirgends entdeckte. Während mancher Nächte auf dem Pike-Grundstück war mehr los als sonst. Es gab jähe Temperaturschwankungen, und manchmal blitzten zwischen den Ästen kleine blaue Lichter auf. Ab und zu war der Kiefernduft so stark, dass man kaum noch Luft bekam. Zweimal hatte Ross leise ein Baby weinen gehört. Als er in der dritten Nacht am Rande der Lichtung saß, die Nacht stockfinster, fiel ein Stein vom Himmel. Er war etwa so groß wie ein Teller und auch beinahe so flach und traf Ross mit großer Wucht am Schienbein. »Verdammt!«, schrie Ross und sprang auf. Er spürte, wie sein Bein unterhalb des Knies anschwoll. Als er mit der Taschenlampe in den nächsten Baum leuchtete, konnte er nichts entdecken. »He!«, schrie er wütend auf. »Wer ist da?« Nichts. Er riss einen Ast ab und schlug damit auf den Baum ein, weil er so aufgebracht war. Erst als er innehielt, hörte er das Graben. Es war schwach, aber deutlich zu hören. Ross humpelte über die Lichtung. Seine Taschenlampe beleuchtete etwa dreißig kleine Erdhügel, die ohne jede erkennbare Ordnung verteilt waren. Das Grundstück war an einigen Stellen von diversen archäologischen Expertenteams untersucht worden, doch dieser Teil war unberührt gewesen, als Ross in der Abenddämmerung auf die Lichtung gekommen war. Und als Ross sich bückte und versuchte, einen Stock in das Erdreich zu bohren, war der Boden genauso hart gefroren wie bereits seit Tagen. Ross hatte noch nie einen Indianerfriedhof gesehen, aber er stellte sich vor, dass er ungefähr so aussah. Er zog seine Digitalkamera aus der Tasche und machte mehrere Fotos. Dann spähte er in das winzige LCD-Display, um sich die Aufnahmen anzusehen. Doch auf allen war der Boden vollkommen glatt, von einer unberührten Eisschicht bedeckt. Verwundert richtete Ross die Lichtkegel seiner Lampe auf die Stelle. Es waren keine Hügel da. Er bückte sich und rollte sein Hosenbein hoch – die Schwellung war da, dick und blau unterlaufen. Der Stein war tatsächlich gefallen. Das Geräusch war ein Grabegeräusch gewesen. Die Erdhügel waren da gewesen. Ein Grund mehr, sich Lia herbeizuwünschen: Wenn sie die Hügel heute Nacht auch gesehen hätte, müsste Ross nicht an seinem Verstand zweifeln. Ethan hasste es, zum Hautarzt zu gehen. Es erinnerte ihn daran, was für ein Monster er war. Heute waren ihm drei präkanzeröse Wucherungen aus dem Gesicht entfernt worden. Er fühlte sich klein und schwach. Wieder zu Hause, in seinem Zimmer, stellte er sich vor den Spiegel. Die Blasen hatten sich noch nicht gebildet – das würde erst morgen passieren. Aber schon jetzt war sein Gesicht ein Globus mit wandernden, fleckigen Kontinenten an den Stellen, wo die Wucherungen entfernt worden waren. Unwillkürlich hob er die Faust und rammte sie in den Spiegel. Blut lief ihm am Arm herunter, aber er hatte erreicht, was er wollte: Er musste sich jetzt nicht mehr selbst sehen. »Ethan?« Die Stimme seiner Mutter. » »Es tut mir leid«, Ethan wippte vor und zurück. »Es tut mir leid.« »Was hast du nur angestellt?« Ethan riss seine Hand weg. »Wieso benutzt du dauernd so blöde Wörter, die kein Mensch versteht? Wieso sagt mir nie einer die Wahrheit?« Seine Mutter starrte ihn an. »Was willst du hören, Ethan?« Er schluchzte, und ihm lief die Nase. »Dass ich ein Monster bin.« Er hob die gespreizten Finger ans Gesicht, beschmierte Kinn und Wangen mit Blut. »Sieh mich doch an, Ma. Sieh mich doch nur an.« Seine Mutter brachte ein Lächeln zustande. »Ethan, Schatz, du bist müde. Du müsstest längst im Bett sein.« Ihre Stimme nahm den üblichen beruhigenden Tonfall an. Sie senkte sich auf Ethans Schultern, und er musste dagegen ankämpfen, einfach nachzugeben. Er spürte, wie seine Mutter seine Hand untersuchte und ihn dann ins Bad führte, um ihn zu verarzten. »Ich glaube, das muss nicht genäht werden«, sagte sie, als sie seine Hand verband. Dann brachte sie ihn zurück in sein Zimmer. Ethan stieg ins Bett und starrte den leeren Spiegelrahmen an der Wand an. »Schlaf jetzt, danach geht’s dir wieder besser«, sagte seine Mutter, und Ethan wusste nicht, ob sie mit ihm oder sich selbst sprach. »Wenn du aufstehst, machen wir was Schönes zusammen – vielleicht holen wir das Teleskop raus und suchen die Venus … oder wir sehen uns alle Eli schreckte aus dem Schlaf und setzte sich auf, rang nach Luft. Das ganze Zimmer duftete so intensiv nach Äpfeln, als hätte er direkt neben einer Apfelpresse geschlafen. Er rieb sich die Augen, konnte aber das Bild nicht loswerden, das ihm vorschwebte: schon wieder diese Frau. Sie kauerte auf dem Boden und versuchte weinend, ein scheinbar unmögliches Puzzle zusammenzufügen. Er kannte ihre Stimme, obwohl er sie nie hatte sprechen hören. Er wusste, dass sie unter dem linken Ohrläppchen eine Narbe hatte, dass ihr Mund nach Vanille und Traurigkeit schmeckte. Seine Mutter hatte an die Macht der Träume geglaubt. »Wenn wir wach sind«, so hatte sie immer gesagt, »sehen wir, was wir sehen müssen. Wenn wir schlafen, sehen wir, was wirklich ist.« Er hatte sich oft gefragt, ob seine Mutter je geträumt hatte, dass sie einen Weißen heiraten würde, dass sie irgendwann an Diabetes sterben würde. Und er fragte sich, ob sie gewusst hatte, dass ihr einziger Sohn sich lieber einen Arm abhacken würde, als den Indianerglauben anzunehmen, dass Träume mehr waren als wüst drauflos feuernde Neuronen. Diese Frau, die ihm in der Dunkelheit erschien – ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie das Stück Seeglas, das Eli einmal am Strand von Rhode Island gefunden hatte. Er zog sich die Decke bis zum Kinn und sank zurück aufs Kopfkissen. Als der gellende Schrei erklang, stürzte Meredith in Lucys Zimmer. Ihre Großmutter war bereits da, strich Lucy das feuchte Haar aus der Stirn und raunte ihr zu, dass alles in Ordnung sei. »Sie hört nicht auf«, sagte Granny Ruby alarmiert. »Es ist, als könnte sie mich nicht mal hören.« Meredith legte beide Hände um das Gesicht ihrer Tochter und beugte sich dicht zu ihr. »Lucy. Hör zu. Es geht dir gut. Hier kann dir nichts passieren. Hast du verstanden?« Lucys Blick wurde klarer, und schließlich verstummte sie. Dann begriff sie, wo sie war, und wich ans Kopfende des Bettes zurück, wo sie sich ganz klein machte. »Könnt ihr sie nicht sehen?«, flüsterte sie. »Sie ist genau da.« Sie zeigte auf eine Stelle zwischen Meredith und Ruby, eine Stelle, an der überhaupt nichts war. Dann tauchte sie unter die Decke. »Ich soll ihr beim Suchen helfen.« »Suchen? Wonach?«, fragte Meredith. Aber Lucy antwortete nicht. Meredith spürte einen Schmerz in der Brust. »Granny«, sagte sie mit tonloser Stimme, »bleibst du bei ihr?« Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie zurück in ihr Schlafzimmer. Sie griff zum Telefon und holte die Visitenkarte hervor, die sie in ihre Nachttischschublade gelegt hatte. Sie zögerte kurz, dann rief sie Dr. Calloway an. Sie kapitulierte. Als Ross am Abend um elf Uhr auf dem Pike-Grundstück eintraf, wartete Lia schon. »Bin ich zu spät?«, fragte er beiläufig, als hätte er damit gerechnet, sie anzutreffen. Während er seine Geräte aufstellte, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Sie schien irgendwie verändert – Ross bemerkte eine zarte Entschlossenheit an ihr, die er nicht gefährden wollte, indem er sie auf die Umstände ihres letzten Abschieds ansprach. Also zeigte er ihr stattdessen die Stelle, an der er zwei Nächte zuvor die Erdhügel gesehen hatte. Er ließ sie sein neues EMF-Messgerät zur Erfassung elektromagnetischer Felder bestaunen, das frisch mit der Post eingetroffen war. Wenn sie mit ihm auf Geisterjagd gehen wollte, dann würde er sie lassen. Es war immerhin ein Anfang. Sie fuhr sacht mit der Hand über die Videokamera auf dem Stativ. »Mein Vater hat auch eine Kamera«, sagte sie, »aber die ist größer. Wuchtiger.« »Das hier ist eine Digitalkamera.« Ross spähte über die Lichtung. Schon jetzt empfing er starke Schwingungen von dort. »Wir sollten uns hinsetzen und abwarten, vielleicht haben wir Glück.« »Ich darf … bleiben?« »Ich dachte, deshalb wären Sie gekommen.« Lia antwortete nicht, aber sie ließ sich neben ihm auf dem gefrorenen Boden nieder. Ihre Angst war wie ein Keil zwischen ihnen. Ross fragte sich, wovor sie sich fürchtete – vor einem Geist oder vor ihrem Mann. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Sie nickte und blickte zu dem EMF-Messgerät hinüber, dessen Nadel reglos war. »Und dieser Kompass geht los, wenn ein Geist erscheint?«, erkundigte sie sich. »Er geht los, wenn ein Geist sich materialisiert. Der Übergang von einem Zustand zum anderen wirkt sich nämlich auf ein elektromagnetisches Feld aus. Dann hören wir ein Knistern.« Sie schwiegen, aber es gab viele Fragen, die keiner von beiden als Erster ansprechen wollte. Irgendwann wurde Ross der Abstand zwischen seiner und ihrer Schulter bewusst. Wenn er sich nur leicht bewegen würde, könnte er sie berühren. Verdammt. Er holte tief Luft. Es war fast zehn Jahre her, dass Ross etwas Derartiges empfunden hatte – eine körperliche Nähe, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, ein leises Gebet um etwas, das die Lücke zwischen ihnen schloss. Er hatte so lange nach dem Geist einer Frau gesucht, dass es ihn aus der Bahn warf, jetzt von einer realen Frau direkt neben ihm so fasziniert zu sein. Aber Lia war verheiratet, und eigentlich wollte er ja nur Aimee zurück. Und wenn das eigenartige Sehnen, das er in Lias Nähe empfand, gar nicht sein Bedürfnis war, sie zu retten, sondern die Möglichkeit, dass sie vielleicht ihn retten könnte? Und wenn er in Comtosook gar keinen Geist finden sollte, sondern … diese eine Frau? Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf und brachte ihn derart durcheinander, dass es ihn unvermittelt in die entgegengesetzte Richtung drängte, hinaus aus dem gelben Lichtkegel und weg von Lia. »Ist was passiert?«, fragte sie atemlos. »Spüren Sie was?« »Nein«, antwortete Ross. Sie stand auf, trat in die Dunkelheit. »Ich aber«, murmelte sie. »Als würde alles … schärfer. Fester.« Als sie an Ross vorbeikam, spürte er einen Lufthauch. Der helle Rand ihres Rocks strich über seine Hand, und unwillkürlich griff er danach, doch er glitt zwischen seinen Fingern hindurch wie Wind. Das Herz war ihm zu groß in der Brust, und es schlug nicht mehr regelmäßig. Ross, der seine Liebe nicht hatte sterben lassen, als seine Geliebte starb, merkte plötzlich, dass ihn so etwas Kleines wie der Leberfleck am Knie einer Frau erregte. Er sagte sich, dass er mit Aimee eine gemeinsame Welt gehabt hatte, dass sie ihn besser gekannt hatte als je ein Mensch in seinem Leben. Aber die Wahrheit war, dass Aimee ihn heute nicht wiedererkennen würde. Die Trauer hatte ihn verändert, den Tonfall seiner Stimme, seine Bewegungen. Aimee hatte verstanden, was Ross glücklich gemacht hatte. Lia schien zu verstehen, was ihn zerstört hatte. Plötzlich erklang klar und deutlich der Schrei eines Babys. »Haben Sie das gehört?«, flüsterte Lia und griff nach Ross’ Hand. Er hatte es gehört. Aber er merkte, dass Lia nicht mehr auf das Geräusch lauschte. Sie nahm die Taschenlampe und leuchtete damit auf die Narben an Ross’ Handgelenk. »Oh«, sagte Lia, und die Lampe fiel scheppernd zu Boden, tauchte sie beide in Finsternis. Er konnte Lia zwar nicht sehen, aber er wusste, dass sie ihre eigenen alten Wunden betastete. »Warum haben Sie mir nichts gesagt?« »Sie haben mich nicht gefragt.« Ross zündete sich eine Zigarette an, holte damit ihr Gesicht aus dem Dunkel. »Wann?« »Ist eine Weile her. Damals glaubte ich nicht, dass es für mich in dieser Welt noch irgendetwas gab, wofür es sich zu leben gelohnt hätte.« Er hielt ihrem Blick stand. »Ich glaube es noch immer nicht.« »Ich bin heute Nacht nicht hergekommen, um einen Geist zu suchen«, gestand Lia. »Ich bin gekommen, weil ich dann nicht zu Hause sitze und darüber nachdenke, ob ich ein Messer oder Tabletten oder Gift nehmen soll.« Er zitterte, als sie die Lippen an sein Ohr legte. »Ross«, raunte sie, »sag mir, wie es auf der anderen Seite ist.« Ross hatte sich schon einmal so gefühlt, als ob jede Zelle seines Körpers bersten könnte. Hinterher, als er erwachte, sagten ihm drei Ärzte, dass er von einem Blitz getroffen worden war. Er hob eine Hand an Lias Kinn. Wenige Meter entfernt begann das EMF-Gerät zu knistern. Das statische Rauschen begann leise und wurde rasch so laut, dass es sogar das Tosen in Ross’ Kopf übertönte. Noch nie war er Zeuge einer derart heftigen Reaktion gewesen – irgendetwas Starkes kündigte sich an. Und es war absolut erklärlich: Der Geist nutzte die Energie, die zwischen Ross und Lia entstanden war, um sich zu materialisieren. Ross lief zu dem EMF-Gerät und versuchte, die Anzeige abzulesen. »Die Taschenlampe«, rief er Lia zu, gerade als er mit dem Schuh gegen die Lampe stieß. Das Rauschen ließ nach. Einen überzeugenderen Beweis für einen Geist hatte er nie zuvor erlebt, doch in diesem Augenblick wäre es Ross egal gewesen, wenn der Geist direkt auf ihn zugekommen wäre. Er musste Lia finden, musste den Ausdruck in ihrem Gesicht sehen. Ross schaltete die Taschenlampe an und ließ den Lichtstrahl im Kreis wandern, aber Lia war verschwunden. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand im Verlauf einer paranormalen Untersuchung davonlief. Doch Lias Angst hatte nichts mit dem Nahen der Geister zu tun. Es war die gleiche Angst, die Ross empfunden hatte und die ihn noch immer zittern ließ: die Einsicht, dass er zum zweiten Mal in seinem Leben jemanden brauchte, den er nicht haben konnte. Die Einwohner von Comtosook stellten sich nach und nach auf eine Welt ein, die aus den Fugen geraten war. Alle hatten stets einen Schirm dabei, um sich gegen den Regen zu schützen, der rot wie Blut vom Himmel fiel und zu einer feinen roten Staubschicht trocknete. Porzellan zerbrach Punkt zwölf Uhr mittags, ganz gleich, wie sorgfältig es eingepackt worden war. Mütter weckten ihre Kinder, damit sie sich die Rosen ansehen konnten, die um Mitternacht erblühten. Hosennähte platzten ganz von selbst auf, und Wasser begann nicht zu kochen, und wenn es noch so lange erhitzt wurde. Manche machten die globale Erwärmung für die Ereignisse verantwortlich, andere hielten es schlicht für persönliches Pech. Aber als Abe Huppinworth feststellte, dass in seinem Laden jeder einzelne Artikel in den Regalen auf den Kopf gestellt worden war, überlegte er laut, ob nicht vielleicht dieser indianische Geist vom Otter Creek Pass was damit zu tun haben könnte. Und die drei Kunden, die das mitbekommen hatten, erzählten es ihren Nachbarn, und noch ehe es Abend wurde, spekulierte ganz Comtosook, ob es nicht doch besser wäre, dem Stück Land seinen Frieden zu lassen. Rod van Vleet war nicht gerade begeistert von dem, was Ross Wakeman ihm zu berichten hatte. Falls es tatsächlich einen Geist gab – so lächerlich das auch klang –, was sollte Rod dann machen? Das Haus war abgerissen, die Trümmer wurden bereits abtransportiert. Die Redhook-Gruppe würde bauen, egal wie viele Unterschriftensammlungen und Petitionen auf seinem Schreibtisch landeten. Und dennoch wollte Rod wissen, ob er dabei war, einem Geist die Heimstatt zu nehmen. Ob die Tatsache, dass alles, was er in letzter Zeit aß, nach Sägemehl schmeckte und dass seine Zahnbürste jeden Abend verschwunden war, irgendetwas mit seinem aktuellen Bauprojekt zu tun hatte. »Diese Dinger da …« Rod zeigte auf den Fernsehschirm, wo ein grobkörniges Bild von einem nächtlichen Wald mit blauen Linien und schwebenden Lichtkugeln durchsetzt war. »Sollen die ein Geist sein?« Er entspannte sich innerlich. Was auch immer er erwartet haben mochte, das jedenfalls nicht. Ein paar Funken und Blasen konnten schließlich keinem etwas anhaben. Schon gar nicht das Geschäft gefährden. Ross Wakeman war ein Scharlatan, so einfach war das. Er hatte die Gelegenheit gesehen, sich ein bisschen Aufmerksamkeit zu verschaffen, und sich Rod dafür zunutze gemacht. »Das ist nicht der eigentliche Geist«, erklärte Wakeman. »Das ist die Wirkung, die der Geist auf die Geräte hat. Auf dem Grundstück sind Taschenlampen ausgegangen, außerdem hab ich diese aufgezeichneten Störungen hier und sehr starke Ausschläge bei Geräten, die Magnetfelder messen.« »Mumpitz«, sagte Rod. »Nichts Konkretes.« »Nur weil etwas nicht gemessen werden kann, heißt das noch lange nicht, dass es nicht existiert.« Plötzlich flog die Tür zum Baucontainer auf. Drei Baggerführer stürmten herein, deren Bagger so reglos dastanden wie schlafende Dinosaurier. Einer von den dreien sagte wütend zu van Vleet: »Wir kündigen.« »Sie können nicht kündigen. Die Arbeit ist noch lange nicht erledigt.« »Scheiß drauf.« Er nahm seinen Schutzhelm ab und warf ihn van Vleet wie einen Fehdehandschuh vor die Füße. »Die machen uns wahnsinnig.« »Wer, die?« »Die Fliegen«, schaltete sich ein anderer Arbeiter ein. »Die Biester fliegen einem direkt ins Ohr und surren wie wild drin herum.« Seine Hände machten hektische, kreisende Bewegungen. »Und wenn man sie verscheuchen will«, fügte der Erste hinzu, »ist nichts da.« Der dritte Arbeiter bekreuzigte sich. Ross hüstelte, und van Vleet warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten«, beruhigte er sie. »Ist bestimmt der Wind. Oder Sie haben was mit den Ohren.« »Dann ist es höllisch ansteckend; die Abenaki da draußen haben es nämlich auch gehört. Und der Alte hat das Wort buchstabiert, das wir alle gehört haben. C-H-I-J-I-S. Das heißt »Ist doch klar, dass der euch so was erzählt!«, rief van Vleet. »Der will, dass ihr geht. Der will euch Angst einjagen, damit ihr genau das macht, was ihr jetzt vorhabt –nämlich die Arbeit hinschmeißen.« Die Männer wechselten Blicke. »Wir haben keine Angst. Aber solange Sie den Geist hier nicht losgeworden sind, müssen Sie sich andere Leute suchen.« Sie nickten zum Abschied und marschierten nach draußen. »Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Ross. Van Vleet griff zum Telefon. »Ich muss neue Arbeiter finden«, sagte er. »Für so was hab ich keine Zeit.« Das Blut lief ihr ins Gesicht. Meredith war kaum aus dem Gebäude getreten, als die Flüssigkeit ihr ins Haar klatschte und über Wangen und Hals tropfte. »Wie viele Babys habt ihr heute wieder umgebracht?«, schrie eine der Demonstrantinnen. Sie wischte sich die Augen frei. Kein richtiges Blut, bloß roter Saft. Das Institut war nicht so häufig Ziel von Demonstrationen wie die Abtreibungskliniken in der Gegend, aber die Kritik war dieselbe – schließlich gehörte es zu Meredith’ Aufgaben zu entscheiden, welche Embryos leben und welche verbrannt werden sollten, und das konnten die Abtreibungsgegner nicht akzeptieren. »Wir sprechen uns wieder, wenn du unfruchtbar bist«, knurrte Meredith leise und ging dann rasch zu ihrem Auto. Meredith erinnerte sich noch gut, dass die Klinik damals nach Metall und Mundwasser roch. Dass das Wartezimmer voller Frauen war, viele blutjung. Dass sie die ersten beiden Bänder hinten an ihrem OP-Hemd zugebunden hatte, bevor sie beschloss, dass sie die Sache nicht durchziehen konnte. Was, wenn ihre Schwangerschaft doch nicht so ein kolossaler Fehler war, wie sie glaubte? Was, wenn der Zeitpunkt nicht falsch, sondern goldrichtig war – ein Weckruf, eine Botschaft? Dann würde ihr Baby eben keinen Vater haben, na und? Meredith’ Vater war gegangen, als sie vier Jahre alt war. Danach hatte sie ihn nur noch ein paarmal gesehen. Und doch war sie der lebende Beweis dafür, dass man mit der richtigen Mutter sehr gut ohne Vater auskommen konnte. Wenn sie Luxe schon nicht wieder zum Leben erwecken konnte, so hatte sie jetzt wenigstens die Möglichkeit, ihr zu zeigen, was sie von ihr gelernt hatte. Sie würde ihre Tochter behüten und beschützen, sie würde sie mit Liebe großziehen. Als sie sich wieder angezogen hatte und aus der Klinik kam, schüttete einer der Demonstranten einen Eimer falsches Blut über ihr aus. Meredith packte den Mann am Kragen und schrie ihn an, dass sie es nicht hatte machen lassen. Dann brach sie in den Armen des Fremden in Tränen aus. Sie gaben ihr Kekse zu essen und Kakao aus einer Thermosflasche. Sie boten ihr einen Platz auf einer Decke an. Der Mann, der sie begossen hatte, gab ihr sein trockenes Hemd. An diesem Nachmittag war Meredith ihre Heldin. Jetzt, fast zehn Jahre später, betrachtete Meredith die Demonstranten im Rückspiegel. Sie wünschte, sie hätte den Mut, zurückzugehen und sie zu fragen, ob einer von ihnen schon mal eine Entscheidung hatte treffen müssen, die sein ganzes Leben veränderte. Sie wünschte, sie könnte sie mit in ihr Labor nehmen, wo so viele gesunde Embryos warteten. Sie wünschte, sie könnte ihnen erklären, dass es auch Leben gab, das gar kein Leben vor sich hatte. Dann steuerte Meredith ihren Wagen vom Parkplatz und machte sich auf den Weg nach Hause, wo sie ihre Tochter auf der Couch vorfinden würde, wie betäubt und lethargisch von den Psychopharmaka. Ross saß in der Notaufnahme und blickte in die Gesichter der Verletzten und Kranken, die durch die automatische Tür kamen. Jedes Mal, wenn es nicht Lia war, entspannte er sich ein bisschen. Er war nun schon zwei Tage hier, hatte herausgefunden, dass keine Lia Beaumont eingeliefert worden war. Seine größte Befürchtung war, dass sie sich etwas antun könnte – oder dass ihr Mann ihr etwas antun könnte –, bevor Ross Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen. Er wollte ihr sagen, dass er sich nicht mehr genau an Aimees Augen erinnern konnte. Acht Jahre lang hatte Ross sie deutlich vor sich gesehen, die leichte Mandelform, das zimtfarbene Zentrum, die Wimpern, die auf ihre Wangen einen Schatten warfen, wenn sie schlief. Doch seit der Nacht, in der Lia die Lippen an sein Ohr gelegt hatte, konnte er sich Aimees Gesicht nicht mehr vorstellen, ohne dass es sich in Lias verwandelte. Er zog sich dreimal am Tag um, und doch roch er immer noch Rosen. Er wollte sie küssen. Er wollte sie. Es konnte nicht gut gehen, das wusste Ross. Er würde Lias Ehe nicht zerstören, er würde Lia nicht in die Situation bringen, sich entscheiden zu müssen. Aber er musste wissen, dass es ihr gut ging. Er musste glauben können, dass sie sich in diesem Augenblick nicht irgendwo in Comtosook eine Rasierklinge ans Handgelenk hielt. Plötzlich kam eine Frau hereingefegt, die ein Kind wie ein Spielzeug hinter sich herzog. »Ich suche nach einem Patienten«, sagte sie an der Anmeldung. »Ross Wakeman.« Als Ross Shelbys Stimme hörte, fuhr er herum. Er rief ihren Namen. »Ross!« Sie kam auf ihn zugestürmt, das Gesicht voller Angst. Ethan trug seine Tageslichtkleidung – von Kopf bis Fuß verhüllt. Die Teile des Gesichts, die Ross sehen konnte, waren fleckig und entzündet. Shelbys Blick huschte von Ross’ Gesicht zu seinen Armen. Den Handgelenken. »Was ist los mit dir? Wie lange bist du schon hier? Herrje, Ross, warum hast du nicht angerufen?« »Shel, mir geht’s gut. Aber ich suche nach jemandem. Ich dachte, es könnte ihr etwas passiert sein.« »Dir geht’s also wirklich gut? Ganz bestimmt?« »Ja.« »Ein Glück«, entgegnete Shelby und gab ihm eine schallende Ohrfeige. Der Anblick, wie Ross’ Kopf nach hinten schnellte, und der Abdruck ihrer Hand auf seiner Haut waren das Befriedigendste, was Shelby in den letzten achtundvierzig Stunden erlebt hatte, denn ungefähr so lange war ihr Bruder wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Sie hatte die Polizei angerufen und war mit einem Detective Rochert verbunden worden, der ihr erklärte, eine Vermisstenanzeige könne erst zwei volle Tage nach dem Verschwinden einer Person aufgenommen werden. Schließlich war sie mit Ethan am helllichten Tag aus dem Haus gegangen, war langsam durch die Stadt gefahren, hatte überall nachgefragt. »Mensch, Shel«, sagte Ross und hielt sich die brennende Wange. »Ich freu mich auch, dich zu sehen.« »Du Scheißkerl.« Shelby kniff die Augen zusammen. »Weißt du eigentlich, wo ich überall nach dir gesucht habe, weil du es nicht für nötig gehalten hast, mir einen Zettel hinzulegen, wann du die Güte haben würdest, wieder aufzutauchen?« »Wir waren auch unter dem Highway«, warf Ethan ein. »Da lag eine tote Möwe.« Shelbys Gesicht war rot angelaufen. »Ja, stimmt. Unter dem Highway. Du weißt schon, nur für den Fall, dass du vielleicht auf die Idee gekommen wärst, von der Brücke zu springen.« Shelby hatte Tränen in den Augen. »Wahrscheinlich ist es albern von mir zu denken, dass die Menschen, die mir etwas bedeuten, mich zumindest davon in Kenntnis setzen, dass sie nicht irgendwo tot im Straßengraben liegen.« Sie wischte sich über die Augen. »Freut mich, dass du dich nicht umbringst, Ross, aber wenn du so weitermachst, bringt mich das bestimmt noch um.« »Weißt du was?«, sagte Ethan und zupfte Ross am Ärmel. »Die Möwe hatte ein ausgehacktes Auge.« »Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen, ja? Ich hab dich schließlich nicht darum gebeten«, sagte Ross. »So was kann man sich nicht aussuchen.« »Dann mach dir um jemanden Sorgen, bei dem es angebracht ist.« »Willst du damit sagen, bei dir wäre es nicht angebracht?« »Nicht so wie bei dir«, konterte Ross. »Menschenskind, Shel, du lebst wie eine Nachteule. Du hast dich außer von Ethan von allen Menschen abgeschottet. Nie kommt eine Freundin auf eine Tasse Kaffee vorbei, Männerbekanntschaften hattest du schon seit einer Ewigkeit nicht mehr … Herrgott, der Papst erlebt mehr als du. Du bist zweiundvierzig und lebst wie eine Siebzigjährige.« Sie würde nicht die Fassung verlieren, nicht mitten in der Notaufnahme, nicht vor Ross und vor allem nicht vor Ethan. »Bist du fertig?« Ross nahm die Hand seiner Schwester und wartete, bis sie schließlich zu ihm aufsah. »Shelby. Ich werde mich nicht umbringen. Versprochen.« »Das hast du schon mal versprochen, Ross«, flüsterte sie. »Und damals hast du gelogen.« Nach Aimees Tod hatte Shelby genau gespürt, dass ihr Bruder nicht wieder ins Leben zurückfand. Sie hatte verzweifelt versucht, ihm zu helfen, hatte schließlich einen Termin bei einem Psychiater für ihn vereinbart. Nach der Therapiesitzung hatte Ross ihr erzählt, wie gut es gelaufen sei, und hatte sich sogar bei ihr bedankt. Als Shelby ihren Bruder dann wenige Tage später halb verblutet fand, hatte er noch eine Entschuldigung gehaucht, bevor er das Bewusstsein verlor. Wie sich herausstellte, war er zu dem Termin beim Psychiater gar nicht erschienen. »Verrat mir mal«, sagte sie, »wieso ich dir jetzt glauben soll.« Ross wandte den Blick ab, starrte auf ein Plakat, das zu Organspenden aufrief. Dann begann er, ihr eine Geschichte zu erzählen, von einer Frau, die verschwunden war. Ein Wort ließ Shelby aufhorchen. »Verheiratet?«, wiederholte sie. »Sie hat Angst vor ihm.« »Ross …« Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er. Shelby wusste, dass er log, sie war nur nicht sicher, ob Ross sich selbst darüber im Klaren war. »Ich mache mir Sorgen um sie. Sie weiß nicht, wohin. Sie will da raus, aber sie weiß nicht, wie. Ich … ich habe Angst, sie tut sich was an.« Ihre Stimme wurde sanft. »Ross, du kannst sie nicht alle retten.« Er wich zurück, als hätte Shelby ihn erneut geohrfeigt. »Nur ein Mal«, sagte er leise. »Ein einziges Mal wäre doch schön.« Dann wandte er sich ab und stürmte aus dem Krankenhaus. Lucy schlief viel. Manchmal träumte sie, dass sie schlief, und sie sah sich selbst im Bett liegen. Manchmal träumte sie, dass sie verfolgt wurde, aber ihre Beine konnten sich nicht schnell genug bewegen. Einmal träumte sie, ein Riese hätte sie gefressen, und sie hätte sich einfach in einem seiner hohlen Backenzähne zusammengerollt und nur noch geschlafen. Sie schrie noch immer im Schlaf, aber ihre Kehle war zu müde, um den Schrei auszustoßen. Ab und zu erklangen Stimmen, schneidend wie ein Messer. Ihre Mutter, die sie anflehte, aufzustehen und ein bisschen zu essen. Granny Ruby, die beteuerte, dass Lucy schon viel besser aussah mit ihren roten Wangen. Sie hörte sie wie von ferne. Sie war in einen Brunnen gefallen und trieb jetzt auf dem Rücken, starrte zur Sonne hinauf. Gesichter waren wie in ihre Augenlider eingebrannt: ihre Mutter, Granny Ruby und die Frau, die immer kam. Die in dem Baum gehangen hatte, die am Fußende ihres Bettes stand oder, wie jetzt, bei ihr auf der Couch saß, so nah, dass Lucys Füße eiskalt wurden. Lucy wusste, dass die Frau jetzt eigentlich verschwunden sein müsste. Aber seit sie die Medizin nahm, war die Frau klarer denn je – das bläuliche Gesicht, die Traurigkeit in ihren Augen. Sie machte Lucy nicht mehr so viel Angst. Nein, es war, als wüsste sie Bescheid. Als ob sie das Gefühl kennen würde, vor Menschen zu stehen, die man liebte, und nicht von ihnen wahrgenommen zu werden. Rod van Vleet hatte die Polizei verständigt, weil das abgerissene Haus wieder aufgebaut wurde. Über Nacht war der Rohbau des gesamten Erdgeschosses wieder errichtet worden. Van Vleet hatte die Abenaki in Verdacht, und er wollte, dass die Polizei von Comtosook sie auf frischer Tat ertappte. Eli sah zu Watson hinüber, der das Seitenfenster seines Wagens mit Hundesabber bedeckte. Sie waren bereits bei den Zelten der Abenaki gewesen. Bis auf Az Thompson hatten alle tief und fest geschlafen. Als er jedoch kurz darauf auf dem Pike-Grundstück hielt, sah er sofort, warum van Vleet beunruhigt war: Innerhalb des provisorischen Sicherheitszauns schien sich das Haus selbst wieder zusammenzusetzen. Hinter ihm winselte Watson und wich zurück. »Du Angsthase«, murmelte Eli und stieg über den Zaun. Die Konstruktion war abenteuerlich – Stützpfosten und Dachbalken waren wieder zusammengesetzt, aber es sah nicht ganz richtig aus. Trotzdem konnten sie das Gewicht tragen. Die unteren Mauern waren verputzt und zum Teil schon mit Holz verkleidet. Ein ganzer Bautrupp hätte Wochen dafür gebraucht. Dass es über Nacht geschehen sein sollte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Vorsichtig stieg Eli über Schutt und Glasscherben, Watson folgte ihm zögerlich. Es gab noch keine Vordertreppe, also musste er zu der offenen Tür hochklettern. Er leuchtete ins Innere. Drinnen fehlten manche Zwischenwände, und die Türrahmen waren schief, aber die Konstruktion war solide. Er roch frische Farbe. »Das können die Indianer unmöglich geschafft haben«, sagte Eli leise zu Watson. Langsam ging er durch die Räume, unsicher, ob der brüchige Boden ihn tragen würde. Als er an dem Treppengeländer rüttelte, fiel es um. Die Stufen verrutschten unter seinen Schuhen. Eli bückte sich und sah, dass sie nicht festgenagelt worden waren. Im ersten Stock war das Haus noch unfertiger. Eine komplette Wand fehlte, das Dach war der Sternenhimmel. Nur zwei Zimmer wirkten fertig – ein großes Schlafzimmer am Ende des Ganges und das Bad direkt daneben. Das Geräusch von fließendem Wasser ließ ihn aufhorchen. Sein Traum von letzter Nacht fiel ihm ein: wieder diese Frau. Diesmal machte sie eine Tür auf. Sie trug einen weißen Bademantel und hatte ein blaues Handtuch ums Haar geschlungen. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, schien all seine Fragen zu beantworten. Watson legte sich flach auf den Bauch und winselte. Dann fuhr er herum und raste über die wackeligen Bretter die Treppe hinunter. »Du Held«, murmelte Eli und betrat vorsichtig das Badezimmer. Das Wasserrauschen wurde noch lauter, obwohl er im Schein seiner Taschenlampe weder Armaturen noch Leitungen sehen konnte. Als das Licht grell reflektiert wurde, blinzelte Eli zunächst und trat dann näher an den Spiegel heran, der an der Wand hing. Es war ein Wunder, dass etwas so Zerbrechliches die Abrissbirne überstanden hatte. Die Oberfläche war feucht, doch als er sie mit der Fingerspitze berührte, tat sich gar nichts. Als wäre der Spiegel von innen her beschlagen. Eli hielt die Taschenlampe etwas höher, um nachzusehen, wie der Spiegel an der Wand befestigt war, doch plötzlich erkannte er zwei Hände, die innen gegen die Scheibe drückten. Blitzschnell zog Eli seine Pistole – aber worauf zielte er? Die Wand? Den Spiegel? Wie sollte er einen Feind bekämpfen, den er nicht sehen konnte? Sein Herzschlag dröhnte ihm in den Ohren. Die Hände waren noch immer gegen die Rückseite des Spiegels gepresst. Dann malte ein Finger rückwärts, von rechts nach links, Buchstaben auf die beschlagene Scheibe. »Scheiße«, hauchte Eli, und dann wurde der Spiegel plötzlich vor seinen Augen klar gewischt und zeigte ihm sein panisches Gesicht. Er wich rückwärts aus dem Badezimmer und stieg, so schnell er konnte, die wackelige Treppe hinunter. Dicht gefolgt von seinem Hund, rannte Eli aus der offenen Tür hinaus. Als er den Sicherheitszaun gerade überwunden hatte, leuchtete das Haus plötzlich hell auf wie ein Weihnachtsbaum. Eli drehte sich um und starrte mit offenem Mund auf die verblüffende Schönheit eines Leuchtturms mitten im Wald. Und das in einem Gebäude, in dem es schon seit zwanzig Jahren keinen Strom mehr gegeben hatte. Es roch nach Tod. Ross konnte ihn auf den Fluren des Pflegeheims riechen, eingehüllt in den Geruch von Ammoniak und Bettwäsche und Tabletten. Er war heute hergekommen, um Nachforschungen anzustellen, weil er hoffte, so die Gedanken an Lia verdrängen zu können. Seit einer Woche hatte er nichts von ihr gehört. Stattdessen hatte er zahllose Anrufe von Rod van Vleet erhalten. Ob Ross wusste, dass das Pike-Haus sich von selbst wieder aufbaute? Dass noch dazu ein Polizist behauptet hatte, in dem Haus seien alle Lichter angegangen – wo doch die Stromleitungen längst gekappt waren? Ross hatte seinen Besuch nicht angemeldet, weil er nicht wusste, ob Spencer Pike bereit wäre, ihn zu empfangen. Und jetzt, da er dem alten Mann gegenübersaß, empfand Ross Mitleid mit ihm. Das bisschen Leben, das noch in Pike steckte, schien sich auf seine leuchtend blauen Augen zu beschränken. »Die mit Zimt und Rosinen kannst du vergessen«, sagte Spencer Pike. »Wie bitte?« »So was dürfte gar nicht Bagel heißen. Wenn Sie mich fragen, aber mich fragt ja keiner, darf ein Bagel nicht süß sein, zum Donnerwetter noch mal. Wer schmiert sich schon Marmelade auf sein Schinkenbrot?« Er beugte sich vor. »Sie arbeiten doch für van Vleet. Sagen Sie ihm, dass ich das gesagt habe.« »Genau genommen arbeite ich nicht für die Redhook-Gruppe«, stellte Ross klar. Pike zuckte die Achseln. »Was wollen Sie dann hier?« »Soweit ich weiß, gehörte der gesamte Besitz ursprünglich Ihrer Frau und fiel mit ihrem Tod an Sie, weil Sie keine Kinder hatten.« »Das stimmt nicht.« Ross schaute von seinem Notizblock auf. »So steht es im Testament Ihrer verstorbenen Frau.« »Ist aber trotzdem falsch. Cissy und ich hatten ein Baby, aber es kam tot zur Welt.« »Das tut mir leid.« Pike strich die Decke über seinen Beinen glatt. »Das ist lange, lange her.« »Mr. Pike, ich würde gern wissen, ob Sie irgendetwas über die Geschichte des Grundstücks wissen, bevor es in Ihren Besitz überging.« »Es gehörte der Familie meiner Frau. Es war seit etlichen Generationen von der Mutter an die Tochter gegangen.« »Hat das Land je den Abenaki gehört?« Pike wandte langsam den Kopf. »Wem?« »Den amerikanischen Ureinwohnern, die gegen das Bauprojekt auf dem Land protestieren.« »Ich weiß, wer die sind!« Pikes Gesicht lief rot an, und er musste husten. Eine Pflegerin eilte herbei, blickte Ross tadelnd an und sprach beruhigend auf den alten Mann ein, bis er wieder halbwegs regelmäßig atmete. »Die können nicht beweisen, dass es ein Indianerfriedhof war, was?« »Gewisse … Umstände«, sagte Ross behutsam, »legen den Schluss nahe, dass es auf dem Gelände spukt.« »Oh ja, das kann sein. Schließlich ist meine Frau dort gestorben«, sagte Pike heiser. Das tot geborene Kind, der frühe Tod von Cissy Pike, die Möglichkeit eines ruhelosen Geistes – allmählich fügte sich alles zusammen. »Im Wochenbett?« Pike schüttelte den Kopf. »Sie wurde ermordet. Von einem Abenaki.« Während ihrer Mittagspause ging Shelby, einem plötzlichen Impuls folgend, zur Stadtverwaltung hinüber. Lottie, die füllige Sekretärin, saß mit einem Diätplan hinter ihrem Schreibtisch. »Weißt du was?«, fragte sie und griff nach einer Selleriestange. »Gemüse ist Teufelswerk.« Sie biss ein Stück ab. »Schön blöd von mir, eine Diät anzufangen, wo ich sowieso schon schlecht gelaunt bin. Ich wünschte, der ganze Spuk hier hätte endlich ein Ende. Myrt Clooney hat mir erzählt, der Papagei von Wally LaFleur würde neuerdings Edith-Piaf-Lieder singen, einfach so. Und die Kaffeemaschine bei uns im Büro kocht nur noch Limonade.« Zehn Minuten später saß Shelby unter dem Vorwand, für einen Gönner der Bibliothek eine Information zu suchen, im Kellergeschoss der Verwaltung, umgeben von Kisten mit den Akten des Standesamtes. Sie waren nach Jahren gebündelt, aber nicht sortiert – dicke Packen von vergilbten Karteikarten, auf denen die Geburten und Todesfälle in Comtosook von 1877 bis in die Gegenwart verzeichnet waren. Ross hatte sie nicht um Hilfe gebeten. Vielleicht war sie gerade deshalb hier – seit ihrer Auseinandersetzung im Krankenhaus ging er ihr geflissentlich aus dem Weg, aber mit einer Höflichkeit, die sie doppelt schmerzte: ein Zettel auf dem Küchentisch mit der Nachricht, dass er zwischen vier und fünf Uhr morgens zurück sei; eine frische Packung Milch im Kühlschrank, wenn er die letzte ausgetrunken hatte. So vieles stand unausgesprochen im Raum. Wie gerne würde Shelby einfach zu ihrem kleinen Bruder sagen: Sie wollte, dass sie wieder aufeinander zugingen. Aber da sie nicht die richtigen Worte fand, um sich bei ihm für ihr Misstrauen zu entschuldigen, wollte sie ihm diese Informationen geben, in der Hoffnung, dass das als Entschuldigung genügte. Die Kiste mit den Todesfällen ab 1930 hatte in den späten Fünfzigerjahren eine Überschwemmung überstanden, und vor lauter Wasserflecken konnte Shelby auf vielen Karten nicht mal die Namen der Verstorbenen entziffern. Nach einer Weile fand sie den Packen mit den Totenscheinen des Jahres 1932. Das Gummiband, mit dem sie zusammengehalten wurden, war brüchig und zerfiel in ihren Fingern. Die Karten rutschten auf ihren Schoß. Shelby sah sie rasch durch. BERTELMAN, ADA. MONROE, RAWLENE. QUINCY, OLIVE. Zwei Karten klebten aneinander. Und auf beiden stand der Name PIKE. Die erste war der Totenschein für ein namenloses tot geborenes Kind. Shelby fröstelte trotz der Hitze im Keller. Nicht nur, weil diese Frau, diese Mrs. Spencer Pike, die mit gerade mal achtzehn Jahren gestorben war, ihr Baby nie im Arm hatte halten können. Sondern auch weil das Baby keinen einzigen Atemzug getan hatte. Nein, auch weil der Klebstoff, der die beiden Karten so viele Jahre zusammengehalten hatte, ganz offensichtlich Blut war. Ruby Weber gab es nicht gerne zu, aber sie wurde langsam alt. Sie erzählte allen, sie sei siebenundsiebzig, doch in Wirklichkeit war sie dreiundachtzig. Ihre Hüften bewegten sich wie rostige Angeln, ihre Augen wurden trübe. Das Schlimmste war, dass sie manchmal mitten im Satz einschlief. Eines Tages würde sie einfach einnicken und vergessen, wieder aufzuwachen. Aber nicht, bevor es Lucy nicht wieder besser ging. Ruby wusste, dass die Medikamente ihrer Urenkelin halfen, doch das hatte seinen Preis – denn jetzt hatten Lucys Albträume sich bei Ruby eingenistet. Ganz gleich, wo oder wann Ruby jetzt einschlief, immer durchlebte sie erneut den Telefonanruf, der ihr Leben zerstört hatte. Es war an einem regnerischen Montag gewesen, vor acht Jahren. Als sie ans Telefon ging, dachte sie, es wäre jemand von der Apotheke, der Bescheid sagen wollte, dass ihr Arthritismedikament jetzt da war. Oder vielleicht ihre Tochter Luxe, die vom Markt aus anrief, um ihr zu sagen, dass sie ein bisschen später kommen würde. Aber die Stimme am anderen Ende gehörte einem Geist. Sie saß noch immer mit dem Hörer in der Hand da, zitternd, als Luxe vom Einkaufen kam. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich in der Schlange gestanden habe«, sagte Luxe. »Als ob die Leute Angst vor einer Hungersnot hätten.« Dann sah sie Rubys Gesicht. »Ma? Was ist denn los?« Ruby hatte die Hand ausgestreckt und Luxe’ Haut berührt, glatt und warm. Wie machte man einem Menschen begreiflich, dass er nicht der war, der er zu sein glaubte? Jetzt spürte Ruby Hände auf ihren Schultern, die sie sachte rüttelten. »Granny. Ruby konnte nicht antworten, in Gedanken war sie noch ganz bei Luxe, die zu Boden gesunken war, die Hände auf die Brust gepresst, als Ruby ihr erzählt hatte, wer der Anrufer gewesen war, wer Luxe wirklich war, was Ruby nicht war. Noch immer sah sie Luxe’ Gesicht vor sich, wächsern und still, durch den Eingang der Notaufnahme hindurch, als der Arzt herauskam und ihr mitteilte, dass sie an einem Herzstillstand gestorben war. An dem Tag, als ihre Mutter starb, war Meredith in Boston gewesen. Sie traf völlig aufgelöst im Krankenhaus ein und verlangte ein Wunder: mit solch verzweifelter Inbrunst, dass Ruby sich schon fast vorgestellt hatte, wie Luxe auf der Bahre das Leichentuch zurückwirft und sich aufsetzt. Solche Wunder hatte es schon gegeben. Ruby hatte es mit eigenen Augen gesehen. Sie hatte Meredith nie erzählt, was sie Luxe gestanden hatte, kurz bevor das Herz ihrer Tochter aussetzte. Jetzt jedoch … wo Lucy so litt … vielleicht würde Meredith verstehen, dass die Liebe zu einem Kind eine Frau in den Wahnsinn treiben konnte. »Merry«, sagte Ruby unvermittelt, wollte ihr alles erzählen. »Weißt du noch, als deine Mutter gestorben ist?« »Ach, Granny«, seufzte Meredith. »Hast du davon geträumt?« Ihre kühle Hand auf Rubys Wange: Mehr brauchte Ruby nicht, um einzusehen, dass sie nicht denselben Fehler zweimal machen konnte. Sie beschloss, ein für alle Mal einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen. Das hier war jetzt ihr Leben. Spencer Pike hatte nie wieder angerufen. Und von ihr aus konnte er geradewegs zur Hölle fahren. Der Hund machte ihn nervös. Das Tier lag etwa einen Meter von Ross’ Fuß entfernt, eine große Pfütze Fell, völlig entspannt, wenn da nicht die dunklen Augen gewesen wären, die Ross starr fixierten, seit er das Büro des Detective betreten hatte. »Mr. Wakeman«, sagte Detective Rochert. »Versetzen Sie sich doch mal für einen Moment in meine Lage. Da kommt jemand, der sich paranormaler Ermittler nennt, in mein Büro spaziert und bittet mich, einen siebzig Jahre alten unaufgeklärten Mordfall wieder aufzunehmen. Von wem soll ich mir denn Zeugenaussagen holen – von Geistern? Und selbst wenn ich einen Täter ermitteln kann, ist der wahrscheinlich tot oder deutlich über neunzig. Kein Staatsanwalt in Vermont würde sich mit so einem Fall befassen.« Ross schielte zu dem Hund hinüber, der aufgestanden war und die Zähne bleckte. Der Detective schnippte mit dem Finger, und der Hund sackte wie ein Stein zurück auf den Boden. »Ich denke, angesichts der gegenwärtigen Streitigkeiten um das Grundstück ist der Fall aktueller, als Sie glauben. Es ist nun mal ein großer Unterschied, ob eine Frau bei der Geburt ihres Kindes stirbt oder ermordet wird. Vielleicht ist Spencer Pike ja senil. Vielleicht waren die Totenscheine von 1932 fehlerhaft. Aber vielleicht verbirgt sich gerade hier der Grund, warum die Abenaki meinen, sie hätten einen Anspruch auf das Land.« Eli beugte sich vor, und seine dunklen Augen waren plötzlich eiskalt. »Sie sind nicht zufällig zu mir gekommen, weil Sie wissen, dass ich ein Halb-Abenaki bin, nicht wahr? Sie meinen, ich würde den Fall neu aufrollen, weil ich es denen schuldig bin.« Ross schüttelte verblüfft den Kopf. »Ich bin zu Ihnen gekommen, weil Sie der diensthabende Detective sind«, sagte er. Rochert schluckte. »Mr. Wakeman, Sie begnügen sich mit Ahnungen und Mutmaßungen, ich brauche knallharte Beweise.« »Im Grunde unterscheidet sich meine Arbeit gar nicht so sehr von Ihrer. Geht die Spurensuche nicht immer davon aus, dass Menschen stets etwas von sich zurücklassen?«, antwortete Ross. »Unsere Erkennungsdienstler können nach Fingerabdrücken suchen. Aber nicht nach …« Er verstummte, und Ross sah, wie Rochert nachdenklich die Stirn in Falten legte. Nach einem Moment sprach er weiter. »Selbst wenn dieser Mord nach siebzig Jahren noch aufgeklärt wird, würde das nichts ändern. Pikes Frau ist und bleibt tot. Ihm gehört das Land. Und er hat nach wie vor das Recht, es zu verkaufen.« »Kommt drauf an«, sagte Ross. »Worauf?« »Wer den Mord damals begangen hat.« Eli wunderte sich nicht, dass das Polizeirevier von Comtosook noch immer im Besitz der Akte über einen so lange zurückliegenden, ungelösten Mordfall war. Der Grund dafür war nicht darin zu sehen, dass ungeklärte Fälle mit großer Gewissenhaftigkeit behandelt wurden, sondern in der völlig inkompetenten Archivierung. Es war einfach nie jemand auf die Idee gekommen, jemals das Archiv auszumisten. Er wischte sich Spinnweben von der Wange und zog den ausgebeulten Karton aus dem Regal. Chief Follensbee würde nichts dagegen haben, wenn Eli sich in seiner Freizeit mit der Sache beschäftigte. Als er zu seinem Schreibtisch zurückging, redete er sich ein, dass sein erwachtes Interesse nichts mit den merkwürdigen Dingen zu tun hatte, die er neulich Nacht im alten Pike-Haus erlebt hatte. Auch nicht damit, dass er sich insgeheim fragte, ob die Frau in seinen Träumen vielleicht aus einem bestimmten Grund immer wieder auftauchte. Der Fall interessierte ihn einfach, weil er bislang nicht aufgeklärt worden war und weil die modernen kriminaltechnischen Möglichkeiten Antworten auf Fragen liefern könnten, die 1932 unbeantwortet bleiben mussten. Als Eli wieder ins Büro kam, sah Watson gelangweilt zu, wie Eli den Inhalt des Kartons auf den Schreibtisch kippte. Ein Aktenordner, ein Stapel Fotos vom Tatort, eine Papiertüte, eine Zigarrenkiste und eine Schlinge. Eli zog sich Gummihandschuhe über und nahm das Seil unter die Lupe. Ein ganz normaler Strick, wie er vermutlich sogar noch heute hergestellt wurde. Der Kollege, der damals in dem Fall ermittelt hatte, war so klug gewesen, den Knoten nicht zu lösen; nach all den Jahren war er immer noch intakt. Er nahm die Fotos vom Tatort in die Hand. Auf einem war eine junge Frau zu sehen, die mit der Schlinge um den Hals ausgestreckt auf dem Boden lag. Brust und Hals waren blutig zerkratzt, nicht von dem Seil, sondern von ihren langen Fingernägeln – sie hatte versucht, sich zu befreien. Auf einem anderen war das Vordach einer Hütte zu sehen. Eli sah genauer hin: Das Vordach lag auf dicken Balken auf. Eine Lache auf dem Boden, vermutlich ausgetretene Körperflüssigkeiten, verriet ihm, dass der Körper an einem der Balken gehangen hatte. Eine weitere Aufnahme zeigte die übel zugerichteten nackten Beine des Opfers. In der braunen Papiertüte waren ein fleckiges Nachthemd und ein Paar Damenschuhe. Ein kleiner Lederbeutel mit einem gerissenen Lederband und eine Pfeife aus Pappelholz mit schlangenförmigem Pfeifenkopf befanden sich in der Zigarrenkiste. Eli nahm die Pfeife und drehte sie in der Hand. Sein Großvater hatte mal so eine geschnitzt. Er hob sie an die Nase, roch den aromatischen Tabak, der ihn an seine Kindheit erinnerte. Er legte die Pfeife weg und schlug den Polizeibericht auf. FALLNUMMER: 32-01 ERMITTELNDER OFFICER: Detective F. Olivette NAME DES OPFERS: Cecelia Pike (Mrs. Spencer Pike) GEBURTSDATUM: 09.11.1913 ALTER: 18 WOHNHAFT: Otter Creek Pass, Comtosook, Vermont TATZEIT: 0.00 – 9.00 Uhr, 19. September 1932 TATORT: Otter Creek Pass, Comtosook, VT HERGANG: Um 09 Uhr 28 am Morgen des 19. September 1932 rief Professor Spencer Pike (geb. 13.05.06) im Polizeirevier von Comtosook an und meldete den Mord an seiner Ehefrau Cecelia »Cissy« Pike. Professor Pike gab an, dass der Tod seiner Frau auf ihrem Anwesen irgendwann zwischen Mitternacht und 9 Uhr eingetreten sei. Detective Duley Wiggs und ich begaben uns zum Haus der Familie Pike, um die Ermittlungen aufzunehmen. Professor Pike war sichtlich erschüttert. Er führte uns zum Eishaus, wo wir den Leichnam seiner Frau vorfanden. Das Opfer lag auf dem Rücken vor dem Eishaus. Es war kein Puls feststellbar. Der Körper fühlte sich kalt an. Daraufhin verständigte ich den Coroner. Das Opfer trug ein geblümtes Kleid und Schuhe und hatte eine Schlinge um den Hals. An Brust und Hals des Opfers waren tiefe, blutige Kratzer zu erkennen, die Unterschenkel wiesen zahlreiche Blutergüsse auf. Das kleine Vordach des Eishauses wird durch dicke Balken gestützt. Eine erste Untersuchung lässt vermuten, dass das Opfer an einem dieser Balken aufgehängt wurde. Es wurden Fotografien von Opfer und Tatort gemacht. Neben der Leiche lag ein Lederbeutel mit zerrissenem Riemen. In dem Beutel befand sich eine Art Kräutermasse. Unter den Stufen zum Eishaus entdeckten wir eine geschnitzte Pfeife aus Pappelholz. Am Tatort wurden keinerlei Hilfsmittel gesichert, mit denen das Opfer selbst den Balken hätte erreichen können. Professor Pike gab an, dass er seine Frau 1931 geheiratet hatte. Er bestätigte, dass er als Dozent im Fachbereich Anthropologie an der University of Vermont tätig ist. Er sagte, dass Mrs. Pike im neunten Monat schwanger war und dass am Abend des 18. September die Wehen eingesetzt hatten. Nach Aussagen von Professor Pike brachte seine Frau mithilfe ihres Hausmädchens um 23 Uhr ein totes weibliches Kind zur Welt. Er stellte fest, dass Mrs. Pike nach der Geburt deprimiert und körperlich erschöpft war. Nach Aussage von Professor Pike fiel seine Frau gegen Mitternacht in Schlaf. Das ist angeblich das letzte Mal, dass Mrs. Pike lebend gesehen wurde. Professor Pike gab an, dass er, als seine Frau schlief, in sein Arbeitszimmer gegangen sei, um etwas zu trinken. Er schätzte, dass er sechs Scotch auf Eis konsumiert hatte. Er sagte aus, dass er in seinem Schreibtischsessel eingeschlafen und erst gegen 9 Uhr aufgewacht sei. Er habe sofort nach seiner Frau sehen wollen, ihr Schlafzimmer aber leer vorgefunden, mit eingeschlagener Fensterscheibe. Professor Pike gab an, dass er im ganzen Haus nach ihr gesucht habe, ehe er sie aufgehängt am Vordach des Eishauses fand. Er habe sie dann mit einem Messer vom Stützbalken geschnitten. Die sichergestellte Pfeife und der Lederbeutel wurden Professor Pike gezeigt. Er identifizierte sie als Eigentum eines männlichen Abenaki namens Gray Wolf. Er sagte aus, dass er Gray Wolf am Mittag des 18. September unter Anwendung körperlicher Gewalt von seinem Grund und Boden verwiesen habe. Professor Pike gab an, dass er Zeuge gewesen sei, wie Gray Wolf seine Frau belästigt habe. Nach Aussage von Professor Pike handelt es sich um einen kürzlich entlassenen Häftling, der wegen eines Tötungsdeliktes im Gefängnis von Burlington einsaß und derzeit ohne festen Wohnsitz ist. Professor Pike gab an, dass er Gray Wolf zur Rede gestellt und ihn aufgefordert habe, das Grundstück augenblicklich zu verlassen. Angeblich musste Gray Wolf mit Gewalt gezwungen werden, der Aufforderung nachzukommen. Professor Pike konnte keine Angaben zum Verbleib des Hausmädchens machen, das nicht da war, als er um 9 Uhr erwachte. Ihre persönliche Habe befand sich jedoch noch im Haus. Ihr Zimmer zeigte keine Spuren eines Kampfes. Professor Pike gab an, dass das vierzehnjährige Hausmädchen körperlich nicht in der Lage gewesen wäre, seiner Frau etwas anzutun. Er vermutete, dass das Hausmädchen aufgrund seiner schwachen Konstitution möglicherweise davongelaufen sei, nachdem es den Leichnam seiner Frau entdeckt hatte. Der Coroner, Dr. J. E. DuBois, traf um 10 Uhr ein und untersuchte die Leiche des Opfers. Seine vorläufigen Erkenntnisse deuten auf Tod durch Ersticken hin. Eli blätterte weiter. Beschreibungen des Hauses, der Gegenstände in Cissy Pikes Schlafzimmer. Anzeichen für einen Einbruch und Kampfspuren. Der Bericht des Coroners. Ein Satz Fingerabdrücke, die dem Opfer abgenommen worden waren. Eine Vernehmung von Pike, eine weitere von Gray Wolf, der freiwillig aufs Revier gekommen war. Aussagen der Männer, die Gray Wolf für die Nacht ein Alibi lieferten. Ein Haftbefehl gegen Gray Wolf, einen Tag später ausgestellt, der nie ausgeführt werden konnte, weil Gray Wolf wie vom Erdboden verschluckt war. Eli betrachtete das Seil, das Nachthemd, die Pfeife. Zumindest konnte er diese Gegenstände zur DNA-Analyse ins Labor schicken, um feststellen zu lassen, ob Gray Wolf irgendwelche Spuren hinterlassen hatte. Geistesabwesend streichelte Eli Watsons Kopf. Es war möglich, dass Gray Wolf aus der Stadt geflohen war, weil er wusste, dass er erneut verurteilt werden würde. Aber es war ebenso gut möglich, dass Gray Wolf nie gefunden wurde, weil er die ganze Zeit auf dem Grundstück am Otter Creek Pass war, zwei Meter unter der Erde – dank Spencer Pike. Was bedeuten würde, dass das Land tatsächlich ein Indianerfriedhof war. Ross sah, wie der Blitz zwischen den Sternen hindurchzuckte. Dann riss der Himmel erneut auf, Donner grollte. Der erste Tropfen fiel auf Ross’ Stirn. Bei paranormalen Ermittlungen gab es gewisse Grundregeln im Hinblick auf Temperatur und Wetterbedingungen. Man wollte schließlich keine Geisterfotos aufnehmen, bei denen sich später herausstellte, dass sie nur den Frosthauch des eigenen Atems zeigten. Aus demselben Grund waren Regen und Schneefall tunlichst zu meiden. Ross hatte diese Regeln schon einmal sträflich missachtet, weil Gewitter so viel Energie lieferten, dass Geister sich leichter materialisieren konnten als sonst. Die Warburtons waren einmal nach einem Gewitter vom Staat Connecticut um Hilfe gebeten worden, weil ein Verwaltungsbeamter mit dem Dienstwagen eine Frau angefahren hatte, die über den Highway gelaufen war. Obwohl sechs Zeugen den Unfall gesehen hatten und der Kotflügel des Wagens stark zerbeult war, fehlte von der Frau jede Spur. Curtis hatte die Theorie aufgestellt, dass die gewaltige Energie in der Luft diesen Geist ungewöhnlich verfestigte Substanz hatte annehmen lassen. Ross hatte seine Ausrüstung am Abend auf der Lichtung aufgebaut, doch der Regen machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Er zog hastig seine Jacke aus und wickelte sie als Schutz um die Videokamera. Nachdem er alles eingepackt hatte, warf er sich die Tasche über die Schulter, steckte die Taschenlampe ein und stapfte gebeugt durch den Wald. Der gefrorene, regennasse Boden war glitschig. Plötzlich stieß er gegen jemanden, der genauso zielstrebig in den Wald ging wie er hinaus, und fluchte leise. Doch dann sah er, dass es Lia war, die vor ihm stand. Das Telefon klingelte, und Eli griff nach dem Hörer. »He«, sagte eine weibliche Stimme. »Wieso bist du denn am Samstagabend zu Hause?« Er lächelte. »Und wieso arbeitest du noch, Frankie?« Frankie Martine war Genforscherin und eine alte Freundin von ihm. Sie wohnte inzwischen in Maine, wo Eli sie vor zwei Tagen besucht hatte, um ihr persönlich die Beweismittel im Mordfall Pike zu bringen. Sein Chef hätte niemals zugelassen, dass das Geld der Steuerzahler für DNA-Tests verschleudert wurde, die doch nichts bringen würden, und Frankie hatte ihrem alten Freund den Gefallen nicht abschlagen können. »Ich bin noch im Labor, weil ich Überstunden für alte Freunde machen muss«, sagte sie. Eli setzte sich. »Hast du was rausgefunden?« »Kommt drauf an. Jedenfalls hab ich von den Speichelresten auf der Pfeife DNA nehmen können. Und von den Hautzellen an dem Seil. Offenbar eine Mischung aus zwei eindeutigen Profilen. Die erste Probe, die von der Schlinge, stammt von einer Frau – ich vermute, deinem Opfer. Die zweite, die vom Ende des Stricks, stammt von einem Mann.« »Volltreffer.« »Nicht ganz, die DNA stammt von einem anderen Mann als dem, dessen Speichel an der Pfeife war.« Elis Gedanken überschlugen sich. Falls die Pfeife Gray Wolf gehört hatte und falls Gray Wolf Cissy Pike erhängt hatte, müsste dann nicht auch seine DNA auf dem Seil sein? Und wenn nicht, reichte das, um ihn zu entlasten? Und wenn das nicht seine DNA auf dem Strick war … von wem war sie dann? Von den Ermittlungsbeamten? Von Spencer Pike? »Hm«, sagte Eli, »und was ist mit dem Medizinbeutel? Mit diesem kleinen Lederding?« »Ach das«, sagte Frankie. »Da krieg ich irgendwie dauernd falsche Resultate. Ich glaube, da stimmt was nicht mit dem Testablauf. Die Ergebnisse sind einfach komisch, mehr nicht.« »Wann kannst du mir den Bericht liefern?«, wollte Eli wissen und runzelte die Stirn. »Je länger du mich am Telefon aufhältst, desto später.« »Danke, Frankie.« »Bedank dich nicht zu früh«, sagte sie. »Vielleicht ist dir nicht mehr danach, wenn ich fertig bin.« Ethan steckte schüchtern den Kopf ins Badezimmer, wo seine Mutter gerade ein Schaumbad nahm. »Komm rein, Eth«, sagte sie lachend. »Du kannst ruhig hingucken.« Er tat es. Tatsächlich. Nur ihr Kopf ragte aus dem Schaum. »Ich krieg das nicht auf«, sagte Ethan und hielt ihr das Glas Erdnussbutter hin. »Ich versuch’s mal.« Seine Mutter nahm das Glas, drehte den Deckel, reichte es ihm zurück. »Was machst du denn da unten?« »Ich mach uns Sandwiches. Für nachher, wenn wir den Film gucken.« Sie hatten irgendeinen Kinderkram à la Disney ausgeliehen. Ethan sah zum Fenster, an dem der Regen herablief. »Echt ätzend, dass wir nicht rausgehen können.« » »Trotzdem echt ätzend, auch wenn ich das nicht sagen soll.« Als es an der Tür klingelte, zuckten sie beide zusammen. Wer kam denn um halb zehn an einem Samstagabend zu Besuch? Ethan sah, wie das Gesicht seiner Mutter so weiß wurde wie der Schaum um sie herum. »Ross ist was passiert«, flüsterte sie und sprang auf. Ethan wandte sich verschämt ab. Sie zog ihren Bademantel über, wickelte sich ein blaues Handtuch um das nasse Haar und eilte die Treppe hinunter. Er hätte ihr folgen können. Doch stattdessen konnte er nur an das denken, was er von seiner Mutter gesehen hatte, bevor er wegsah – einen Fuß, der aus dem Schaum auftauchte. Er wusste nicht, wieso, aber dieses Bild erinnerte ihn an die Nacht, als er mit seinem Onkel auf Geisterjagd gewesen war. In seinen wildesten Phantasien hätte Eli sich nicht vorstellen können, dass er einmal mit jemandem zusammenarbeiten würde, der auf Geisterjagd ging. Aber Frankies abendlicher Anruf hatte alles verändert. Die DNA des angeblichen Mörders hatte sich nicht auf dem Strick gefunden – dafür aber die DNA von jemand anderem. Eli brauchte mehr Hintergrundinformationen. Deshalb wollte er mit jemandem sprechen, der seine historischen Lücken füllen konnte. Und das war Ross Wakeman. Eli stand auf der Veranda, auf deren Metalldach der Regen trommelte, und klingelte ein zweites Mal. Wakeman hatte ihm seine Telefonnummer und Adresse dagelassen, »nur für den Fall«, so hatte er zu Eli gesagt, »dass Sie es sich anders überlegen und die alte Akte doch noch wieder öffnen wollen.« Elis wachsamer Blick hatte bereits das Skateboard registriert, das an der Wand lehnte, und das Paar gelbe Gartenschuhe gleich daneben. Er war überrascht. Ross Wakeman hatte auf ihn nicht den Eindruck eines Familienmenschen gemacht. Schließlich wurde die Tür entriegelt, und eine ängstliche Stimme fragte: »Ist was passiert?« Doch Eli war nicht in der Lage zu antworten. Er starrte sprachlos die Frau an, die er in seinen Träumen gesehen hatte. Ethan tauchte die Hand in den Schaum und pustete ihn behutsam weg. Als das Licht in dem Spukhaus ausgegangen war, hatte er so etwas Ähnliches gerochen. Er stand auf und schaltete das Licht aus, tauchte das Badezimmer in Dunkelheit. Mit dem Blumenduft in der Luft und der drückenden Feuchtigkeit war es jetzt genau wie in jener Nacht. Sein Onkel hatte ihn gefragt, ob er irgendwas gesehen hatte, und Ethan hatte Nein gesagt, er habe sich nur versteckt. Doch einmal hatte er aus einem Versteck hervorgelugt, und da war etwas gewesen. Eine Bewegung im Dunkeln. Zuerst hatte er gedacht, es wäre sein Onkel, der zurückkam, aber er war es nicht. Ethan hatte angestrengt auf die Kontur dort vor ihm geblickt, dünn wie eine Angelschnur. Ein Gesicht oder vielleicht doch kein Gesicht, er konnte es nicht genau sagen, damals genauso wenig wie jetzt. Nur einer Sache war Ethan sich absolut sicher: Dieser Blumenduft war da gewesen und dann verschwunden. Was immer in dem Zimmer gewesen war, es war Onkel Ross nach draußen gefolgt und nicht umgekehrt. Ein Blitzstrahl durchbrach den Bann. »Du bist zurückgekommen«, sagte Ross. Er bemerkte gar nicht, dass Lias Augen rot und entzündet waren und dass sie den Kopf schüttelte. Sie war zu ihm zurückgekehrt, und allein deshalb würde er alles tun, um sie bei sich zu behalten. In diesem Moment war er sicher, dass er es mit ihrem Mann würde aufnehmen können. Dass er sogar dem Donner Einhalt gebieten könnte, wenn nötig. »Ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen«, entgegnete Lia. Ross wehrte den Satz ab wie einen Schlag. »Nein.« Sein Haar war tropfnass, und der Regen rann ihm übers Gesicht. Er wusste nicht, wie er Lia begreiflich machen sollte, dass eine Trennung eine gemeinsame Entscheidung war, dass ein Mensch einen anderen nicht verlassen konnte, wenn der ihn nicht gehen lassen wollte. Und weil ihm die Worte fehlten, streckte er die Arme nach ihr aus. Ross nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Er glaubte, ihre Unsicherheit und ihren Schmerz zu schmecken. Sie musste doch die Leere in seinem Inneren spüren – und dass nur sie diese Leere auszufüllen vermochte. Das Gewitter wurde stärker, Blitze zuckten, und der Donner ließ den Boden vibrieren. Lia riss sich von ihm los, sah ihn mit großen Augen an. »Warte«, sagte Ross, doch sie wandte sich ab und lief durch den Wald davon. Er folgte ihr wie ein Jäger, die Augen auf das Weiß ihres Kragens gerichtet. Sie rannte über die nasse, schneebedeckte Lichtung, zwischen den Erdhügeln hindurch, die aus dem Nichts wieder aufgetaucht waren, und verschwand zwischen den Bäumen. Auf diesem Teil des Grundstücks war Ross noch nicht gewesen, zumindest konnte er sich nicht erinnern. Seine Lunge schmerzte bei jedem keuchenden Atemzug, aber er lief weiter. Lia war in einen schmalen Pfad eingebogen. Dornen verfingen sich in Ross’ Schnürsenkeln, zerkratzten ihm die Knöchel und gaben dann wundersamerweise nach. Die Erde unter seinen Füßen war getaut, ein kleines Fleckchen, bedeckt mit Dutzenden zertrampelter weißer Rosen. Auch Lia blickte nach unten auf die Blüten, aber sie blieb nicht stehen. Und Ross, der sie nicht aus den Augen ließ, sah ihre Beine direkt durch zwei Grabsteine gleiten, gegen die er einen Moment später mit dem Fuß prallte, sodass er mit dem Kopf voran in den Schlamm stürzte. Atemlos und benommen kam er auf die Knie. Beim nächsten Blitz konnte er die Namen auf den Grabsteinen entziffern. LILY PIKE, 19. SEPTEMBER 1932. Und in größeren Buchstaben: CECELIA BEAUMONT PIKE, 9. November 1913 – 19. SEPTEMBER 1932. Cissy Pike. Cecelia. Lia. Ross hatte von Geistern gehört, die nicht wussten, dass sie Geister waren. Er hatte Erforscher von paranormalen Phänomenen kennengelernt, die von Geistern gebissen, geschlagen, geboxt und gestoßen worden waren. Er war immer davon ausgegangen, dass der erste Geist, den er sehen würde, durchsichtig wäre, aber wenn genug Energie zur Verfügung stand, konnten Geister auch in körperlicher Form erscheinen. Ross, der immer unter Schlaflosigkeit litt, hatte nach seiner Begegnung mit Lia geschlummert wie ein Baby. Er hatte in ihrer Gegenwart gefröstelt. Das war körperliche Anziehungskraft im elementarsten Sinne gewesen: Ein Geist hatte ihm seine Wärme entzogen. »Ross«, sagte Lia, und er hörte das Wort im Geist, unausgesprochen. »Ross?« Über den Grabstein, ihren Grabstein, hinweg streckte sie ihm die Hand entgegen. Noch während er nach ihr griff, wusste er, dass ihm das nur Schmerz bringen würde. Von Lias Fingern stieg Kälte seinen Arm hinauf. Ihre Gesichtszüge wurden durchsichtig. Ross wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zwang sich hinzusehen, damit er diesmal genau den Augenblick mitbekam, in dem er zurückgelassen wurde. |
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